Wir treffen uns um 6 Uhr nach der Revolution!

Es gibt ja diesen US-amerikanischen Marxisten David Harvey, der so eine Art Popstar der Linken geworden ist. Ich habe neulich auf Youtube ein Interview mit ihm gesehen, in dem er gefragt wurde, wer denn nun eigentlich zum Proletariat gehöre, das die Revolution machen wird. Und diese Frage ist nicht ganz trivial, weil zum Beispiel ich ja Lehrer bin, und also klassischerweise eigentlich zur Bourgeoisie gehören müsste, aber ich verdiene vielleicht ein Drittel von dem, was ein Facharbeiter bei VW verdient. Mein Vater hat mir außerdem erzählt, dass die bei VW dieses Jahr 8000 Euro Weihnachtsgeld bekommen, und das ist mehr, als ich in den nächsten 8 Jahren werde sparen können.

Also jetzt die Preisfrage: Bin ich jetzt Bourgeois oder der VW-Facharbeiter? Oder sind wir beide Proletarier? Oder was? Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung. Und David Harvey offensichtlich auch nicht, weil er auf die Frage sehr weitschweifig nicht geantwortet hat. Und der Blick in das kommunistische Manifest hilft da auch nicht viel weiter, weil Marx und Engels da nur schreiben: Proletarier sind Leute, die kein Eigentum an Produktionsmitteln haben, und deshalb gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen.

Nun habe ich eine relativ gut ausgestattete Geigenbauerwerkstatt zusammengekauft, als ich in der Lehre war, und mit einigen wenigen Neuanschaffungen könnte ich mich selbständig machen und wäre dann – Unternehmer. Vermutlich würde ich im Monat so knapp das Existenzminimum verdienen, aber welcher Klasse würde ich dann angehören? Ich habe mich stattdessen entschieden, meine Arbeitskraft an das Land Hessen zu verkaufen, und jetzt weiß ich nicht, ob ich Proletarier bin oder nicht.

Aber die Frage, wer eigentlich Proletarier ist und wer nicht, ist ziemlich entscheidend für die marxistische Linke, weil das Proletariat ja die Revolution machen soll und die Produktionsmittel vergesellschaften soll, wodurch dann die Klassen verschwinden, weil es keinen Privatbesitz an Produktionsmitteln mehr gibt und die klassenlose Gesellschaft anbricht. Wenn ich mir aber jetzt vorstelle, dass die VW-Facharbeiter meine Geigenbauerwerkzeuge verstaatlichen, dann verdrillert sich mein Gehirn, weil ich mir die Revolution irgendwie anders vorgestellt habe.

Ich stelle mir die Revolution nicht so wie ein Armaggeddon vor, so einen Endzeitkampf der guten gegen die böse Klasse, Proletarier gegen Bourgeoisie, sondern eher wie ein ziemliches Chaos, wo keiner so genau weiß, wo er hin soll, und alle wuseln so vor sich hin und langsam fangen dann immer mehr Leute an, still und leise von der Fahne des Kapitalismus zu desertieren – das kann damit anfangen, dass Du keine Kleidung aus Sweatshops in Bangladesch mehr kaufst, sondern nur noch fair produzierte, oder Du gründest einen kleinen Kollektivladen, oder ein Hausprojekt, oder Du gehst mal ein Jahr nach Uruguay, statt an deiner Karriere zu feilen, oder Du spendest deine 8000 Euro Weihnachtsgeld an Ärzte ohne Grenzen. Bringt dem Kapitalverwertungsprozess alles nichts und ist deshalb ein klitzekleines Puzzleteil in dem, was dann in den Geschichtsbüchern der 2100er Jahre als Revolutionsgeschichte erzählt werden wird.

Also: Wir treffen uns um 6 Uhr nach der Revolution! Vergiss nicht, Dein Geschichtsbuch mitzubringen, und vergiss nicht Deine Geschichten.

Der Kapitalismus, Resonanz und Kaffee wie in einer italienischen Bar

Ich frage mich schon länger, wieso ich, obwohl mir ziemlich klar ist, dass im Kapitalismus kein wirklich gutes Leben möglich ist, trotzdem noch in dieser Gesellschaftsordnung mitmache, brav konsumiere, arbeite und Steuern zahle und mich zusätzlich noch sozialreformerisch betätige, um das System zu verbessern, statt auf Revolution zu setzen und mich zu verweigern.

Jetzt habe ich mir zum Beispiel, statt nach Frankfurt zu Blockupy zu fahren, eine sehr teure gebrauchte High-End-Siebträger-Espressomaschine gekauft, so eine verchromte, von der es heißt, sie ermögliche „Kaffee wie in einer italienischen Bar“. Man kann also sagen, ich war im letzten Monat ein Deserteur der Revolution.

Ich bin tatsächlich halb unglücklich und halb erleichtert, dass ich nicht zu Blockupy gefahren bin, weil Gewalt echt nicht mein Ding ist, auch nicht gegen Sachen. Ich habe zum Beispiel mal bei einer Anti-Nazi-Demo in Gladenbach, wo Mitdemonstrierende im Dorf Mülltonnen auf der Straße umgeschmissen haben, die Mülltonnen wieder aufgestellt und eingeräumt, weil ich das echt bescheuert finde, in seinem Revolten-Furor statt der Nazis (die von der Polizei beschützt wurden) die Mülltonnen der Gladenbacher*innen zu bekämpfen.

Nevermind. Trotz meiner Ablehnung von Gewalt bin ich ein bisschen unglücklich darüber, nicht wenigstens bei der friedlichen Blockupy- Kundgebung auf dem Römer gewesen und Naomi Klein gehört zu haben, die darüber gesprochen hat, wie der Kapitalismus den Planeten zerstört. Und stattdessen diese Espressomaschine gekauft zu haben, für die ich viele Stunden im Internet recherchiert habe.

Dieser Blogeintrag dient jetzt dazu, mein Revolutionspunktekonto wieder ein bisschen aufzuhübschen. Und das soll wie folgt funktionieren: Ich analysiere mein revolutionäres Versagen mit der Kaffeemaschine und helfe den Leser*innen so, nicht in die gleiche Falle zu tapsen. Der Begriff, mit dem ich das machen will, stammt aus dem Buch von Rosa/Dörre/Lessenich: „Soziologie Kapitalismus Kritik.“, das bei Suhrkamp erschienen ist, und heißt „Resonanz“. Resonanz zu erfahren heißt: Wir haben das Gefühl, dass die Welt und unsere Mitmenschen auf unsere Wünsche, Gefühle, Handlungen und Äußerungen so antworten, dass wir uns wahrgenommen, verstanden, akzeptiert und geliebt fühlen und spüren, dass wir etwas bewirken können. Ich kenne niemanden, der sich das nicht wünscht.

Was das jetzt mit meiner neuen gebrauchten Espressomaschine zu tun hat? Folgendes: Ich bin dem Kapitalismus voll auf den Leim gegangen, der nämlich systematisch die Illusion von Resonanz erzeugt. Ich habe mir eigentlich gewünscht, von meinen Mitmenschen als jemand wahrgenommen zu werden, der irgendwie Kreativität, Unabhängigkeit, Lebensgenuss und Hipness mit Tradition, Nachhaltigkeit und einem gewissen edlen Konservatismus vereint. Voila: Genau das leistet meine neue Espressomaschine Italian Style. Deshalb musste sie auch verchromt sein und nicht Edelstahl gebürstet wie die, die meine besten Freunde haben. So. Jetzt kriege ich die und habe das Gefühl, dass a) der Kapitalismus auf meine Wünsche und Bedürfnisse mit deren Befriedigung antwortet und b) ich meine Mitmenschen durch ein Objekt, das als Symbol funktioniert, dazu bringen kann, mich so wahrzunehmen, wie ich gerne wahrgenommen werden will. Resonanz. Oder so was ähnliches. Denn in Wirklichkeit ändert sich mein Leben natürlich nicht wirklich, nur weil mein Espresso besser schmeckt und aus einer schickeren Maschine kommt. Mein Leben ändert sich, wenn ich öfter Freund*innen zum Kaffeetrinken einlade und wir uns erzählen, was für uns das gute Leben wäre. Darauf antwortet der Kapitalismus aber nun überhaupt nicht, weil meine Freund*innen zum Teil drei Jobs gleichzeitig haben und deshalb selten Zeit, bei einem guten Kaffee über ihre Lebensträume zu reden. Und ich auch oft plötzlich an meine Aufgaben in der Schule denken muss und mich deshalb nicht so richtig im Gespräch entspannen kann. Schön reingefallen, denn daran ändert die neue Espressomaschine nun wirklich nichts.

Also: Wenn Du mal überlegst, ob Du Deine Zeit für eine Kundgebung auf dem Frankfurter Römer oder zum Arbeiten und Konsumieren verwendest, rate ich Dir, Dich zu fragen, welche Art von Resonanz Du Dir wünschst, und wo Du die her bekommst.

Liebe unprofitabel

Allen, die sich manchmal fragen, warum das eigentlich so unglaublich schwierig ist, in einer Beziehung das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Bindung zu halten, sei hier die Lektüre von Eva Illouz und Judith Butler empfohlen. Mit der Kombination der Bücher „Warum Liebe weh tut“ und „Psyche der Macht“ kann mensch sich das nämlich erklären.

Meine Erklärung geht so: Der Kapitalismus hat einen zentralen Widerspruch immer weiter verstärkt, der sich besonders auf Liebesbeziehungen auswirkt: Denn einerseits werden im Kapitalismus Leute gebraucht, die möglichst frei und ungebunden sind, damit man sie als global agierendes, ständig die neuesten Entwicklungen mitgestaltendes Management überall schnell einsetzen kann: Keine Bindungen, Kinder, Ehepartner, die die Flexibilität der Arbeitenden beeinträchtigen. Gerade weil sich alles so schnell wandelt, braucht man Leute, die sich schnell anpassen, keine Klötze am Bein haben und übermorgen in der Filiale in New York das Marketing auf die neuesten Trends umstellen. Dasselbe gilt auch für alle Menschen, die gezwungen sind, ein prekäres Dasein zwischen Minijobs und Scheinselbständigkeit zu führen, bloß ist es da noch schlimmer.

Diesem Zerrbild der Freiheit steht ein zweiter funktioneller Bedarf des Kapitalismus gegenüber: Marx hat das die Reprodukion der Arbeitskraft genannt. Das bedeutet unter anderem: Die Leute müssen auch irgendwie arbeitsfähig bleiben, körperlich und psychisch klarkommen, brauchen Zuneigung und einen privaten Beziehungsraum, der die Zwänge und Härten der Arbeitswelt kompensieren hilft. Und: der Kapitalismus braucht Kinder. Ohne Kinder gibt es keine Arbeitskräfte, insbesondere die Eliten sollen sich ja, wie wir seit Thilo Sarrazin wissen, in Deutschland endlich mal ordentlich fortpflanzen, weil dieses Land ja sonst bald bloß noch aus faulen und dummen Leuten besteht.

Das Problem an der ganzen Sache ist nun: Das sind zwei Erwartungen, die der Kapitalismus an uns stellt, die ganz und gar nicht zusammenpassen: Kinder bedeuten Bindung, Kinder brauchen Verlässlichkeit, Freunde, ein vertrautes Umfeld und stabile Beziehungen. Wenn wir gleichzeitig aber total flexibel sein sollen und morgen in Köln und übermorgen in Frankfurt arbeiten sollen, dann wird das schwierig. Und wenn zwei Partner*innen beide befristete Jobs haben, die eine aber in Köln und der andere in Berlin ist, dann sind vielleicht beide recht autonom, aber es wird schwierig, ein Beziehungsleben zu organisieren, das Kraft für die Anforderungen der Arbeitswelt gibt.

Ich hab deshalb großen Respekt vor allen Leuten, die unter diesen Umständen glückliche und stabile Liebesbeziehungen aufbauen. Denn eins ist klar: Entweder wir sind frei, uns in jede gewünschte Richtung zu entwickeln, oder wir sind in festen Bindungen, die unseren Identitätswandel bremsen und unsere Optionen begrenzen. Beides zugleich überfordert. Familien, die das beides können, sind oft kleine Roboterfabriken, in denen kein Leben stattfindet, das nicht diktiert ist von äußeren Anpassungszwängen.

Das ist doch aber ganz schön, jetzt zu wissen, dass diese Zerrissenheit zwischen dem Wunsch nach Bindung und dem Wunsch nach Freiheit nicht mein persönliches Problem ist, sondern ein Problem der Gesellschaftsordnung, in der ich lebe. Ich weigere mich, die dauernden Krisen dieser Verwertungslogik, die sich in ihren eigenen Widersprüchen verheddert, als meine eigene Schuld und mein persönliches, subjektives, inneres Problem zu sehen. Ich kenne so viele Leute aus der akademischen Mittelklasse, die um ihre Liebesbeziehungen kämpfen müssen, dass ich an dieser Stelle und ganz zum Schluss Herrn Sarrazin gerne sagen möchte: Schaffen Sie den Kapitalismus ab oder reformieren Sie ihn vernünftig, dann kriegen wir so viele Kinder, dass Sie sich umgucken werden. Allerdings muss ich gleich dazu sagen, dass es diesen Kindern dann ziemlich Banane vorkommen wird, wenn Herr Sarrazin wieder mit seinem Protorassismus um die Ecke kommt, weil diese Kinder dann frei und gleich mit anderen Kindern aller möglichen Länder zusammen leben werden. Denn ohne kapitalistischen Konkurrenzdruck wirds dann auch keinen Hass zwischen irgendwelchen konstruierten Gruppen geben, und die Leute werden sich fragen, warum die Leute früher eigentlich so ein Wort wie „Deutscher“ wichtiger fanden als so ein Wort wie „Cineast*in“.

Europa links vom Sparwahn

Endlich: Griechen wehren sich gegen das Spardiktat aus Berlin, Brüssel, London und New York. Ein kosmopolitischer Ökonom gibt seinen Lehrstuhl in den USA auf, um als Finanzminister für Griechenland die Kartoffeln aus dem Feuer zu holen. Danke, Varoufakis.

Regierungschef Alexis Tsipras stoppt die Privatisierung des Hafens von Piräus und der Eisenbahngesellschaft. Der Ausverkauf Griechenlands hat einige Opfer weniger.

Die neue Regierung will einen Schuldenreduktionsplan durchsetzen: Länger Zeit für die Rückzahlung, geringere Zinsen, Abzahlung je nach Wirtschaftswachstum. Das ist Politik mit Augenmaß.

Die Populisten um Wolfgang Schäuble von der CDU beschimpfen Tsipras und Varoufakis dafür jetzt, na, wie? Als Populisten. Dabei haben Schäuble und Konsorten den deutschen Wähler*innen jahrelang erzählt, die Griechen würden unser Geld klauen. In Wirklichkeit haben das Geld die ganzen Reichen geklaut, die es in die Steueroase Luxemburg verschoben haben, während der jetzige konservative EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker dort Regierungschef war und seine Arbeitszeit größtenteils mit dem Stricken von Steuerschlupflöchern verbracht hat.

Vielen Dank an die europäische Konservative unter der Führung von Juncker, Merkel und Cameron: Sie betreiben den Ausverkauf der europäischen Demokratien.

Ich bin erst zufrieden, wenn die deutsche Bundesregierung sich entschließt, den Griechen endlich Wiedergutmachung für die Schäden von Nazikrieg und Nazibesetzung zu zahlen. Wenn Deutschland im Rahmen des Rettungsfonds hier Nettozahler würde, wäre das nur gerecht.

Wenn Tsipras jetzt noch dafür sorgt, dass die reichen Griechen auch endlich ihre Steuern bezahlen, bin ich überzeugt, dass die Griechen zurecht Syriza gewählt haben. Es sei denn, die Rechtspopulisten in der griechischen Koalition machen den Migrant*innen das Leben noch schwerer, als es das Dublin II Abkommen eh schon macht. Aufgrund dieses Abkommens nämlich landen die fliehenden Syrer*innen massenweise im bettelarmen Griechenland und kaum im reichen Deutschland.

Probleme – in die Peripherie abschieben, nach Spanien und Griechenland. Gewinne: Ins Zentrum verschieben, nach Deutschland. Und dann noch die Ohnmächtigen als Schuldige darstellen. Das ist die Politik der konservativen Populisten. Pfui.

The Sound of Idleness

Ich sitze hier in der Küche und lausche dem meditativen Rauschen meiner Spülmaschine und freu mirn Ast, das ich nicht an der Spüle stehen muss und das dreckige Geschirr vom Mittagessen spülen, damit meine Mitbewohnerin nicht rückwärts aus der Küche rausfällt. Und da hab ich mich gefragt: Wo und wann wurde eigentlich die Spülmaschine erfunden? Ich hatte spontan die Idee, dass man daran vielleicht sehen könnte, ob der Kapitalismus nicht doch eigentlich gut ist. Also wollte ich den Test machen: Sollte die Spülmaschine in einem sozialistischen Land erfunden worden sein oder in einem Feudalstaat, würde ich den Kapitalismus noch glühender hassen als bisher. Wäre dieser wunderbare Automat eine kapitalistische Erfindung, würde ich mein Urteil über den Kapitalismus relativieren und sagen, er ist nur teilweise schlecht.

Ich schaue also bei Wikipedia. Und bin sehr überrascht. Nicht wegen des Ursprungslandes der Geschirrspülmaschine, sondern… weil die Erfinderin eine Frau war, Josephine Cochrane. Und überrascht bin ich eigentlich auch gar nicht über diese Tatsache, sondern darüber, dass ich automatisch an einen männlichen Erfinder gedacht habe, ohne dass ich überhaupt in meinem kapitalismuskritischen Zorn darüber nachgedacht hätte, ob diese Vorstellung nicht vielleicht ein Effekt meiner profitablen Position innerhalb der männlichen Herrschaft ist. Mann!

Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Geschirrsp%C3%BClmaschine

Das Kapital kann nicht mehr scheues Reh spielen

Ein Kommentar zu Thomas Steinfelds Rezension des Buchs „Capital in the 21 Century“ von Thomas Piketty. („Der olle Marx“. In: Süddeutsche Zeitung Nr 92 vom 22.4.2014. S. 11.)

Die Leute streiten sich, welche Schlüsse die Politik aus der Finanzkrise ziehen soll. Man liest wieder Marx, denn der hat schließlich die Funktionsweise des Kapitalismus bereits vor 150 Jahren ziemlich minutiös analysiert. Dabei ist es nicht so schlimm, dass man Marx politische Forderungen nicht diskutiert, denn wer will heute schon noch die Diktatur des Proletariats? Es macht aber durchaus Sinn, Marx Analyse auf die Finanzkrise anzuwenden und daraus politische Schlussfolgerungen für eine Reform des Kapitalismus zu ziehen.

Pikotty schlägt solche Reformen vor, Steinfeld bezweifelt, dass sie möglich sind. In einem Punkt würde Steinfeld Pikotty zustimmen: Die extreme Ungleichverteilung von Gewinnen führt dazu, dass das Leistungsprinzip (wer viel leistet, verdient auch viel) zumindest für die Minderheit der Superreichen und die Mehrheit der Superarmen ausgehebelt ist, weil sich die Zugehörigkeit zu beiden Klassen einfach vererbt.

Pikettys Antwort auf die Ungleichverteilung von Reichtum ist sozialdemokratisch, sie lautet: Der Staat soll durch Abgaben und Steuern die Gewinne umverteilen und durch Regulation der Märkte die Krisen des Kapitalismus begrenzen. Im Prinzip ist das das alte fordistische Staatsmodell, das in den 70er Jahren unter dem Druck der Staatsschulden, die die USA für den Vietnamkrieg aufgenommen haben, und dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems stabiler Wechselkurse gescheitert ist. Seitdem haben wir einen relativ ungebremsten Siegeszug der „neoliberalen Konterrevolution“ (Hayek), die viele der Umverteilungs- und Regulationsmechanismen des keynesianischen Fordismus abgeschafft hat.

Steinfeld hat gar keine Antwort auf die Krise des Finanzkapitalismus außer einer ziemlich zynischen Schicksalsergebenheit: Er verweist einfach darauf, dass der Wettkampf der Nationen um das global sich bewegende Kapital alle Regulationsforderungen „illusorisch“ mache. Also kann man weiter FDP wählen und den Kapitalismus die nächste Krise produzieren lassen, und wenn es wieder eine durch Spekulationsgeschäfte mit Nahrungsmitteln verursachte Hungerkrise ist. Danke für diese konstruktive Position.

Gleichzeitig ist Steinfeld aber Pikottys Analyse nicht tiefgehend genug, weil Marx und die klassischen Ökonomen wenigstens versucht hätten, eine Wirtschaftsform zu erklären, während Pikotty die Ungleichheit wie ein „utopischer Sozialist des 19. Jahrhunderts“ kritisiere. Der Begriff der Ungleichheit sei aber nicht „empirisch“, sondern eine „idealistische Setzung“.

Klingt schlau, ist aber vollkommener Schwachsinn. Die Tatsache, dass in Deutschland die reichsten 10% der Bevölkerung über 66,6% aller Vermögenswerte verfügen, während die ärmsten 50% der Bevölkerung davon gerade mal 1,4% besitzen, ist ein empirischer Fakt ohne jede „idealistische Setzung“.1 Wenn wir nicht mehr schreiben können, das 66,6% aller Vermögen nicht gleich 1,4% aller Vermögen sind, dann können wir gar keine statistische Aussage über die Wirklichkeit mehr machen.

Jetzt mache ich mal das, was Steinfeld irgendwann mal über Marx hat munkeln hören: Ich erkläre mal einige Aspekte der Finanzkrise des aktuellen Kapitalismus. Zum Beispiel die Funktion genau der oben empirisch festgestellten Ungleichverteilung von Vermögen. Die Funktionsweise ist eigentlich ziemlich banal, aber ausgesprochen wirkungsvoll: 50% der Menschen in Deutschland sind nämlich mangels Vermögen gezwungen, ihre Arbeitskraft an die reichen 10% zu verkaufen, um überhaupt leben zu können. Die reichen 10% besitzen die Produktionsmittel (zum Beispiel in Form von Geldkapital, oder von Aktien) und können dadurch den Mehrwert, den die 50% durch ihre Arbeit erzeugen, als Gewinn einstreichen. Der Staat hat dabei die Funktion, die Eigentumsordnung durch Gesetze, Polizei und Justiz zu schützen, so dass den reichsten 10% ihr Eigentum an Produktionsmitteln nicht verloren geht. Aber da war doch noch der Wohlfahrtsstaat mit Sozialhilfe und so. Na ja, das erklärt sich einfach: In der Phase der Systemkonfrontation mit dem Staatssozialismus des Ostblocks konnten die kapitalistischen Staaten von der organisierten Arbeiterschaft leichter gezwungen werden, die Mehrheit ihrer Bevölkerung auch an den Gewinnen zu beteiligen, die erwirtschaftet wurden, weil es eine Systemalternative gab. Daraus sind dann der New Deal von Roosevelt und die soziale Marktwirtschaft von Erhard und Schiller entstanden.

Dafür gabs aber noch einen weiteren Grund, und der war folgender: Der Kapitalismus hat permanent Krisen erzeugt, wie die Weltwirtschaftskrise ab 1929. Der Wohlfahrtsstaat hatte auch die Funktion, eine stabile Nachfrage zu erzeugen, die allzu harte Konjunkturdellen verhindern sollte.

Seit in den 1980er Jahren langsam sichtbar wurde, dass der Staatssozialismus schwächelt, konnten sich die Neoliberalen erst in England und den USA, dann in Deutschland und jetzt in Frankreich immer besser durchsetzen und haben die staatlichen Regulationen und Umverteilungen wieder zurückgebaut.

Dadurch sind jetzt aber neue Krisen entstanden, zum Beispiel die gegenwärtige Finanzkrise. Denn die Ungleichverteilung von Reichtum wurde durch die neoliberale Deregulierung so verstärkt, dass in USA die Mehrheit der Leute so wenig verdient hat, dass keine Nachfrage mehr da war: Die Leute hatten zum Beispiel kein Geld, Häuser zu kaufen. Auf der anderen Seite des Tisches hatten wenige Vermögende so viele Gewinne angehäuft, dass sie gar nicht mehr wussten, wie sie die anlegen sollten, um ihre 10-30% Rendite zu bekommen. Denn ohne genug Nachfrage nach Produkten gibt es auch keine Möglichkeit, den klassischen Weg der Geldvermehrung zu gehen: Geld in die Produktion zum Beispiel von Häusern zu stecken, die zu verkaufen und damit mehr Geld zu verdienen, als man in den Bau reingesteckt hat. Also haben die Vermögenden folgendes gemacht: Sie haben vermittelt über die Banken den geringverdienenden Lohnarbeitenden günstig Kredite gegeben, mit denen die dann zum Beispiel Häuser gekauft haben. Es entstand eine Blase, die Nachfrage nach Häusern wurde künstlich erhöht und die Häuser waren vollkommen überbewertet. Die Kredite, die diese Überbewertung erzeugt haben, waren aber teilweise das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt waren, weil die Leute so prekäre Jobs hatten, dass die Kredite massenweise nicht bezahlt werden konnten. Die Hypothekenblase platzte und die Finanzkrise brach los. Der Staat musste die pleite gegangenen Banken stützen. Nun zahlen die Steuerzahler der die Zeche.

Was die europäischen Regierungen jetzt machen, ist auch Umverteilung, bloß umgekehrt, nämlich von unten nach oben: Sie sichern mit Steuergeldern die Gewinne der Gläubiger, von Banken, Konzernen und Privatleuten. Die Lohnsteuer ist in Deutschland immer noch der größte Beitrag zu den Staatseinnahmen. Das damit eingenommene Geld steckt die Bundesregierung in Bankenrettungen, die bis zu 480 Milliarden Euro kosten könnten.

Daraus kann ich nur einen Schluss ziehen: Die Forderung nach Umverteilung ist nicht „illusorisch“, wie Steinfeld schreibt, sondern sie ist bereits Realität. Bloß eben in umgekehrter Richtung als Pikotty fordert.

Die große Frage, die ich mir nach all dem stelle, ist aber folgende: Wäre eine Umverteilung in sozialdemokratischer Manier, wie sie Pikotty fordert, eine vielversprechende Maßnahme gegen die Krisen, die der Kapitalismus dauernd erzeugt? Also können wir wirklich auf den Kapitalismus des 21. Jahrhunderts mit Forderungen antworten, die im Prinzip auf einen Wohlfahrtsstaat hinauslaufen, der den Nationalstaaten der 1970er Jahre ähnelt?

Dafür spricht, dass man damit das Grundproblem lösen könnte, dass es zu einer extremen Anhäufung von Kapital kommt, ohne dass eine Nachfrage entstehen kann, die Marx klassischen Weg der Kapitalverwertung: Kapital (g) – Produktion – Verkauf – Kapital plus Profit (g‘) in Gang hält.

Dafür spricht auch, dass die Krise der Wohlfahrtsstaaten der 1970er Jahre vor allem eine Globalisierungskrise war, und eine weltweite Vermögenssteuer, wie sie Pikotty fordert, wäre eine internationale Antwort auf ein globales Problem und hätte schon deshalb nicht mehr dieselben Probleme wie der Keynesianismus der 1970er Jahre.

Dagegen spricht die Tatsache, dass es weltweit eine große Zahl von Staaten gibt, die eine solche Steuer nicht einführen würden, und in diese Staaten würde, insofern hat Steinfeld recht, viel Kapital auf der Suche nach mehr Rendite fließen. Deshalb ist die Forderung nach einer Finanztransaktionssteuer, wie sie attac fordert, eine unabdingbare flankierende Maßnahem zu einer Vermögenssteuer, weil man die Transaktion so besteuern kann, dass sobald einer der Handelspartner der Transaktion in einem europäischen Land oder den USA sitzt, die Steuer fällig wird. Da die wichtigsten Finanzplätze in der Welt immer noch New York und London sind, würden so die meisten Kapitalverschiebungen in ein vermögenssteuerfreies Land etwas kosten, ebenso wie der Rücktransfer in die Industrieländer. Und da der Großteil der realen Wertschöpfung nach wie vor in den Industrie- und Schwellenländern stattfindet, würde das Kapital auch nicht langfristig diese Länder vermeiden können. Außer natürlich im Falle von Nahrungsmittelspekulation, die mit der Not und dem Hunger in Entwicklungsländern Profit macht. Und wenn wir das nicht regulieren, da bin ich ganz idealistisch, dann bleibt der Kapitalismus einfach eine Wirtschaftsordnung, die die Menschenrechte mit Füßen tritt.

Für meine Begriffe sollte also als nächstes Folgendes passieren: Das TTIP der EU und der USA sollte tatsächlich abgeschlossen werden, allerdings nicht mit Deregulierungen, sondern mit Regulierungen für beide Seiten: Zum Beispiel sollte es eine auf beiden Seiten des Atlantiks erhobene Finanztransaktionssteuer auf alle Transaktionen enthalten, bei denen mindestens ein Handelspartner in den USA oder der EU sitzt. Außerdem sollte man sich auf eine gemeinsame, progressive Vermögenssteuer in beiden Wirtschaftszonen einigen.

Ich glaube nicht, dass das genügt, um zukünftige Krisen des Kapitalismus zu vermeiden. Aber vielleicht reicht es auch erst einmal, die demokratischen Staaten wieder handlungsfähiger zu machen und vielleicht nützt es einigen 100000 Familien in den USA und Europa, die dann nicht zwangsgeräumt werden. Das ist immerhin auch schon etwas.

1http://umfairteilen.de/fileadmin/download/material/Downloadmaterial/fakten_arm-reich.pdf

Spar-Trek: Machtlos im Weltfinanzraum

Ich war diese Woche bei einer Vorführung des Films „Master of the Universe“, in dem der Ex-Investmentbanker Rainer Voss von der Bankenwelt erzählt. Rainer Voss war auch da und hat unsere Fragen beantwortet. Es ist wohl so, dass der Banker-Job das Gefühl erzeugt, man sei Captn Jean-Luc Picard auf der Brücke des Raumschiffs Enterprise und sei allmächtig. Mir geht es da anders: Ich hab das Gefühl, wenn ich „Energie“ sage, passiert irgendwie leider gar nichts.

Zum Beispiel bin ich nach den Bürgerrechtsverletzungen durch die hessische Polizei letztes Jahr bei den Blockupy-Protesten in die Grünen eingetreten, um die CDU-Landesregierung zu stürzen, deren Innenminister Rhein den Polizei-Pfeffersprayeinsatz gegen friedliche Demonstrierende zu verantworten hat. Im Wahlkampf letztes Jahr hat dann meine Freundin Angela Dorn gemailt, ob ich vielleicht Zeit hätte, mit ihr für ein Portrait im HR durch die hessischen Wälder zu wandern, dabei gefilmt zu werden und damit sozusagen mein Gesicht für den Grünen-Wahlkampf herzugeben. Klar, mach ich, hab ich geantwortet – und bin nach sechs Stunden Unterricht geben in das Grünen-Wahlkampfauto gesprungen, wofür mich meine linken Freund*innen schon verachtet hätten, hätten sie es gesehen, und bin in Haina durch den Wald gelaufen und hab versucht, publikumswirksam zu lächeln, während so ein Kamerateam um uns rum lief.

Jetzt ist mein Plan irgendwie nicht so richtig aufgegangen – weil meine Freundin Angela und die anderen in der Grünenspitze sich überlegt haben, mit Bouffiers und Rheins CDU eine Koalition zu machen. Ihr Verständnis von „Hessen wechselt“ scheint zu sein, zwei Grüne zu Minister*innen zu machen und zu Sparzwecken 1800 Stellen zu streichen.

Das mit dem Sparen ist jetzt besonders witzig, weil Rainer Voss, der Ex-Banker, auf meine Frage nach seiner Meinung über die Finanzpolitik Deutschlands gesagt hat: Das Sparen sei totaler Quatsch, es gäbe so viele sinnvolle Investitionen, die nötig seien, zum Beispiel in Schulen und Unis, dafür solle der Staat ruhig Schulden aufnehmen, denn das bringe Rendite in der Zukunft. Das stimmt jetzt nicht so ganz, weil der Staat nicht wie ein Unternehmen funktioniert und die fertig ausgebildeten Schüler*innen nicht meistbietend an die Wirtschaft weiterverkaufen kann, aber Voss hat trotzdem Recht, weil ohne Bildung langfristig unsere Gesellschaft keine ZUkunft hat. Ich bin ja auch in die Grünen eingetreten, weil die so ehrlich waren, Steuererhöhungen zu fordern – damit kann man dann locker die nötigen Investitionen in Bildung und Forschung investieren, die uns fit für die Zukunft machen, habe ich gedacht. In unserer Schule haben wir über 1000 Schüler*innen – und zwei Computerräume mit insgesamt vielleicht 30 Rechnern. Wenn man bedenkt, dass heute eine der wichtigsten Kompetenzen ist, wo ich mir wie die wichtigen und verlässlichen Informationen zu einem Thema beschaffe, ist das eine ziemlich vertrackte Situation. Ich denke jetzt immer an meine Freundin Angela, wenn ich mich in das Buchungssystem meiner Schule einlogge und feststelle, dass ich mit meinen Schüler*innen wieder mal keine Internetrecherche machen kann, weil die Computerräume alle ausgebucht sind.

Mein philosophischer Freund Daniel arbeitet an der Marburger Uni. Da hat er es insofern schonmal besser, weil er ein Büro hat – während in unserer Schule an Büros für Lehrer*innen gar nicht zu denken ist, wir können froh sein, wenn wir im Lehrerzimmer sitzen können, weil es mehr als doppelt so viele Lehrer*innen wie Plätze gibt. Ein Umbau ist bei der Stadt Marburg beantragt. Ältere Kolleg*innen rechnen aber nicht damit, dass sie den Umbau noch erleben. Die Stadt Marburg spart Zinsen, indem sie die Genehmigung noch ein paar Jährchen hinauszögert.

Meine Situation hat sich durch die Solidarität einer Kolleg*in aber schon mächtig verbessert, weil sie mir jetzt die Hälfte eines Faches im Lehrerzimmer (40 mal 40 cm Grundfläche) überlassen hat, in dem ich wenigstens ein paar Bücher lagern kann. Danke, Hessen! Bildung rules.

Daniel hat in der Marburger Uni aber auch zu kämpfen: Am Institut für Philosophie gibts 3 Professor*innen für 900 Studierende. Alle Versuche, das hessische Ministerium zur Bereitstellung weiterer Mittel zu bewegen, scheiterten bisher.

So. Zurück zum Thema. Also während die Investmentbanker sich anscheinend fühlen, als seien sie Commander auf der Brücke von Raumschiff Enterprise, fühl ich mich eher wie ein Maschinist, der mit seinem Kumpel Daniel La Forge und vielen anderen die ganze Zeit versucht, den vollkommen überalterten Warp-Antrieb, der fast auseinanderfällt, durch ständiges Schrauben, Einbauen von minderwertigen Ersatzteilen und jeder Menge Fußtritte auf den Photonenbeschleuniger am Laufen zu halten. Jedes Mal, wenn so ein Banker „Energie“ sagt, droht der Warp-Antrieb vollends auseinander zu fliegen.

Zum Glück sitzen ja auf der Brücke außer den Banker-Commanders noch Captn Jean-Luc Bouffier und seine Nummer eins, Wirtschaftsminister Riker Al-Wazir. Sie sind die Hauptfiguren in unserer Lieblingsserie Spar-Trek. Sie wissen, wo’s langgeht. Und wenn sie sagen: „Energie“, dann heißt das auch Energie, scheißegal, wie lange der Warp-Antrieb nicht grundsaniert wurde. Das Problem ist: Ich als Maschinist muss leider sagen, dass ich glaube, dass unserer guten alten Enterprise demnächst irgendwo im Andromedanebel der Photonenbeschleuniger kollabiert, dabei Decks 27-29 explodieren und wir manövrierunfähig auf einem gottverlassenen Planeten notlanden müssen.

Aber wir können ja zum Glück einfach umschalten. Auf den anderen Programmen läuft auch spannendes Zeug: Spar-Wars 7: Griechenland und die Troika oder wie ich zu meiner Blinddarm-OP mein Skalpell selber mitbringen musste, weil das Krankenhaus in Thessaloniki pleite war – geiler Streifen. Oder der hier: 2011 – Odyssee im Weltfinanzraum – oder wie die Bundesregierung mit Milliardenhilfen Pleitebanken rettete, die auf den internationalen Finanzmärkten irgendwie die Orientierung verloren hatten.

Nachdem mein politisches Engagement, meine Teilnahme an der Demonstration „Banken in die Schranken“ 2011, mein Kreuz bei Nein beim hessischen Referendum zur Schuldenbremse 2011, meine Teilnahme bei Blockupy 2012 und 2013, meine Arbeit bei attac und meine Hilfe beim Grünen-Wahlkampf 2013 irgendwie das Gefühl hinterließen, dass die Macht nicht mit mir ist, bleibt mir nur noch die Fernbedienung meines DVD-Players. Da entscheide ich noch selbst. Ich glaub, heute schau ich mir den neuen Sparminator an, Untertitel: „Billiger Strom jetzt – Braunkohleengel Gabriel gegen die verrückten Ökos.“

Deutschland als Führungsmacht – na dann gute Nacht!

Deutschland als Führungsmacht – na dann gute Nacht

Gustav Seibt suhlt sich heute in der SZ in der Teutonistan-Anbiederei von Angelo Bolaffi – Deutschland soll jetzt der erfolgreiche Kompromiss aus allen europäischen Extremen sein. Die Briten seien zu laissez-faire und die Franzosen zu „abstrakt“ (was immer damit gemeint sein soll), die Italiener zu korrupt und vermachtet und überhaupt biete sich ja nur der „konsensuale“ rheinische Kapitalismus als Modell für einen europäischen Sozialstaat an, verlässlich, ja, aber bitte nicht zu teuer.
Also mich hat über den hochgelobten „rheinischen Kapitalismus“ niemand befragt, sonst hätte ich denen schön was erzählt, ein System der Ausbeutung bekommt meine Stimme nicht, aber das gute Stück aus der rhetorischen Trickkiste von Adenauers CDU ist halt auch nie abgestimmt worden. Dass wir Deutschen keinen Generalstreik machen dürfen, ist so ein schönes Element dieses ach so konsensualen, sozialen und freiheitlichen deutschen Kapitalismusmodells, die Franzosen machen von ihrem Recht auf Generalstreik alle Naslang Gebrauch, wenn ihnen die Politik ihrer Regierung nicht passt, zuletzt 2009 gegen Sarkozys Sparpolitik. Aber weil wir ja so frei sind in Deutschland, sind wir halt bloß etwas überrascht, wenn Schröder seine Agenda 2010 durchboxt, und können ja auch bis zur nächsten Wahl dann mangels Generalstreikmöglichkeit nicht wirklich unsere Regierung zur Raison bringen.
Ich weiß nicht, welche Bücher Gustav Seibt so in seinem stillen Kämmerlein liest, aber wenn ich den Begriff Führungsmacht höre, dann muss ich kotzen, und wenn es schon aus mir unerfindlichen Gründen in Europa eine geben muss, dann bitte, bitte eine, in der die Bürger ihrer Regierung jederzeit zur Vernunft bringen können, wie in Frankreich, und nicht die BRD, die sich in ihrer vielgepriesenen Liberalität nicht zu schade ist, oppositionelle Parlamentarier auf einer gerichtlich genehmigten Demonstration in Frankfurt am Main in einem Polizeikessel ihrer Freiheit zu berauben und auch bei Vorzeigen des Parlamentarierausweises nicht aus dem Kessel zu lassen.

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass wir Europäer überhaupt keine Führungsmacht brauchen, weil wir in Europa Institutionen wie das europäische Parlament und den europäischen Gerichtshof haben, die schon Entscheidungen für Europa fällen. Die sollen gestärkt werden. Jede Nation dagegen, die sich als „Führungsmacht“ in Stellung bringt, verletzt den europäischen Gedanken und gehört ganz ordentlich zurechtgestutzt. Ich habe langsam den Eindruck, die Deutschen werden wegen ihrer aus allen Nähten platzenden Bankkonten gerade größenwahnsinnig und vergessen ihre gute Kinderstube. Ich habe eine Nachricht für uns: Nur weil einer mehr bezahlt als andere, darf er in einer Demokratie noch lange nicht für alle entscheiden.