begrenzt utopisch Denken

Diesen Blog habe ich Utopolitan genannt, weil er (wenn auch ironisch verfremdet) eine Art Online-Magazin für utopisches Denken und Handeln werden sollte. Das ist er, vielleicht zum Glück, nicht ganz geworden.

Gerade habe ich für meinen Unterricht Teile von Hans Jonas „Das Prinzip Verantwortung“ gelesen. Besonders interessant ist nicht nur, dass er schon 1979 auf anderthalb Seiten alle wichtigen Analysen und Prognosen der Klimakrise knapp zusammenfasst, inklusive Kipppunkten, sondern auch eine Ethik aus der Verletzlichkeit lebendiger Wesen ableitet, wie es Judith Butler in „Die Macht der Gewaltlosigkeit“ tut.

Für mich und diesen Blog sind darüber hinaus seine Überlegungen zu Utopien besonders bedenkenswert. Er schreibt nämlich, dass er Utopien ablehnt und sie für schädlich hält. Er schaut sich die philosophischen Utopien der Marxisten, vor allem von Ernst Bloch und Marx selbst an, und weist überzeugend nach, dass wir sie nicht wirklich wollen können.

Besonders überzeugend ist sein Argument, dass utopisches Denken gegenwärtig lebende Menschen immer zu Mitteln degradiere, die den Zielen zukünftiger Menschen dienten. Er plädiert stattdessen dafür, sich der Arbeit und den Aufgaben zu stellen, die unser Leben von uns fordert, sobald wir wahrnehmen und akzeptieren, dass wir Menschen und unsere Gesellschaften immer unvollkommen, fehlerhaft und fehlbar sein werden.

Soweit ich ihn bisher verstehe, ist sein Argument gegen Utopien vor allem dieses: Ignorieren wir die prinzipielle und nie überwindbare Unvollkommenheit von Menschen und Gesellschaften und lassen Utopien unser Handeln bestimmen, dann tendieren wir dazu, ideologisch und totalitär zu handeln, weil wir andere Menschen und uns selbst in den Dienst einer perfekten Gesellschaft der Zukunft stellen, die wir auch gegen Widerstand von anderen schaffen müssen, koste es in der Gegenwart, was es wolle. Und zwar selbst dann, wenn wir nicht bestimmen können oder wollen, wie diese perfekte Gesellschaft beschaffen sein sollte, sondern das späteren Menschen überlassen wollen. Die Menschheit sei nämlich in solchem utopischen Denken noch nicht voll verwirklicht, nicht vollkommen sie selbst, sondern werde erst in der Zukunft verwirklicht, weshalb wir heute lebenden Menschen in diesem Denken sozusagen nur ein Zwischenstadium auf dem Weg dorthin sind, der Sinn und Zweck unserer Existenz liege im utopischen Denken deshalb darin, die volle Entfaltung der Menschheit in der Zukunft zu ermöglichen, nicht in unserer eigenen Existenz hier und heute.

Zuerst dachte ich, ich schließe diesen Blog oder benenne ihn um, denn das ist so überzeugend und unbestreitbar vernünftig, dass mir erstmal kein Gegenargument eingefallen ist.

Dann habe ich etwas darüber nachgedacht und mir ist aufgefallen, dass Jonas Ethik der Verantwortung eigentlich eine Struktur hat, die eine ähnliche Folge wie das utopische Denken hat. „Handle stets so, dass die Folgen Deines Handelns vereinbar sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ ist sein verantwortungsethischer Imperativ. Das bedeutet aber auch, dass meine Existenz heute immer auch dem Sinn und Ziel dient, menschliches Leben auf Dauer zu sichern. Er beschäftigt sich zwar mit dem Argument, dass es nicht wirklich eine zwingende moralische Argumentation gibt, die von uns heutigen Menschen abverlangen kann, dass wir auch neue Menschen auf die Welt bringen – vertraut aber einfach darauf, dass der Fortpflanzunsgtrieb sowieso dafür sorgen wird, dass es immer eine nächste Generation geben wird, um deren Existenz und menschenwürdiges Leben wir uns sorgen müssen, für die wir also Verantwortung übernehmen müssen.

Nehmen wir aber einmal an, Posthumanist*innen hätten die gesamte Weltbevölkerung der Zukunft mithilfe wissenschaftlicher Erkenntnisse davon überzeugt, dass das Leben auf der Erde unter der Menschheit mehr leidet, als dass die Menschheit dem Leben nützt, und alle Menschen hätten deshalb aus Achtung und Sorge um das Leben aller anderen Lebewesen beschlossen, so konsequent zu verhüten, dass keine neue Generation von Menschen mehr entsteht. Das wäre nach allen moralischen Maßstäben, die ich kenne, keine unmoralische Entscheidung, weil es in der Autonomie der Menschen liegt, diese Entscheidung treffen zu dürfen. Es kann für Menschen keine Pflicht geben, sich fortzupflanzen, sobald bewiesen ist, dass die Menschen allen anderen Lebwesen mehr schaden als nützen, wofür aktuell einiges spricht, ohne der Forschung da vorgreifen zu wollen. Robin Wall Kimmerer möge mir die Konstruktion dieses Gedankenexperiments verzeihen. (Sie glaubt, dass wir menschliche Kulturen erhalten und neu schaffen können, die uns Menschen zu einem heilenden Element der Biosphäre machen).

Das einzige moralische Argument, das ich sehe, warum die Menschheit unbedingt weiterleben muss, selbst wenn sie den anderen Lebewesen mehr schadet als nützt, ist, dass wir uns durch Kultur, Sprache und Technik von Naturzwängen freier gemacht haben, als alle anderen uns bekannten Lebewesen das können, und Freiheit ist ein so zentraler Wert, dass wir die Pflicht haben, ihn zu schützen, selbst wenn die Biosphäre darunter leidet.

Nun ist es so, dass wir nicht widerspruchsfrei argumentieren können, um der Freiheit willen hätten wir uns der Pflicht unterzuordnen, uns fortzupflanzen, weil das ja unsere Freiheit empfindlich einschränken und so zu einem Selbstwiderspruch führen würde.

In der fiktiven Situation des Gedankenexperiments wäre der verantwortungsethische Imperativ von Hans Jonas nicht mehr zwingend, weil die freiwillige und allgemeine Verhütung zwar die Permanenz menschlichen Lebens auf Erden unmöglich machen würde, trotzdem aber verantwortungsethisch gedacht nicht unmoralisch ist, sondern genau das Gegenteil: Eine verantwortliche gemeinsame Entscheidung.

Es wäre allerdings eine Reihe Folgeprobleme zu bewältigen, unter anderem, wie ein würdiges Altern und Sterben der Menschheit unter diesen Bedingungen möglich wäre, wenn wir das nicht durch Pflegeroboter mit eingebauter Halbwertszeit garantieren wollen. Außerdem müssen wir natürlich mit der Fallibilität unserer wissenschaftliche Erkenntnisse rechnen, wir können uns eben auch dann, wenn wir sehr kluge und informierte Posthumanist*innen sind, in so fundamentalen Fragen wie dem Effekt der Existenz der Menschheit auf die Biosphäre und das Leben allgemein gründlich täuschen.

Ein Schüler von mir aus der 10ten Klasse hat mir zum Beispiel ein ziemlich gewichtiges Argument mitgegeben, warum es evolutionär trotz aller Schäden für das Leben Sinn macht, dass die Biosphäre die Menschen hervorgebracht und sich so hat entwickeln lassen: Die Menschheit scheint eine ziemlich erfolgversprechende Methode zu sein, dafür zu sorgen, dass das Leben auch eine verheerende Katastrophe, etwa den Einschlag eines Kometen auf der Erde, überleben kann, indem es sich durch Raumfahrt auf andere Himmelskörper ausbreitet und so die Wahrscheinlichkeit erhöht, selbst nach einer Katastrophe, die den Planeten unbewohnbar macht, weiterzuexistieren.

Ich würde aus meinem Gedankenexperiment diesen Schluss ziehen: Wenn wir überhaupt verantwortungsethisch denken wollen, dann brauchen wir begrenzt utopisches Denken. Das kann zum Beispiel daraus entwickelt werden, was Robin Wall Kimmerer entwirft: Menschliche Kulturen der Zukunft, die sich auf indigene Traditionen stützen und das Leben schützen und fördern, und zugleich eine Zivilisation bilden, die den schädlichen Impact von Raumfahrt auf die Biosphäre verantworten kann, ohne mehr Schaden als Nutzen anzurichten oder das Leben auf dem Planeten gar unmöglich zu machen.

Tatsächlich ist das natürlich nur eine Variante utopischen Denkens angesichts der ökologischen Krise der Gegenwart, eine andere wäre zum Beispiel, zu akzeptieren, dass nach allem, was wir wissen, das Leben auch als Ganzes Grenzen in der Zeit hat und das vielleicht auch in Ordnung ist, wenn wir nicht mutwillig und spezies-egoistisch daraus ableiten zu können glauben, dass wir der Biosphäre alles antun dürfen, was wir können, sondern es im Gegenteil als unsere Aufgabe ansehen, das Leben, so lange es uns möglich ist, hier auf der Erde zu pflegen und zu schützen, bis wir mit ihm zusammen durch natürliche Ursachen enden.

Mein Plädoyer für begrenztes utopisches Denken ist inmitten einer ziemlich ausufernden utopischen Spekulation zum Stehen gekommen – weshalb ich es an dieser Stelle wiederholen und ihm Folge leisten möchte. Ich denke, Grenzen in der Zeit sind eine Variante begrenzten utopischen Denkens, begrenzt wäre also die letzte Utopievariante, nicht die Version mit der Raumfahrt und der Auswanderung des Lebens ins All. Hier schließe ich mich Hans Jonas an in der Haltung, die Akzeptanz von Endlichkeit, Begrenztheit und Unvollkommenheit dem Streben nach Unendlichkeit, Ewigkeit und Perfektion vorzuziehen. Denn auch die Unterordnung unter das Ziel, das Leben um jeden Preis zu erhalten, auch gegen Kometen, macht uns und auch alle anderen Lebewesen der Gegenwart zu bloßen Mitteln für die zukünftige Existenz von anderen Lebewesen – ethisch keine gut begründbare Position, weil sie sich bis ins Unendliche fortsetzen ließe, so dass es nie eine Gemeinschaft von Lebewesen gäbe, die zuerst (und vielleicht sogar nur) ihrer gemeinsamen gegenwärtigen Existenz zuliebe da wäre. Was wäre dann das Leben, sollte es irgendwann enden, was wahrscheinlicher ist als das Gegenteil, gewesen?

Die Klimakrise und das Ende des Kapitalismus: Eine Alternative zu Ulrike Herrmanns Vorschlag

Am Donnerstag war ich in Marburg beim Vortrag von Ulrike Herrmann über ihr Buch „Das Ende des Kapitalismus“. Ganz grob zusammengefasst hat sie da mit Witz und Verve die These vorgetragen und verteidigt, dass der Kapitalismus eigentlich ein besseres Leben für alle bringt, aber zum Funktionieren ständiges Wirtschaftswachstum braucht, was nicht unendlich weitergeht auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen. Deshalb sei es eine Illusion, zu glauben, es könne grünes Wirtschaftswachstum geben. Also käme der Kapitalismus bald an sein Ende. Wir hätten nur die Wahl, ob dieses Ende chaotisch oder geordnet ablaufe. Sie ist für ein geordnetes Ende und schlägt dazu vor, grünes Schrumpfen zu organisieren, indem wir als Gesellschaft planen und bestimmen, was und wieviel produziert und konsumiert werden darf. Es dürfe zum Beispiel pro Person nur 50 qm Wohnfläche in Deutschland zugeteilt werden. Wenn Frau Quandt, der ein großer Anteil von BMW gehört, eine zu große Villa habe, müsse sie dann eine WG gründen.

In der Diskussion gab es auch Kritik aus dem Publikum, eine junge Frau in der Reihe vor mir sagte, dass das Problem am Kapitalismus ja nicht nur sei, dass die Natur zerstört werde, sondern auch, dass er Ausbeutung erzeuge. Darauf antwortete die Autorin, dass Ausbeutung wie zum Beispiel Sklavenarbeit den Kapitalismus hemme, weil dieser nur zur vollen Dynamik käme, wenn die Arbeiter*innen genug verdienten, um Massenkonsum möglich zu machen. Nur durch hohe Löhne könnten nämlich viele Menschen große Massen von Produkten kaufen.

Mir ist wie so oft ein guter Beitrag zur Diskussion erst Tage später eingefallen. Hier ist er nun: Mein Einwand gegen ihre These über den Kapitalismus ist folgender: Der französische Sozialhistoriker Fernand Braudel hat in seinem Buch „Die Dynamik des Kapitalismus“ 1985 die These aufgestellt, das Marktwirtschaft und Kapitalismus nicht dasselbe sind, sondern Gegensätze. Er meint nämlich, dass der Kapitalismus eine Struktur ist, die den Markt außer Kraft setzt. Für Braudel ist der Kapitalismus ein System, in dem Macht- und Wissensvorsprünge zum Beispiel von großen Konzernen genutzt werden, um eigentlich gute Marktmechanismen wie die freie Preisbildung außer Kraft zu setzen. Ein Beispiel ist dieses: Wenn Textilkonzerne über die Preise von Rohstoffen (wie Baumwolle), Lohnkosten (wie den Löhnen von Näher*innen in Bangladesh) und von Vorprodukten (wie Baumwollstoffen) in den globalen Lieferketten gut informiert ist, diese Information aber ihren Zulieferbetrieben und Partnerunternehmen, ihren Konkurrenzunternehmen und den Konsument*innen vorenthalten können, können sie viel bessere Preise für sich durchsetzen, als wenn alle über die realen Preise und Kosten des Konzerns Bescheid wüssten. Deshalb nutzen nach Braudel große Konzerne systematisch das Informationsdefizit aller anderen, um sich zu bereichern. Durch das daraus gewonnene Kapital bekommen sie noch mehr Macht über den Markt und zerstören die Marktmechanismen oder setzen sie ganz oder teilweise außer Kraft, indem sie zum Beispiel berechnen, wie lange sie Dumpingpreise für ihre Produkte durchhalten können, bis sie Konkurrenzunternehmen aus dem Markt gedrängt haben.

Ulrike Herrmanns Vorschlag, durch Rationieren die Wirtschaft grün zu schrumpfen, löst dieses Problem glaube ich nicht. Zwar wäre dann die Preisbildung kontrolliert, weil die Gesellschaft die Preise vorgeben würde und die Konzern-Machtpolitik durch Informationskontrolle nicht mehr funktionieren würde. Aber das Problem würde dann vermutlich bloß verwandelt wieder auftreten, weil es Institutionen geben müsste, die die Preise und die Zuteilungen festlegen. Institutionen sind aber immer beeinflusst durch soziale Kräfteverhältnisse. Ganz nüchtern prognostiziert würden dann wieder große Gruppen und Organisationen Macht- und Wissensvorsprünge nutzen, um für sich die profitabelsten Preise und Rationierungen durchzusetzen, bloß nicht auf dem Markt, sondern in einer anderen Institution wie dem Staat oder in zivilgesellschaftlichen Steuerungsstrukturen. In einer Gemeinwohlökonomie wären solche Strukturen zum Beispiel Bürger*innenräte, die Firmen nach Gemeinwohlkriterien bepunkten.

Mein Lösungsvorschlag wäre, diese 3 Institutionen, Markt, Staat und Gemeinwohlräte sich gegenseitig kontrollieren zu lassen, um für Transparenz für alle zu sorgen. Das sollte nicht nur national, sondern auch auf internationaler Ebene geschehen. Das Lieferkettengesetz enthält zum Beispiel einen Versuch des deutschen Staates, die Konzerne zu Transparenz zu zwingen, um idealere Märkte entstehen zu lassen. Das wird aber ohne internationale Regeln für Lieferketten nicht gut funktionieren, weil deutsche Konzerne in globaler Konkurrenz stehen. Wir brauchen eine ähnliche Regel also auch auf EU- und internationaler Ebene.

Außerdem sollte meiner Meinung nach das Kartell- und Steuerrecht international so umgestaltet werden, dass Macht mit der Zeit immer mehr dezentriert wird, indem das Kapital in der globalen Gesellschaft gerechter verteilt wird. Die internationale Mindeststeuer für global agierende Konzerne geht da in die richtige Richtung.

Zugleich müssen wir Bürger*innen, Lohnabhängige und Konsument*innen statt auf den Staat zu hoffen unsere ökonomischen Verhältnisse selber ändern, soweit das in dem bestehenden System geht, und mit einer Graswurzelökonomie den Staat, den Markt und die Gemeinwohlräte in der Transformation flankieren.

Mit diesem Programm könnten wir eventuell geordnet in die von Herrmann anvisierte Kreislaufwirtschaft übergehen. So könnten wir gleichzeitig das politische Problem von Herrmanns Rationierungs-Vorschlag lösen: Jeder Versuch einer starken staatlichen Lenkung der Wirtschaft, der mit bestehenden Privilegien bricht, wird nämlich zu einem politischen Rebound-Effekt führen. An den Bauern-Protesten sehen wir jetzt schon, was passiert, wenn die Bundesregierung bloß versucht, bereits bestehende staatliche Lenkung und Steuerung der Wirtschaft (zum Beispiel die staatliche Bezuschussung von Diesel durch Subventionen an die Agrarwirtschaft) milde klimaschonend zu reformieren. Wenn der Staat gemäß Herrmanns Vorschlag zukünftig sogar versuchen sollte, Rationierungen durchzusetzen, wird das entweder erst funktionieren, wenn die Notsituation nicht mehr zu ignorieren ist, also in einem Kollaps der natürlichen Systeme, der überall für alle spürbar ist, was wir ja gerade vermeiden wollen, oder es wird zu massiven sozialen Widerständen und Kämpfen und in deren Folge zu politischen Krisen kommen, die einen Rückschlag in klimafeindliche Politik bei den nächsten Wahlen erzeugen. Wir verlieren so im demokratischen Prozess wertvolle Zeit, die wir nicht mehr haben, weil die Klimakrise so schnell abläuft.

Gemeinwohlräte, funktionierende transparente Märkte und Graswurzelökonomie können im Konzert mit dem Staat vielleicht diese Klippen umschiffen. Idealere Märkte würden den meisten Menschen wirtschaftliche Vorteile bringen und zugleich die für die Wirtschaftsaktivitäten nötigen Informations- und Wissensflüsse ermöglichen. Diese können Staaten meiner Ansicht nach mangels Kompetenz und Mitteln gar nicht gewährleisten. Gemeinwohlräte könnten den Informationsfluss zwischen Staat und Bürger*innen verbessern, und zwar in beide Richtungen, so dass politische Krisen vermieden werden könnten. Und Graswurzelökonomie kann vielleicht das, was Ulrike Herrmann so kategorisch in Frage stellt: Grünes Wirtschaftswachstum erzeugen.

Gleich gehe ich zur Bieterunde meiner Solidarischen Landwirtschaft (SoLaWi). Bevor das zum Nischenphänomen vorkapitalistischer Sozialromantik erklärt wird: Pflanzen setzen Sonnenenergie zwar nur mit einem maximalen Wirkungsgrad von 20% um und sind damit scheinbar ineffizienter als die neuesten Photovoltaik-Module. Aber ein Baum braucht neben den Nährstoffen in seinem Samen nur die von ihm selbst erzeugte Sonnenenergie, um zu wachsen, während ein Solarmodul erstmal etwa 10 Jahre laufen muss, um die Energie wieder zu erzeugen, die bei seiner Herstellung verbraucht wurde, und da reden wir noch nicht über den Schwerölmotor des Containerschiffs, das das Modul von China nach Deutschland schippert. Holz kann dagegen wunderbar mehrmals recycelt werden, am Ende eines langen Nutzungszyklus dann als Energiequelle dienen oder je nach Bedarf in Form von Bauholz als CO2-Speicher verwendet werden, oder – ganz verrückte Idee – wir lassen den Baum einfach leben, wodurch er ganz von selbst und ohne jede menschliche Arbeit CO2 aus der Athmosphäre zieht, im Holz speichert und noch dazu zum Nulltarif Sauerstoff für Tiere herstellt und die lokalen Wasserkreisläufe reguliert. Grünes Wirtschaftswachstum ist glaube ich machbar, wenn wir den Blick von der Fixierung auf das E-Auto mal abwenden, und ein breiteres Bild gewinnen, das zum Beispiel auch Digitaltechnologie zur Kommunikation und Wissensgenerierung, in der Regionalwirtschaft traditionell erprobte Stoffkreisläufe, innovative sozioökonomische Experimentierpraxis und auch Schnittmengen der Sozialromantiken vieler Kulturen enthält, denn die sind für die Genese eines neuen gesellschaftlichen Konsenses nicht zu unterschätzen. Wir könnten dazu zum Beispiel die Prinzipien der ehrenwerten Ernte, wie sie Robin Wall Kimmerer aus Nordamerika überliefert, mit der europäischen Tradition der Allmende und anderen Sozialromantiken kombinieren. Das ist glaube ich nötig, weil die Sozialaufklärung, hier verkörpert in der ökonomischen Ideologiekritik, die Herrmann an Adam Smith, Karl Marx und ihren Nachfolgern mit deren eigenen methodischen Mitteln der ökonomischen und wissenschaftlichen Analyse übt, an ihre historischen Grenzen gestoßen ist. Aufklärung hat uns das Wissen gebracht, die Klimakrise und ihre Ursachen zu erkennen, aber nicht die Motivation, sie zu überwinden. Motivation braucht neue Narrative. Ich habe deshalb hier mal versucht, die Wirtschaftsgeschichte als Resonanzverhältnis statt als Kontrollverhältnis weiterzuschreiben.

Postpatriarchale Trickkiste; Trick Nr. 1: Erkenne und eliminiere den patriarchalen Anteil

Mein Freund Reinhard hat mir den Begriff „projektiver Anteil“ beigebracht. Das ist der Anteil von meinen auf eine Person bezogenen Gedanken, Gefühlen und Handlungen, der aus Projektionen besteht, also zum Beispiel aus Erfahrungen, die ich mit ganz anderen Personen gemacht habe und die ich jetzt auf die Person in meiner Gegenwart übertrage.

Ich habe bemerkt, dass ich oft wütend auch auf nahe Menschen bin, und innerlich richtige Wuttiraden ausdenke, die ich den Personen sagen könnte. Aber ich habe Bell Hooks Buch über Männer, Männlichkeit und Liebe gelesen, und da schreibt sie darüber, was das Patriarchat mit Jungen macht, sie zum Beispiel dazu zu erziehen, dass Wut die einzige Emotion ist, die ein Mann zeigen darf, ja sogar soll, weil er dann als besonders männlich gilt.

Mein Trick besteht jetzt darin, mich zu fragen, was von meiner Wut auf nahe Personen eigentlich wirklich mit diesen Personen selbst zu tun hat und mit ihrem Verhalten mir gegenüber in der Gegenwart, und wieviel meiner Wut eigentlich aus im Patriarchat anerzogenen „männlichen“ Emotionsmustern besteht.

Es ist erstaunlich viel, und darunter ist oft eine ganz andere Emotion, zum Beispiel Traurigkeit, weil ich nicht geliebt werde oder wiel ich missachtet werde. Oft ist auch Schmerz darunter, weil mir jemand wehgetan hat. Ich versuche dann, in meinem Handeln nicht wütend, sondern gemäß meiner eigentlichen Emotionen wie Traurigkeit und Schmerz zu handeln, oft ist auch etwas Wut dabei, aber die ist viel gemäßgter, als ich zuerst dachte und spürte.

Das schöne an dem Trick ist, dass ich dann der Person gerecht werden kann. So kann ich adäquater auf sie reagieren. Und sehr erleichternd ist: Es ist für mich sogar schon innerlich viel weniger anstrengend, meinen Schmerz und meine Traurigkeit zu spüren, weil innere Wut total anstrengend ist, wenn sie eigentlich von irgendetwas patriarchalem in mir erzwungen werden muss, statt dass ich die Gefühle spüre, die wirklich meine sind.

Probiers mal aus.

Mein Streik gegen die Revolution

Warum exportiert die spanische Wirtschaft Wasser in Form von Obst und Gemüse, wenn Wasser dort immer knapper wird? Nach der klassischen ökonomischen Theorie der komparativen Kostenvorteile von David Ricardo dürfte das unter Freihandelsbedingungen gar nicht passieren. Produziert werden müsste in Spanien nach dieser Theorie das, was dort am kostengünstigsten herstellbar ist – und Knappheit bedeutet normalerweise Kostensteigerungen.

Gleichzeitig fallen in Deutschland überall Massen von Äpfeln und Birnen von Obstbäumen und verfaulen auf dem Boden – während in deutschen Supermärkten ebenso massenweise Äpfel und Birnen gekauft werden, die aus Neuseeland quer über den Globus transportiert wurden. Was läuft falsch in den ökonomischen Systemen, so dass sie sich solche Ressourcenverschwendung leisten?

Ich könnte jetzt sehr leicht auf den Kapitalismus und seinen Wahnsinn schimpfen, aber ich bin dessen müde, weil eh die meisten Menschen nicht mehr zuhören, wenn wir Linken das tun. Deshalb versuche ich eine andere Erklärung des Problems.

Ich verwende dafür eine Kernidee der Systemtheorie des konservativen Soziologen Niklas Luhmanns. Danach ist das Wirtschaftssystem ein Funktionssystem der Gesellschaft, das autopoeitisch und selbstreferentiell ist. Das bedeutet, dass es sich von seiner Umwelt abgrenzt und sich nach außen schließt, indem es zur Kommunikation einen Code verwendet, der allen Informationsfluss von außen unterbricht, der für die Funktionsweise des Systems egal ist. Dieser Code unterscheidet nur Zahlung und Nichtzahlung. Alles, was nicht in diesem Code im Medium Geld kommuniziert werden kann, ist für das Wirtschaftssystem irrelevant und hat erstmal keine Effekte auf seine Prozesse.

Im konkreten Beispiel bedeutet das, dass es für die Firmen in Spanien nicht beobachtbar ist, ob die Wasserressourcen übernutzt werden, solange Wasser nicht wesentlich teurer wird. In Deutschland passiert dasselbe: Die Verbraucher*innen in der deutschen Ökonomie können in ihrer Rolle als Konsument*innen die Sinnlosigkeit davon nicht wahrnehmen, dass die Äpfel von den deutschen Bäumen vergammeln, solange es teurer ist, Arbeitszeit zum Äpfelsammeln zu verwenden, als aus Neuseeland herangeschiffte Äpfel im Supermarkt zu kaufen.

Das Wirtschaftssystem ist also so selbstbezogen und nach außen geschlossen, dass es zu seiner Umwelt, den Ökosystemen der Welt, keine direkten Kommunikationsbeziehungen mehr haben kann. Nach Luhmann muss es sich aber an die Umwelt anpassen, um sich zu erhalten. Dazu verwendet es strukturelle Kopplungen. Das bedeutet, irgendwie muss es, wenn die Informationen über Wasserknappheit schon nicht in den Preisen rechtzeitig und deutlich genug ausgedrückt werden, so dass es seine Strukturen dementsprechend verändern kann, trotzdem die Umweltinformationen verarbeiten.

Ich glaube, dass wissenschaftliche Organisationen wie der IPCC gerade genau das versuchen: Sie versuchen, das Wirtschaftssystem strukturell mit den Ökosystemen zu koppeln, indem sie die Ökonomie sensibel für die Knappheiten macht, die gerade entstehen, ohne dass sich das schnell genug in Kostensteigerungen und Preisen zum Beispiel für Wasser bemerkbar macht. Zu langsam ist dies, weil die globale Ökonomie der Menschen einen historisch einmaligen Grad an Macht über die Ökosysteme aufgebaut hat, gleichzeitig aber eine solche Trägheit in ihren Grundstrukturen, zum Beispiel der fossilen Energieinfrastruktur, dass sie Zerstörungen der Ökosysteme nicht rechtzeitig aufhält, bevor sie zu irreversiblen Knappheiten von Wasser und anderen Gütern führen.

Wenn die Wissenschaft planetare Belastungsgrenzen berechnet (die zum Beispiel bei der Umnutzung von Land und der Biodiversität schon weit überschritten sind), dann versucht es, Informationen in das geschlossene Wirtschaftssystem einzuschleusen, damit es sich an die Umwelt anpassen kann, so dass Wasser als grundlegende Ressource auch weiter zur Verfügung steht und das System sich nicht selbst zerstört. Das nennt Luhmann dann strukturelle Kopplung.

Auch das politische System versucht, in das Wirtschaftssystem solche Kopplungen einzubauen, zum Beispiel durch den Handel mit Emissionszertifikaten. Der Ausstoß von CO2 ist nämlich erstmal für die Wirtschaft gar nicht beobachtbar gewesen, weil er nichts gekostet hat: Die Atomsphäre konnte jahrhundertelang als Senke für die Abgase der Wirtschaft fast kostenlos genutzt werden, sie war eine Allmende – ein Gemeingut. Jetzt versucht die Politik, die Wirtschaft ausreichend darüber zu informieren, dass diese Allmende schon lange übernutzt ist. Sie versucht durch die Zertifikate die Schäden, die die Übernutzung verursacht, in den Code Zahlung-Nichtzahlung zu übersetzen, so dass das Wirtschaftssystem sie auch beobachten und darauf reagieren kann.

Organisationen, die von innen aus dem ökonomischen System selbst heraus ähnliche Kopplungen aufbauen, sind die großen Rückversicherungskonzerne wie die Münchener Rück, die schon seit Jahren warnen, weil die mit der Klimakrise verbunden ökonomischen Risiken etwa durch Dürren, Überschwemmungen und Stürme zu unberechenbar werden, um sich dagegen noch solide und zu einem akzeptablen Preis versichern zu können.

Leider gibt es daneben andere strukturelle Kopplungen des Wirtschaftssystems, die diese Versuche der Krisenbewältigung torpedieren, indem sie in genau die entgegengesetzte Richtung zielen: Das Wirtschaftssystem ist nach Luhmanns Theorie nicht nur umgeben von der Umwelt der planetaren Ökosysteme, sondern wir Menschen sind für das ökonomische System auch Umwelt. Luhmann interpretiert uns Menschen als „psychische Systeme“, und als solche sind wir Umwelt für das Wirtschaftssystem.

Das Wirtschaftssystem arbeitet nun schon lange und sehr erfolgreich daran, uns als psychische Systeme strukturell mit ihm zu koppeln, zum Beispiel mithilfe von Werbung, Arbeit und Mythen. Ein aktueller Mythos ist der Mythos von der Elektromoblität. Der Mythos sagt: Wir können mit Hilfe von E-Autos weiter so unbegrenzt mobil sein wie bisher, ohne unsere Lebensgrundlagen zu zerstören. Wir können unsere Lebensgewohnheiten einfach beibehalten, ohne die Krise der Knappheit zu verschärfen. Ein Mythos ist das deshalb, weil diese Erzählung wichtige Aspekte der Wirklichkeit ausblendet: Klimaerhitzung durch Treibhausgase stößt nur an eine der vielen planetaren Belastungsgrenzen. Elektromoblität bedeutet weitere Umnutzung von Land durch Lithiumabbau, Energieverbrauch und Emissionen durch Produktion neuer Autos und E-Bikes und weitere Straßen und Versiegelung von Boden und Erzeugung von giftigem Müll. Das sind alles Gründe für das Artensterben, eine Krise, die genauso bedrohlich für unser Überleben als Zivilisation ist, wie die Erderhitzung.

Soviel zum Mythos der Elektromobilität, der auch Menschen frisch mit dem Wirtschaftssystem koppelt, die schon Zweifel bekommen hatten, ob das alles so gut läuft. Was aber ist gefährlich an der Art, wie wir Arbeit definieren, und wie koppelt sie uns mit dem ökonomischen System? In Deutschland ist Arbeit, eingeengt verstanden als Erwerbsarbeit, mit der im Gegensatz zur häuslichen Sorge-Arbeit Geld verdient wird, ein so integraler Bestandteil des Selbstbildes, der sozialen Wertschätzung und der Selbstdefinition von Personen, dass die meisten Menschen durch ihre Arbeit fest an das Wirtschaftssystem gekoppelt sind.

Als ich beim letzten Klimastreik auf der Raddemo über die Marburger Stadtautobahn fuhr, brüllte uns jemand aus einem vorbeirasenden Auto von der Gegenfahrbahn aus zu: „Geht arbeiten!“. Das war in meinem Fall einigermaßen absurd, weil ich an dem Freitag aus einer vollen Arbeitswoche kam und an meinem ersten freien Nachmittag versucht habe, das Wirtschaftssystem mit der natürlichen Umwelt strukturell zu koppeln. Vor mir fuhr ein weißhaariger Mann auf der Raddemo und sagte dazu: Ich habe Jahrzehnte gearbeitet, ich habe meinen Teil getan.

Die Szene ist leider ein guter Indikator dafür, dass bei dem brüllenden Autofahrer die Kopplung seines psychischen Systems mit dem Wirtschaftssystem so fest ist, dass er Forderungen nach Veränderungen des Wirtschaftssystems, in diesem Fall der Mobilität, als Forderungen nach Veränderung seiner eigenen Psyche erlebt: Eine Kritik an der Autoökonomie erscheint ihm deshalb als Angriff auf seine eigene Integrität als Person. Das Auto, das er fährt, ist so gesehen viel mehr als ein Gegenstand, den er als Instrument seiner Mobilität verwendet: Es ist eine weitere Kopplung (neben seiner Erwerbsarbeit), die sein Körper und seine Psyche mit dem Wirtschaftssystem eingegangen sind. Erwerbsarbeit und Autobesitz sind außerdem zwei Kopplungen, die ineinander verschränkt sind: Viele brauchen ihr Auto, um zur Arbeit zu kommen, und brauchen umgekehrt das Erwerbseinkommen, um sich ein Auto leisten zu können.

Wieso finde ich diese Struktur absurd? Das sind doch erstmal Notwendigkeiten der Lebensrealität. Ich finde sie absurd, weil wir Menschen alle auch Lebewesen und durch unsere Körper Teil der Ökosysteme dieser Welt sind. Wir sind zum Beispiel durch Atmung und Ernährung mit allen anderen Lebewesen auf dem Planeten strukturell gekoppelt. Die strukturellen Kopplungen mit dem Wirtschaftssystem, die sich durch Mythen, Erwerbsarbeit und Autobesitz bilden, scheinen bei vielen Menschen aber so stark zu sein, dass sie nicht mehr wahrnehmen, dass Atmen, Trinken und Essen für ihre psychische und körperliche Integrität und diejenige ihrer Kinder und Enkel wichtiger sind als ihr Auto und der Benzinpreis. Die CDU plakatiert hier in Marburg: „Autofahren verbieten verboten“ gegen die sehr gute rot-grün-grüne Verkehrsreform Move 35. Die Marburger CDU ist damit nicht mehr konservativ, sondern eine revolutionäre Partei, weil sie mit Macht daran arbeitet, die Verbindung der Menschen mit der Biosphäre, die uns hervorgebracht hat und am Leben erhält, durch Kopplungen der Menschen mit einem Wirtschaftssystem zu ersetzen, das alle planetaren Grenzen zu sprengen und alle Verhältnisse, in denen die Menschen noch atmende, fühlende und in ihre Welt eingebettete Wesen sind, umzustoßen droht.

Das bedeutet: Um die Dürre in Spanien und die Verschwendung von gutem Essen in Deutschland zu stoppen, müssen wir nicht nur das Wirtschaftssystem mit der natürlichen Umwelt durch Klimaberichte und Emissionszertifikate strukturell koppeln, sondern wir müssen auch unsere psychischen Systeme vom Wirtschaftssystem aktiv entkoppeln. Ich versuche das, indem ich in Teilzeit arbeite, so auf Einkommen verzichte und Zeit gewinne, um auf Raddemos für die Verkehrswende zu fahren und mit meinem M-Bike (ich fahre eines dieser altmodischen Räder ohne Elektromotor) in meinen Radtaschen Äpfel und Birnen hier im Marburger Umland zu sammeln und dann zu verschenken. Entkopplung ist machbar, Herr Nachbar!

Danke, Greta!

Dass Du Dich öffentlich gegen einen großen Teil der Ökologiebewegung dafür aussprichst, erstmal in Ruhe nachzudenken, bevor jetzt Atomkraftwerke abgeschaltet werden, das steigert meinen Respekt für Dich noch einmal.

Ich habe mit 16, 1993, bei den Jungen Grünen gegen Atomkraft protestiert, wir haben unter anderem an die Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl 1986 erinnert. Als ich 9 war, durften wir wegen der radioaktiven Wolke nicht mehr draußen auf dem Boden spielen. Ich bin gegen Atomkraft. Aber Prinzipien und Empörung allein bringen uns jetzt nicht weiter.

Wir stehen in politischen Kämpfen mit Rechtskonservativen und Rechtsextremen, für die ökologisch denkende Menschen der Feind sind, und sie bekommen, wie die AfD in Niedersachsen, immer mehr Stimmen. Mehr Menschen wählen die AfD, weil sie Angst haben, die Gas- und Stromrechnungen nicht mehr bezahlen zu können. Es ist nicht der Zeitpunkt, Symbolpolitik zu machen. Weil wir die Krise des Ukrainekrieges, der Klimakrise und der Pandemie alle gleichzeitig lösen müssen, müssen wir überlegen, was funktioniert, und nicht, wofür wir den meisten Applaus bekommen. Greta, Du bist meine Lehrerin.

Solidarität mit den russischen Anarchist*innen

Ein guter Freund und ich haben beide ein Problem: Es fällt uns schwer, als Linke angesichts des Ukrainekriegs eine klare Position zu den konkreten Maßnahmen gegen den Krieg zu finden.

Im Gespräch habe ich dann gesagt, dass es eigentlich nur eine Klarheit für mich gibt: Dass ich die Aktionen von russischen Anarchist*innen gegen die Kriegspolitik der russischen Regierung, von denen Bernhard Clasen in der Taz berichtet, gut und mutig finde.

https://taz.de/Sabotageakte-in-Russland/!5844653/

Deshalb bin ich solidarisch mit Aleksandra Skochilenko, die in einem Laden Preisschilder durch Informationen über den Angriffskrieg der russischen Regierung gegen die Ukraine ersetzt hat, und deshalb jetzt vor Gericht steht:

Quelle: Siehe den hier angegebenen Link, abgerufen am 29.7.2022:

https://avtonom.org/en/news/hearing-extension-pre-trial-detention-aleksandra-skochilenko

Die Aktivistin hat eine bipolare Störung und ist deshalb besonders verletzlich angesichts der Repression. Auf der Seite finden sich auch Spendenmöglichkeiten für die Aktivist*innen, die sich in Russland der Regierung widersetzen.

Mein Herz ist bei euch.

солидарность!

Sekundäre Heteronomie

Judith Butler schreibt in „Die Macht der Gewaltlosigkeit“, dass Menschen immer zuerst aufeinander angewiesen sind, bevor sie ein wenig Autonomie entwickeln können, die aber immer partiell und brüchig bleibt. Ich finde ihre Analyse des „Phantasmas“ des autonomen Subjekts, eines aus der Geschichte und den Beziehungen gefallenen Robinsons ohne Bindungen, sehr treffend. Allerdings bleibt für mich das Angewiesensein aufeinander ein Skandal: Wie ungerecht, als Säugling in eine Welt geworfen zu werden, in der ich ohne die Hilfe und Zuneigung anderer Menschen nicht überleben kann. Was kann unter diesen Umständen realistischerweise Freiheit heißen? Und wieso stanzt die Gesellschaft diese Freiheitsideale in mich ein, die Butler jetzt als Phantasmen enthüllt, wenn sie gar nicht wirklich erreichbar sind?

Heute beim Yoga, das ich jeden Morgen gegen meine Bandscheibenvorfälle mache, kam mir ein Gedanke, den Du vielleicht auch interessant findest: „Sekundäre Heteronomie“. Schon die primäre Heteronomie als Säugling ist ein Skandal, wie Butler ausführt: Sie ist der Grund, aus dem wir in Liebesbeziehungen immer auch Aggressionen auf die geliebte Person empfinden, weil wir, sobald wir einander nah kommen, durch diese Nähe und unsere Angewiesenheit auf die Liebe der anderen Person an unsere Verletzlichkeit als Säugling errinnert werden.

Viel mehr noch ist die sekundäre Heteronomie ein Skandal: Ich beobachte oft, dass Paare einander ergänzen, wofür es im Französischen das schöne Wort „Pendant“, Gegenstück, gibt. Wie ein Paar Schuhe, bei denen der linke ohne den rechten unbrauchbar ist und umgekehrt, funktionieren die Paare nur zusammen in dieser Gesellschaft gut, und sind einzeln hilflos. Das binäre System der Geschlechter ist fundamental auf diese Struktur aufgebaut, auch wenn ich vermute, dass die Pendant-Struktur andere Wege finden würde, sich durchzusetzen, selbst wenn das binäre System abgeschafft würde.

Die Pendant-Struktur ist eine Form von sekundärer Heteronomie: Sie greift, wo eigentlich Chancen auf Autonomie existieren, und unterläuft diese Chancen, indem sie Menschen dazu erzieht, einander auf eine bestimmte Weise zu brauchen. Ich habe mal bei einer Partner*innensuchplattform einen Persönlichkeitstest gemacht, mithilfe dessen der Algorhythmus mich dann matchen sollte. Ich sollte zum Beispiel geometrische Formen bewerten und eingeben, ob sie mich positiv ansprechen. Das Ergebnis des Tests wurde mir in einem Bericht zusammengefasst und auch gleich eine Empfehlung für meine Suche nach einer Partnerin gegeben: Ich sei ein sehr emotionaler Mensch und solle mir eine Frau suchen, die etwas rationaler plant.

Nun ist das leider wahr, rationale Planung ist wirklich keine Stärke von mir. Aber der Skandal besteht darin, dass unsere Gesellschaft eigentlich für eine Art Idealperson geschaffen zu sein scheint, in der alle Kräfte, Charaktereigenschaften und Kompetenzen ideal ausbalanciert sind. Menschen tun sich zu Paaren oder Gruppen oder Teams zusammen, auch weil sie von der Gesellschaft nicht individuell akzeptiert werden, so dass sie in ihr mit ihren Schwächen und Defiziten willkommen sind. Dahinter steckt der Leistungszwang, der alles soziale Leben durchzieht, und um dem gerecht zu werden wir diese Idealperson sein müssten, wenn es nicht die anderen Menschen gäbe, die uns helfen und ergänzen und uns so vom Druck, ideal sein zu müssen, entlasten.

Die Gesellschaft prägt also durch Leistungszwang unsere Beziehungen zu anderen und schafft so eine zweite, kulturell vermittelte Schicht unserer Persönlichkeit, die die erste unserer Bedürftigkeitserfahrung als Säugling überformt. Diese Schicht und ihre Berührungen mit anderen Menschen werden erneut zu einer Quelle von Wut, Ohnmacht, Verzweiflung und Schmerz. Vielleicht habe ich mich durch die primäre Erfahrung des Angewiesenseins so an die damit verbundenen Gefühle gewöhnt, dass die zweite Schicht daran andocken konnte und ich bereit war, trotz des dadurch entstehenden Leids diese neue Persönlichkeitsschicht anzunehmen. Sekundäre Heteronomie, aus der diese schmerzhaften Gefühle entspringen, ist noch frustrierender, weil sie eigentlich nicht notwendig wäre: Dass wir als hilflose Wesen geboren werden, ist eine biologische Realität, und wir können das nicht ändern. Aber die sekundäre Angewiesenheit auf ein Pendant ist nicht notwendig, sondern entspringt der falschen Struktur unserer Gesellschaft, ihren Leistungszwängen und von den Menschen abgekoppelten Idealen.

Das Einstanzen von Freiheits- und Autonomieidealen kann ich auf der Basis dieser Überlegungen nun auch besser analysieren: Es ist Teil der Struktur der Leistungszwänge, weil es Menschen dazu zwingt, die eigenen Defizite zu erkennen, zu beseitigen oder durch Beziehungen auszugleichen. Das ist das, worauf der Algorhytmus der Partner*innenbörse (und das Wort Börse trifft es ganz genau) mich sanft und unmissverständlich hingewiesen hat: Willst Du erfolgreich leben, dann suche dir eine Partnerin nach dem Schema xy. „Freiheit“ ist dann aber bloß noch eine Funktion im Algorhythmus einer Gesellschaft, die blind ist für reale Individuen, der es nur ums eigene Funktionieren und den Erhalt der sozialen Strukturen geht.

Mir

Am Sonntag war ich auf der Demo für Frieden in der Ukraine in Frankfurt.

Konsens der Redner*innen war, dass wir jetzt alle Flüchtenden aus der Ukraine aufnehmen müssen und dass die russische Führung der Aggressor ist und deren Armee sich sofort aus der Ukraine zurückziehen muss.

Dissens war deutlich bei der Frage, ob wir aufrüsten sollten, also das 100 Milliarden Euro Sondervermögen für Rüstung der Bundesregierung sinnvoll ist, und ob wir Waffen an die Ukraine liefern sollten. Attac und ein Friedensaktivist sprachen dagegen, der Attac Vertreter wurde dafür ausgebuht, der Frankfurter Oberbürgermeister Feldmann und ein Kirchvertreter sprachen dafür.

Für mich war interessant, dass die Demo auch dadurch bei einem gemeinsamen Grundkonsens sehr plural war, es fühlte sich sehr angenehm an, mit Menschen zusammen zu demonstrieren, die in Aspekten unterschiedlicher Meinung sind. Normalerweise bin ich auf Demos, wo gemeinsame gleiche Empörung stilbildend ist, und am Sonntag habe ich gemerkt, dass ich mich damit eigentlich wegen des Drucks, den das auf mich aufbaut, gar nicht so wirklich wohl fühle und eigentlich nur aus Pflichtgefühl hingehe. Die Fridays waren da schon ein bisschen anders, weil da viel Kreativität und wenig Frontendenken war. Vielleicht lernt die Zivilgesellschaft gerade, dass Pluralität und Gemeinsamkeit gar kein Widerspruch sein müssen.

Die Ukrainer*innen schützen: Gasimporte durch Zölle drosseln

Ein Freund von mir kommt aus der Ukraine, seine Verwandten leben dort und sind von Bomben bedroht. Ich habe in den letzten Tagen manchmal die Taz nicht gelesen, weil ich den Tag nicht mehr weinend am Frühstückstisch beginnen konnte. Ich muss funktionieren. Aber meine Wut auf die russische Regierung und meine Trauer um die Menschen, die dort ermordet werden, wächst.

Was kann ich tun? Kants Idee eines internationalen Gerichtshofes ist auch nach über 200 Jahren noch nicht richtig verwirklicht. Die UN sind das, was seiner Idee am nächsten kommt. Die UN-Vollversammlung hat mit mehr als 2/3 Mehrheit den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine verurteilt und die russische Regierung dazu aufgefordert, den Krieg gegen die Ukrainer*innen sofort zu beenden.

https://www.vorwaerts.de/artikel/uno-vollversammlung-ukraine-welt-stimmt-gegen-putins-krieg

Gleichzeitig bezahle ich mit meinen Heizkosten die Bomben, die jetzt das Leben der Familie meines Freundes bedrohen. Wenn ich nach der Zeitungslektüre noch in den Spiegel schauen können will, muss ich etwas tun. Spenden reicht nicht. Also gehe ich heute um 12 zur Demo auf dem Frankfurter Opernplatz gegen Energieimporte aus Russland.

Aus Diskussionen weiß ich, dass es ein Problem mit einem Embargo gibt: Scheinbar ist die europäische Wirtschaft so abhängig von den fossilen Energieimporten aus Russland, dass wir uns kein Embargo leisten können, bevor wir nicht über einige Jahre neue Infrastruktur geschaffen und neue Energiequellen erschlossen haben werden.

https://www.berliner-zeitung.de/news/russische-energie-bleibt-fuer-die-deutsche-wirtschaft-vorerst-unverzichtbar-li.215829

Ein Mittelweg wären höhere Zölle auf Gasimporte aus Russland, wie sie die USA anstreben.

https://www.finanzen.net/nachricht/aktien/russland-ukraine-krieg-usa-setzen-hoehere-zoelle-gegen-russland-in-gang-11129544

Aus dem Artikel geht hervor, dass dies nach den WTO-Richtlinien im Falle eines Krieges möglich ist. Die Regelung dafür hat die russische Regierung selbst in der WTO durchgesetzt, um die Ukraine mit Zöllen bekämpfen zu können. Die russische Regierung hat damit ein rechtliches Instrument geschaffen, das wir jetzt gegen ihren Krieg einsetzen können.

Zölle auf Gas und einen Stopp der Erdölimporte halte ich für ein gutes Mittel, um die russische Regierung unter Druck zu setzen, diesen Krieg zu beenden. Für das Öl gibt es Alternativen aus anderen Regionen der Welt, für das Gas gibt es aber leider noch keine vollständige Ersatzmöglichkeit. Zölle würden das Gas aus Russland teuer machen, und Menschen und Firmen in der EU so dazu bringen, diese Ressourcen einzusparen, und dadurch würde es einen Anreiz für die Wirtschaft geben, erneuerbare Energien auszubauen und dort zu investieren.

Zugleich müssen wir verhindern, dass die Alternativen zum russischen Gas Kohle, Frackinggas aus den USA und Atomkraft werden. Dazu ist es notwenig, am Kohleausstieg festzuhalten und durch Steuervergünstigungen und Subventionen der Staaten und der EU alle Kraft in den Ausbau der regenerativen Energien zu investieren. Das Geld für diese Subventionen kann dann teilweise aus den Zöllen auf russisches Gas gewonnen werden, so dass die russischen Konzerne dafür bezahlen, dass Europa mittelfristig von ihnen unabhängig wird.

Außerdem sind Zölle ein flexibleres Instrument als ein Embargo: Die demokratischen Regierungen können über die Höhe der Zölle gezielt und dosiert eingreifen: Wenn die Zölle niedriger sind, entlastet die Politik die Verbraucher, sollte zum Beispiel der soziale Frieden durch hohe Energiekosten gefährdet sein. Wirken die niedrigen Zölle aber noch nicht auf Russlands Politik, können sie erhöht werden. Wahrscheinlich gibt es da ein Optimum zwischen der Skylla des gefährdeten sozialen Friedens im Inland und der Charybdis eines von europäischen Geldern finanzierten illegalen Angriffskrieges auf die Menschen in der Ukraine. Dieses Optimum müssen wir schnell finden.

PS: Wen es irritiert, dass ich hier so unkritisch auf Marktmechanismen setze, der lese bitte Fernand Braudels Text „Über die Dynamik des Kapitalismus“, in dem er nachweist, dass Marktwirtschaft nicht gleich Kapitalismus ist, sondern im Gegenteil der Kapitalismus ein System ist, dass Märkte entgegen deren eigentlicher Normativität ausnützt und diese Normativität damit beschädigt.

Posttemporalismus

Mit einem Bein stehe ich in der Vergangenheit, mit dem anderen in der Zukunft – und je weiter sich beide voneinander entfernen, desto schwieriger wird der Spagat. Hoffentlich vergibt niemand Haltungsnoten in dieser Sportart.