Wie ich als Attac-Mitglied trotzdem für TTIP sein könnte

Ich bin jetzt seit langer Zeit gegen das TTIP („Transatlantic Trade and Investment Partnership“, „Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft“) aktiv. Ich habe die europäische Bürgerinitiative gegen TTIP und CETA unterschrieben. Ich habe in Fußgängerzonen mit den anderen Marburger Attac-Leuten im Rahmen der europäischen Bürgerinitiative gegen TTIP einige der über 2 Millionen Unterschriften gegen das TTIP eingeworben, die wir europaweit gesammelt haben. Ich habe an Anti-TTIP Flashmobs teilgenommen. Ich habe für die Anti-TTIP Demonstration am 10.10. in Berlin Geld gespendet, und ich habe Menschen über die Nachteile des Freihandelsabkommens informiert.

Dabei bin ich gar nicht per se gegen Freihandel. Ich finde Freihandel in bestimmten Grenzen und unter bestimmten Bedingungen okay. Nur nicht unter denen, die der EU-Kommission und Jean-Claude Juncker so vorschweben.

Meine Vorstellung von einem vernünftigen Freihandel zwischen Kanada, den USA und der EU sieht so aus: Der Freihandel muss so organisiert sein, dass die Demokratie und die Menschenrechte für alle Menschen gestärkt werden.

Dies ist meiner Meinung nach unter drei Bedingungen der Fall:

1. Das Abkommen darf kein „Living Agreement“ sein und es darf keinen regulatorischen Rat („Regulatory Coordination Council“) geben.

(Living Agreement heißt, dass die Parlamente nur einmal über das Abkommen abstimmen. Dabei stimmen sie dann einem Passus im Abkommen zu, der vorschreibt, dass ein Gremium geschaffen wird, das den Vertrag ohne Zustimmung der Parlamente „weiterentwickeln“ kann. In diesem Gremium, das regulatorischer Rat, Regulatory Coordination Council, heißt, sollen Wirtschaftslobbyisten sitzen.)

Es darf keine Entdemokratisierung durch Selbstentmachtung der Parlamente beiderseits des Atlantik geben.

2. Die internationalen Schiedsgerichte, die über Verstöße gegen das TTIP urteilen, müssen ordentliche Handelsgerichtshöfe mit demokratischer Legitimation sein.

(Im Moment sind die internationalen Schiedsgerichte, die es im Rahmen anderer Freihandelsabkommen schon gibt, zusammengesetzt aus drei Anwälten für internationales Handelsrecht, einer vertritt den Kläger, zum Beispiel einen Konzern oder Investor, einer den beklagten Staat und die beiden wählen einen dritten Anwalt aus, der dadurch Richter wird. In diesem lukrativen Rahmen können private Kläger Staaten auf Milliarden Schadensersatz verklagen, wenn diese ihre Gesetze ändern, wie zum Beispiel beim deutschen Atomausstieg, wegen dem Vattenfall gerade die BRD auf mehrere Milliarden Euro Schadensersatz verklagt hat.)

Weil internationale Handelsgerichtshöfe die Handlungsfähigkeit der Demokratie durch finanziellen Druck massiv einschränken können, müssen diese Gerichtshöfe demokratisch kontrolliert sein. Das bedeutet: Die Richterinnen und Richter müssen einen Senat mit mindestens 15 Personen bilden, und sie müssen im Fall des TTIP vom Europäischen Parlament, vom  Rat der Europäischen Union, vom Europäischen Rat und vom amerikanischen Kongress und Senat eingesetzt und von den beteiligten Staaten auch bezahlt werden. So ist eine unabhängige Justiz im Sinne der Bürgerinnen und Bürger möglich. In Anbetracht der Milliardenbeträge, um die es bei den Klagen geht, sind die Ausgaben dafür zu verschmerzen.

Außerdem muss es vertraglich geregelte Verfahren und Revisionsmöglichkeiten geben, also auch mehrere Instanzen. Das sind rechtsstaatliche Grundstandards.

Nachdem ich den Modell-Investitionsschutzvertrag von Markus Krajewsky gelesen habe, bin ich zudem der Meinung, dass Konzerne oder andere Investoren, die Staaten verklagen, zuerst vor nationalen Gerichten klagen müssen, und erst in späteren Berufungsverfahren letztendlich dann vor dem internationalen Handelsgerichtshof klagen dürfen. Ich kann nicht ganz einsehen, warum ich als Bürger den ganzen Instanzenweg beschreiten muss, bis ich vor dem Europäischen Gerichtshof klagen darf, Konzernen und Investoren aber diese juristische Ochsentour erspart bleiben soll.

3. Es darf keine Absenkung von Standards geben, die den Menschen dienen, etwa im Arbeitsrecht und der Wirtschaftsdemokratie, beim Verbraucherschutz, bei den Sozial- und Umweltstandards und den Regeln für den Finanzsektor. Und zwar weder in den USA, noch in der EU, noch in Kanada.

So. Ich bin bereit, eine Partei zu wählen, die unter genau diesen Bedingungen für das TTIP eintritt. Und zwar, obwohl ich attac-Mitglied bin. Ich fürchte nur, die Responsivität der EU-Regierung und der Regierung Deutschlands ist so defizitär, dass sie  auf einen vernünftigen Kompromissvorschlag nicht eingehen werden, einfach, weil die Lobby für das TTIP so mächtig ist. Damit will ich sagen: Die Regierungen hören im Bezug auf ihre neoliberale Deregulationspolitik den Menschen nicht zu und sie handeln in diesem Kontext auch nicht im Interesse der Zivilgesellschaft. Schade, Scheiße, um mit Fanny Van Dannen zu sprechen.

Freiheit als trojanisches Pferd, Pränataldiagnostik und ideale Menschen

Manche neue Freiheiten werden als trojanische Pferde missbraucht. Das habe ich aus Axel Honneths Überlegungen in seinem Aufsatz „Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Individualisierung“ in „Das Ich im Wir“ von 2010 gelernt. Honneth  wundert sich, dass die Neuen Sozialen Bewegungen in den 60er und 70er zwar mehr Freiheiten erkämpft haben, weil viele Menschen der Generation meiner Eltern sich damals selbst verwirklichen und nicht mehr nur dem Staat, der Wirtschaft, der Familie und/oder der Kirche dienen wollten.

Aber obwohl im Arbeitsleben von Firmen und vom Staat anscheinend viele Angebote für Selbstverwirklichung gemacht werden, wenn Leute zum Beispiel in einem Konzern Projektstellen bekommen, in denen sie selbstbestimmt und kreativ arbeiten können, oder wenn der Staat  „Ich-AGs“ fördert, also Kleinstunternehmen, in denen die frischgebackenen Selbständigen dann scheinbar ganz frei arbeiten können, haben sich die Hoffnungen der generation meiner Eltern auf mehr Freiheit nicht wirklich erfüllt. Warum nicht?

Honneth antwortet: Weil die Firmen die normativen Intentionen der Arbeitenden nur scheinbar erfüllen, und statt den Leuten mehr Freiheit zu bieten, bekommen sie sogar noch schwierigere Forderungen gestellt als die Generation ihrer Eltern: Jetzt müssen sie nämlich sich selbstverwirklichen, müssen kreativ und selbständig arbeiten und kriegen halt auch keinen unkündbaren nine-to-five-job mit klaren Vorgaben und Hierarchien mehr, sondern stattdessen eine befristete Projektstelle, in der sie vollkommen frei und kreativ den Profit des Konzerns exponentiell steigern sollen, um dann in zwei Jahren wieder „freigesetzt“ zu werden (also um wieder arbeitslos zu sein).

Die Paradoxie besteht also darin, dass die Freiheit, die sich die Leute wünschen, ihnen jetzt komischerweise als Vorgabe entgegenkommt, die sie erfüllen müssen.

Das ist ein trojanisches Pferd. Die Gesellschaft agiert nach dem Motto: „Du bekommst diese und jene Freiheiten, wenn Du dafür diese und jene Bedingungen akzeptierst und schön funktionierst im Rahmen dessen, was vorgegeben wird.“ Trojanische Pferde sind, wie wir seit Homer wissen, in Kämpfen sehr wirksame Mittel, um Leute zu besiegen. Und die  68er sind aus meiner Sicht unter anderem durch diese Technik besiegt worden. Sie wollten eine freie Gesellschaft und auf dem Marsch durch die Institutionen haben sie sich Jahr für Jahr mit Beamtenstellen, höheren Jahresgehältern, mehr Mitbestimmungsrechten in Gremien, Ehrungen für Lebenswerke und politischen Kompromissen einfangen lassen, bis von ihren Idealen nicht mehr viel übrig war außer einem seltsamen Unwohlsein, dass irgendwe das Leben begleitet und nicht weggeht.

Leider sind Strategien trojanischer Pferde im Kampf gegen eine freiere Gesellschaft sehr verbreitet. Ein weiteres Beispiel hat mir eine gute Freundin von mir jetzt beschrieben: Als sie schwanger wurde, war sie bei Ihrer Frauenärztin und die hat ihr erstmal alle möglichen Verfahren der Pränataldiagnostik aufgezählt und was die kosten, und dann sehr verständnislos geschaut, als meine Freundin sagte, sie wolle diese Untersuchungen nicht machen und die meisten Behinderungen entstünden sowieso während oder nach der Geburt.

Der Kampf all der Frauen und Männer für die Abschaffung des Abtreibungsverbots in Paragraph 218 war lange und mühsam. Dass Frauen heute das Recht haben, eine ungewollte Schwangerschaft unter bestimmten Bedingungen abzubrechen, musste gegen massive Widerstände erkämpft werden.

Anscheinend wird diese seit 1974 bestehende neue Freiheit jetzt gerade zu einem trojanischen Pferd gemacht: Dass Ärztinnen und Ärzte heute Frauen suggerieren, sie handelten verantwortungslos, wenn sie keine Pränataldiagnostik machen, um dann ein wahrscheinlich behindertes Kind eben abtreiben zu können, folgt einer Logik des Zwangs und der Kontrolle. Dahinter steckt ein Wunsch nach „normalen“ Kindern: Kindern, die viel und schnell lernen, im Haushalt helfen, sozial kompetent und selbständig sind, nie schwierig sind und keine Probleme machen… also wenn ich so recht darüber nachdenke, eigentlich ein Wunsch nach idealen Kindern. Ich weiß nicht, wie es bei Dir ist, aber ich persönlich empfinde es allerdings als schrecklich, wenn ich merke, von mir wird erwartet, dass ich jetzt einem Ideal entspreche (zum Beispiel in der Lehrerausbildung war das dauernd so).

Also scheint es so zu sein, dass die Freiheit dazu, sich gegen ein Kind und für eine Abtreibung entscheiden zu können, jetzt wie ein trojanisches Pferd die soziale Vorgabe mittransportiert, möglichst ideale Kinder zu erzeugen. Dabei wird aus irgendeinem Grund die zentrale Frage gar nicht gestellt: Was ist denn ein „idealer Mensch“? Gibt es das überhaupt? Und wenn ja, wer entscheidet , welche Eigenschaften „ideal“ sind? Und welche nicht? Und werden die Eigenschaften, die wir heute für ideal halten, auch von den Menschen im Jahr 2100 für ideal gehalten werden, oder ganz andere Eigenschaften? Vielleicht wird es im Jahr 2100 viel wichtiger sein, ein humorvoller Mensch zu sein, als ein intelligenter Mensch zu sein. Da werden sich die ganzen hochintelligenten, aber total verbissen leistungsorientierten Menschen schön ärgern, die manche Leute jetzt mit aller Kraft heranzuzüchten versuchen. Und wäre eine Gesellschaft von lauter idealen Menschen, sollten die Medizin und die anderen Technologien sie jemals herstellen können, überhaupt ein schöner Ort zum Leben? Ich bezweifle es stark.

Was heißt eigentlich „Dispositiv“?

Man kann sich ja streiten, ob die Wissenschaft wirklich so viele schwer verständliche Begriffe braucht, die es Menschen ohne Universitätserfahrung oft unmöglich machen, mitzureden. Aber ich habe in der Uni einige Begriffe gelernt, die wirklich nützlich sind, weil sie mir helfen, Erfahrungen zu verstehen, die sonst total rätselhaft bleiben würden.

Der Begriff „Dispositiv“ erklärt zum Beispiel wunderbar, warum ich manchmal Sachen mache, obwohl ich die überhaupt nicht machen will. Zum Beispiel kam neulich eine Mail über den Emailverteiler von meinem Verein „Asylbegleitung Mittelhessen e.v.“, dass dringend Leute gesucht werden, die einen Fahrdienst übernehmen. Nun hab ich eigentlich Ferien und tausend Projekte, für die ich nur jetzt Zeit habe. Und trotzdem hab ich mich auf die Mail hin gemeldet und einen Fahrdienst übernommen. Warum? Ich könnte jetzt behaupten, weil ich so ein guter Mensch bin und gerne anderen helfe. Aber das ist höchstens ein Viertel der Wahrheit. Ein weiteres Viertel ist: Ich stehe auf Anerkennung, und wenn ich mich in meiner Freizeit für Geflohene engagiere, bekomme ich Anerkennung von meinem sozialen Umfeld. Bleiben noch 50 % unerklärt.

Diese 50% kann ich mit dem Begriff „Dispositiv“ erklären. Ich habe den Begriff in einem Seminar von Jens Wissel über die Arbeiten von Nicos Poulantzas gelernt. Dispositive bringen mich dazu, mich auf eine bestimmte Weise zu verhalten. Genauer gesagt erhöhen sie die Wahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Verhalten. Wie sie das tun, kann man an dem Beispiel „Asylbegleitung“ analysieren: Erstmal ist das nur ein Wort. Aber dieses Wort ruft sofort Assoziationen hervor, die durch Diskurse vorgeprägt sind: Ich denke an das Asylrecht, an den Schutz von politisch Verfolgten, an Menschen, die Hilfe brauchen und an die verdammten Nazis, die gegen Asylsuchende kämpfen und sie zum Teil sogar umbringen. Aus diesem Wissen entsteht eine Handlungsregel: Hilf Verfolgten! Das ist dann in dem Wort „Begleitung“ genauer ausgedrückt. Nun ist dieser Begriff aber nicht nur ein Begriff, sondern auch der Name von unserem Verein. Und der Verein hat eine Satzung und eine Mailingliste,es gelten dort bestimmte Regeln des sozialen Umgangs und des Sprechens und es gibt Aufgaben im Sinne der Vereinsziele. Der Verein ist eine Institution, eine „durch Normen geregelte soziale Beziehung“ (Max Weber). Der Begriff „Asylbegleitung“ ist mit dieser Institution verknüpft und mit ihren Regeln, sowie mit deren Mailingliste und deren materiellen Ressourcen und Gegenständen (den Computern und dem Raum, in dem wir uns zweimal im Monat treffen), und mit bestimmten moralischen Überzeugungen (Hilf Verfolgten! Baue eine weltoffene Gesellschaft auf!) und vor allem mit einer gemeinsamen Form von Praxis (Diskussionen bei den Vereinstreffen, Sprachkursen, Fahrradwerkstatt mit den Geflohenen usw.). Den Zusammenhang von alldiesen Begriffen, Erzählungen, moralischen Einstellungen, Regeln, materiellen Gegenständen, Praxisformen, Diskussionen und Erwartungen begreife ich als das Dispositiv „Asylbegleitung“: Dieser Zusammenhang macht es wahrscheinlicher, dass ich, statt meine Projekte zu vollenden, den Fahrdienst übernehme. Es ist nicht so, dass mich das Dispositiv zwingt, das zu tun: Ich könnte mich auch anders entscheiden. Aber es würde mich Kraft kosten, gegen das Dispositiv zu entscheiden. Und ich versuche in der Regel, unnötige Anstrengung zu vermeiden. Also: Fahrdienst.

Diejenigen, die den Begriff „Dispositiv“ von Michel Foucault kennen, werden sich schon eine Weile wundern, warum ich ausgerechnet das Beispiel „Asylbegleitung“ ausgesucht habe. Denn „Dispositiv“ wird in der Tradition von Foucault vor allem verwendet, um Formen von Unterdrückung und Herrschaft zu benennen. Dispositive werden als Machtinstrumente gesehen und daher abgelehnt, weil sie die Freiheit von Menschen stark einschränken, aus der Perspektive von manchen Leuten sogar abschaffen.

Ich habe das Beipiel ausgesucht, weil ich zeigen will, dass Dispositive zwar immer Machtinstrumente sind, diese Machtinstrumente aber von Gruppen von Personen geschaffen und verwendet werden können, um etwas sinnvolles zu erreichen. Macht ist hier im Sinne Hannah Arendts etwas, das Gruppen von Menschen durch Absprachen und gemeinsame Praxis erzeugen. Ohne das Dispositiv „Asylbegleitung“ gäbe es zwar diesen Haufen Leute in Mittelhessen, die irgendwie Asylsuchenden helfen wollen, aber unsere Handlungen wären viel wirkungsloser, unorganisierter und ineffektiver. Weil wir gemeinsam dieses Dispositiv „Asylbegleitung“ erzeugen, können wir viel mehr erreichen. Jetzt könnte man sagen: Schrecklich! Nur durch Unterwerfung kann man viel erreichen. Ich kann aber die Art, wie unser Dispositiv aufgebaut ist und wie es wirkt, mitbestimmen. Deshalb ist es tendenziell sogar emanzipativ: Es schafft Freiräume.

In der Taz war heute ein Artikel von Georg Seeßlen, in dem Giorgio Agamben zitiert wird, demzufolge wir mit so mächtigen Dispositiven lebten, dass es keine Demokratie mit freier Mitbestimmung mehr sei, sondern „Postdemokratie“. Als Beispiel hat der Taz-Autor das Dispositiv „Deutschsein“ angeführt. Weil es dieses Dispositiv gebe, zwinge Schäuble die Griechen zum Sparen und pöbelten die Rassisten vor den Unterkünften von Geflohenen. (Georg Seeßlen: „Das deutsche Dispositiv“, In: Taz vom 27.8. 2015, S. 12.).

Ich stimme dem soweit zu, dass „Deutschsein“ ein mächtiges Dispositiv ist, das es wahrscheinlicher macht, dass Leute sich auf eine falsche Weise verhalten, nämlich nationalistisch. Aber ich lehne die Meinung ab, das alle Dispositive böse sind. Unser Dispositiv „Asylbegleitung“ ist ein selbstgeschaffenes Instrument, mit dem wir rassistische Dispositive effektiver bekämpfen können als ohne so ein Instrument. Solange unsere Diskussion und unsere Entscheidungsprozesse im Verein gleichberechtigt und frei sind, ist das Instrument gut.

Wenn viele Menschen solche Formen von Dispositiven entwickeln, dann bannt das die Gefahr einer Postdemokratie. Letztendlich ist auch die parlamentarische Demokratie, wenn genügend Menschen sie aktiv mitgestalten, ein solches freiheitliches Dispositiv.

Ich werbe sehr dafür, die parlamentarische Demokratie als ein umkämpftes Dispositiv zu sehen, dem die Linke nicht den Rücken zukehren sollte, weil sowieso alles „Postdemokratie“ sei und die Menschen nichts mehr zu sagen hätten. Es gibt leider Prozesse, die in diese Richtung laufen, wenn zum Beispiel über 2 Millionen Europäer*innen gegen TTIP unterschreiben, die Bundesregierung und die EU-Kommission das Freihandelsabkommen aber weiter durchsetzen wollen. Die Entmachtung der Parlamente wäre eine Folge dieses Abkommens, weil statt der Parlamente dann im Rahmen des „Living Agreements“ TTIP ein transatlantsicher Regulationsrat mit Lobbyisten wichtige politische Entscheidungen treffen würde. Poulantzas nennt so eine postdemokratische Form der Entscheidungsfindung dann „Autoritären Etatismus“ (und zwar schon in den 70er Jahren).

Aber die Parlamente sind noch nicht entmachtet und nicht alle deutschen Staatsbürger*innen sind überzeugt, dass „Deutschsein“ jetzt das wichtigste Dispositiv von allen ist. Manche Dispositive sind zu bekämpfen (wie „Deutschsein“ als Name für deutschen Nationalismus), manche sind zu erkämpfen (wie die parlamentarische Demokratie) und manche sind Instrumente im Kampf für ein besseres Leben für alle (wie Asylbegleitung).

Wir treffen uns um 6 Uhr nach der Revolution!

Es gibt ja diesen US-amerikanischen Marxisten David Harvey, der so eine Art Popstar der Linken geworden ist. Ich habe neulich auf Youtube ein Interview mit ihm gesehen, in dem er gefragt wurde, wer denn nun eigentlich zum Proletariat gehöre, das die Revolution machen wird. Und diese Frage ist nicht ganz trivial, weil zum Beispiel ich ja Lehrer bin, und also klassischerweise eigentlich zur Bourgeoisie gehören müsste, aber ich verdiene vielleicht ein Drittel von dem, was ein Facharbeiter bei VW verdient. Mein Vater hat mir außerdem erzählt, dass die bei VW dieses Jahr 8000 Euro Weihnachtsgeld bekommen, und das ist mehr, als ich in den nächsten 8 Jahren werde sparen können.

Also jetzt die Preisfrage: Bin ich jetzt Bourgeois oder der VW-Facharbeiter? Oder sind wir beide Proletarier? Oder was? Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung. Und David Harvey offensichtlich auch nicht, weil er auf die Frage sehr weitschweifig nicht geantwortet hat. Und der Blick in das kommunistische Manifest hilft da auch nicht viel weiter, weil Marx und Engels da nur schreiben: Proletarier sind Leute, die kein Eigentum an Produktionsmitteln haben, und deshalb gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen.

Nun habe ich eine relativ gut ausgestattete Geigenbauerwerkstatt zusammengekauft, als ich in der Lehre war, und mit einigen wenigen Neuanschaffungen könnte ich mich selbständig machen und wäre dann – Unternehmer. Vermutlich würde ich im Monat so knapp das Existenzminimum verdienen, aber welcher Klasse würde ich dann angehören? Ich habe mich stattdessen entschieden, meine Arbeitskraft an das Land Hessen zu verkaufen, und jetzt weiß ich nicht, ob ich Proletarier bin oder nicht.

Aber die Frage, wer eigentlich Proletarier ist und wer nicht, ist ziemlich entscheidend für die marxistische Linke, weil das Proletariat ja die Revolution machen soll und die Produktionsmittel vergesellschaften soll, wodurch dann die Klassen verschwinden, weil es keinen Privatbesitz an Produktionsmitteln mehr gibt und die klassenlose Gesellschaft anbricht. Wenn ich mir aber jetzt vorstelle, dass die VW-Facharbeiter meine Geigenbauerwerkzeuge verstaatlichen, dann verdrillert sich mein Gehirn, weil ich mir die Revolution irgendwie anders vorgestellt habe.

Ich stelle mir die Revolution nicht so wie ein Armaggeddon vor, so einen Endzeitkampf der guten gegen die böse Klasse, Proletarier gegen Bourgeoisie, sondern eher wie ein ziemliches Chaos, wo keiner so genau weiß, wo er hin soll, und alle wuseln so vor sich hin und langsam fangen dann immer mehr Leute an, still und leise von der Fahne des Kapitalismus zu desertieren – das kann damit anfangen, dass Du keine Kleidung aus Sweatshops in Bangladesch mehr kaufst, sondern nur noch fair produzierte, oder Du gründest einen kleinen Kollektivladen, oder ein Hausprojekt, oder Du gehst mal ein Jahr nach Uruguay, statt an deiner Karriere zu feilen, oder Du spendest deine 8000 Euro Weihnachtsgeld an Ärzte ohne Grenzen. Bringt dem Kapitalverwertungsprozess alles nichts und ist deshalb ein klitzekleines Puzzleteil in dem, was dann in den Geschichtsbüchern der 2100er Jahre als Revolutionsgeschichte erzählt werden wird.

Also: Wir treffen uns um 6 Uhr nach der Revolution! Vergiss nicht, Dein Geschichtsbuch mitzubringen, und vergiss nicht Deine Geschichten.

Ökologismus, Anarchismus und die hessischen Grünen

Gestern ging ich die Straße entlang, in der ich wohne, und fragte mich, warum ich eigentlich keine Ideologie mehr habe. Früher hatte ich mal eine, dachte ich, wo ist die hingekommen? Und was war es noch gleich für eine? Ich spürte schmerzlich, dass diese spezielle Form des modernen Glaubens eine Stütze für mich gewesen war, meine Entscheidungen zu treffen: Diese jetzt abhanden gekommene Glaubensvorstellung hatte mir doch in vielen Situationen geholfen, Gründe zu finden, warum ich wie handeln sollte und das, was ich getan hatte, auch vor anderen zu rechtfertigen.

Und jetzt war sie anscheinend weg. Ich fing an, einige Momente lang angestrengt nachzudenken. Was war es noch gewesen, an das ich geglaubt hatte? War es was religiöses? Ich erinnerte mich dunkel an eine Phase pantheistischer Vorstellungen davon, dass irgendwelche geheimnisvollen Kräften in allen Lebewesen und in der Welt wirkten. Da war ich 18. Aber das konnte es nicht gewesen sein, weil ich in der Zeit eher orientierungslos war und der Vorteil von meiner Ideologie musste es doch gewesen sein, dass sie mir genau sagte, wo es lang zu gehen hat.

Dann erinnerte ich mich, dass ich ja vor der pantheistischen Phase Anarchist gewesen war. Ich hatte ein Buch über Anarchismus gelesen (von Daniel Guérin, Suhrkamp), und ich hatte eine schwarze Fahne genäht, die ich immer aus dem Fenster hing, wenn meine Eltern in Urlaub fuhren und meine Geschwister und ich das Haus für uns hatten.

Ich hörte dann aber irgendwann vorläufig auf, an den Anarchismus zu denken. War ich ideologielos geworden? Das würde erklären, warum mir große Teile der darauffolgenden Lebensjahre im Rückblick betrachtet so vorkommen, als sei ich einfach so dahingedriftet, ohne richtig zu wissen, wohin.

Ich dachte noch einen Moment länger nach (ich habe im Philosophiestudium gelernt, dass man nicht zu früh mit Nachdenken aufhören sollte) und da fiel mir folgendes Wort ein: „Ökologismus“. Da hatte ich nun dieses Gefühl gelinden Erschreckens, das mich oft ergreift, wenn ich eine Wahrheit erkannt habe, die nicht nur angenehm ist. Klar: Ich hatte ja mit 15 die Jungen Grünen Kreuztal mitgegründet und war lange Jahre dort mehr oder weniger aktiv.Und offensichtlich hatte ich dort eine Ideologie vermittelt bekommen, die ich nur nicht so klar als Ideologie erkannt habe: Ökologismus.

Ökologismus verhält sich zum Ökologischen wie der Sozialismus zum Sozialen: Menschen sind soziale Wesen, das ist ein spätestens seit der griechischen Antike bekannter Fakt, und selbst die konservativen und die reaktionären Gegner*innen der Sozialist*innen würden das nie bestreiten, aber die sozialistische Ideologie beschreibt diesen Fakt nicht nur, sondern leitet daraus die Notwendigkeit ab, eine solidarische und gerechte Gesellschaft zu schaffen, in der es keine Klassen von Menschen mehr gibt, keine Spaltung zwischen Besitzlosen und Besitzenden, Mächtigen und Ohnmächtigen.

Genau diese Doppeldeutigkeit, ein unbestreitbares Faktum zu beschreiben, und gleichzeitig daraus  abzuleiten, dass wir auf eine ganz bestimmte Weise handeln müssen, ist auch charakteristisch für den Ökologismus. Der Fakt ist: Menschen sind Lebewesen, die nur in einer lebendigen und intakten natürlichen Umgebung als Art überlebensfähig sind. Daraus leitet aber der Ökologismus die Forderung ab, dass wir diese natürliche Umgebung schützen und erhalten müssen. Laut der ökologistischen Ideologie muss das das oberste Prinzip unseres Handelns und wichtiger als alle anderen Leitideen sein (zum Beispiel des Sozialismus, des Liberalismus, des Konservatismus und so weiter).

Und genau wie beim Sozialismus kann man dem scheinbar nicht so richtig widersprechen: Wer will schon bestreiten, dass Menschen Luft atmen, sich ernähren und vor Überschwemmungen und Dürren geschützt werden müssen, wenn sie überleben wollen?

Was aber nicht so ganz koscher am Ökologismus ist, ist dasselbe wie bei allen anderen Ideologien: Dass Ökologist*innen so reden und handeln, als hätten sie im Gegensatz zu den Anhänger*innen anderer Glaubensrichtungen als Einzige die Einsicht, was das oberste Orientierungsprinzip im Politischen sein muss.

Damit das funktioniert und möglichst viele Menschen das glauben (was ziemlich hilft, wenn man an die Macht will), muss der Ökologismus aber verschleiern, dass er auch bloß ein Glaube unter vielen ist, und sein Prinzip deshalb auch nur eins unter vielen. Das funktioniert so, dass Ökologist*innen so tun und reden, als könnten sie von außen auf die Welt schauen und würden sie, im Gegensatz zu den Konservativen oder Sozialist*innen, als einzige total verstehen. Weil sie eben von außen auf sie schauen und so erkennen können, was die Welt zusammenhält. Und nur wer das Ganze begreifen kann, hat auch natürlich die Ahnung, was alle tun müssen, damit wir gut leben können.

So. Da hatte ich es also: Ich war lange Jahre meines Lebens Anhänger einer Ideologie gewesen, die ich gar nicht als solche erkannt hatte, unter anderem, weil ich das Wort Ökologismus noch nicht kannte. Das war der Grund, warum ich so ein bisschen erschrak, als mir das Wort einfiel: Ich erschrak über meine eigene Blindheit.

Heute bin ich Ökologist, wie ich Anarchist bin: So teilweise. Ich finde es gut, die Umwelt zu schützen und fahre deswegen Fahrrad und Bahn statt Auto, und kaufe Öko-Produkte ein, wo immer ich kann. Aber ich habe nicht mehr das Gefühl, auf einer Mission zu sein und alle Leute davon überzeugen zu müssen, dass das oberste Prinzip unseres Lebens der Schutz der ökologischen Systeme sein muss. Ich glaube nämlich, dass hinter diesem missionarischen Motiv ein als Fürsorge verkleideter Machtwille steckt. Weshalb ich auch ehrlich gesagt von meiner Freundin Angela Dorn sehr enttäuscht war, als sie auf der Landesmitgliederversammlung der hessischen Grünen letztes Jahr die schwarz-grüne Koalition damit gerechtfertigt hat, dass wir durch den Koalitionsvertrag jetzt sicher sein könnten, auch in Jahrzehnten noch unter denselben Bäumen spazieren gehen zu können. Dass wir dank der hessischen CDU auch in Jahrzehnten noch Beton und Lärm der neuen Startbahnen des Fraport ertragen müssen, kam in ihrer Rede nicht so vor. Das war für mich umso schlimmer, als ich ja vor der Landtagswahl 2014 noch als Komparse in einem Wahlwerbevideo für Angela Dorn mitgespielt habe. Wir liefen da unter hessischen Bäumen entlang.

Ist jetzt halt doof gelaufen in Hessen, könnte aber schlimmer sein, wenn die CDU die absolute Mehrheit bekommen hätte, zum Beispiel. Aber mein Ökologismus hat mich, statt mich vernünftig zu orientieren, in eine Falle gelockt, in der meine Emotionen, meine sozialen Beziehungen und meine Ziele von der hessischen CDU  für Machtzwecke benutzt werden konnten. Dadurch bin ich jetzt doch wieder mehr Anarchist geworden: Ich habe wieder ein tiefes Misstrauen gegen Mächtige, Machtwillen und Machtverhältnisse.

Europa links vom Sparwahn

Endlich: Griechen wehren sich gegen das Spardiktat aus Berlin, Brüssel, London und New York. Ein kosmopolitischer Ökonom gibt seinen Lehrstuhl in den USA auf, um als Finanzminister für Griechenland die Kartoffeln aus dem Feuer zu holen. Danke, Varoufakis.

Regierungschef Alexis Tsipras stoppt die Privatisierung des Hafens von Piräus und der Eisenbahngesellschaft. Der Ausverkauf Griechenlands hat einige Opfer weniger.

Die neue Regierung will einen Schuldenreduktionsplan durchsetzen: Länger Zeit für die Rückzahlung, geringere Zinsen, Abzahlung je nach Wirtschaftswachstum. Das ist Politik mit Augenmaß.

Die Populisten um Wolfgang Schäuble von der CDU beschimpfen Tsipras und Varoufakis dafür jetzt, na, wie? Als Populisten. Dabei haben Schäuble und Konsorten den deutschen Wähler*innen jahrelang erzählt, die Griechen würden unser Geld klauen. In Wirklichkeit haben das Geld die ganzen Reichen geklaut, die es in die Steueroase Luxemburg verschoben haben, während der jetzige konservative EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker dort Regierungschef war und seine Arbeitszeit größtenteils mit dem Stricken von Steuerschlupflöchern verbracht hat.

Vielen Dank an die europäische Konservative unter der Führung von Juncker, Merkel und Cameron: Sie betreiben den Ausverkauf der europäischen Demokratien.

Ich bin erst zufrieden, wenn die deutsche Bundesregierung sich entschließt, den Griechen endlich Wiedergutmachung für die Schäden von Nazikrieg und Nazibesetzung zu zahlen. Wenn Deutschland im Rahmen des Rettungsfonds hier Nettozahler würde, wäre das nur gerecht.

Wenn Tsipras jetzt noch dafür sorgt, dass die reichen Griechen auch endlich ihre Steuern bezahlen, bin ich überzeugt, dass die Griechen zurecht Syriza gewählt haben. Es sei denn, die Rechtspopulisten in der griechischen Koalition machen den Migrant*innen das Leben noch schwerer, als es das Dublin II Abkommen eh schon macht. Aufgrund dieses Abkommens nämlich landen die fliehenden Syrer*innen massenweise im bettelarmen Griechenland und kaum im reichen Deutschland.

Probleme – in die Peripherie abschieben, nach Spanien und Griechenland. Gewinne: Ins Zentrum verschieben, nach Deutschland. Und dann noch die Ohnmächtigen als Schuldige darstellen. Das ist die Politik der konservativen Populisten. Pfui.

Spar-Trek: Machtlos im Weltfinanzraum

Ich war diese Woche bei einer Vorführung des Films „Master of the Universe“, in dem der Ex-Investmentbanker Rainer Voss von der Bankenwelt erzählt. Rainer Voss war auch da und hat unsere Fragen beantwortet. Es ist wohl so, dass der Banker-Job das Gefühl erzeugt, man sei Captn Jean-Luc Picard auf der Brücke des Raumschiffs Enterprise und sei allmächtig. Mir geht es da anders: Ich hab das Gefühl, wenn ich „Energie“ sage, passiert irgendwie leider gar nichts.

Zum Beispiel bin ich nach den Bürgerrechtsverletzungen durch die hessische Polizei letztes Jahr bei den Blockupy-Protesten in die Grünen eingetreten, um die CDU-Landesregierung zu stürzen, deren Innenminister Rhein den Polizei-Pfeffersprayeinsatz gegen friedliche Demonstrierende zu verantworten hat. Im Wahlkampf letztes Jahr hat dann meine Freundin Angela Dorn gemailt, ob ich vielleicht Zeit hätte, mit ihr für ein Portrait im HR durch die hessischen Wälder zu wandern, dabei gefilmt zu werden und damit sozusagen mein Gesicht für den Grünen-Wahlkampf herzugeben. Klar, mach ich, hab ich geantwortet – und bin nach sechs Stunden Unterricht geben in das Grünen-Wahlkampfauto gesprungen, wofür mich meine linken Freund*innen schon verachtet hätten, hätten sie es gesehen, und bin in Haina durch den Wald gelaufen und hab versucht, publikumswirksam zu lächeln, während so ein Kamerateam um uns rum lief.

Jetzt ist mein Plan irgendwie nicht so richtig aufgegangen – weil meine Freundin Angela und die anderen in der Grünenspitze sich überlegt haben, mit Bouffiers und Rheins CDU eine Koalition zu machen. Ihr Verständnis von „Hessen wechselt“ scheint zu sein, zwei Grüne zu Minister*innen zu machen und zu Sparzwecken 1800 Stellen zu streichen.

Das mit dem Sparen ist jetzt besonders witzig, weil Rainer Voss, der Ex-Banker, auf meine Frage nach seiner Meinung über die Finanzpolitik Deutschlands gesagt hat: Das Sparen sei totaler Quatsch, es gäbe so viele sinnvolle Investitionen, die nötig seien, zum Beispiel in Schulen und Unis, dafür solle der Staat ruhig Schulden aufnehmen, denn das bringe Rendite in der Zukunft. Das stimmt jetzt nicht so ganz, weil der Staat nicht wie ein Unternehmen funktioniert und die fertig ausgebildeten Schüler*innen nicht meistbietend an die Wirtschaft weiterverkaufen kann, aber Voss hat trotzdem Recht, weil ohne Bildung langfristig unsere Gesellschaft keine ZUkunft hat. Ich bin ja auch in die Grünen eingetreten, weil die so ehrlich waren, Steuererhöhungen zu fordern – damit kann man dann locker die nötigen Investitionen in Bildung und Forschung investieren, die uns fit für die Zukunft machen, habe ich gedacht. In unserer Schule haben wir über 1000 Schüler*innen – und zwei Computerräume mit insgesamt vielleicht 30 Rechnern. Wenn man bedenkt, dass heute eine der wichtigsten Kompetenzen ist, wo ich mir wie die wichtigen und verlässlichen Informationen zu einem Thema beschaffe, ist das eine ziemlich vertrackte Situation. Ich denke jetzt immer an meine Freundin Angela, wenn ich mich in das Buchungssystem meiner Schule einlogge und feststelle, dass ich mit meinen Schüler*innen wieder mal keine Internetrecherche machen kann, weil die Computerräume alle ausgebucht sind.

Mein philosophischer Freund Daniel arbeitet an der Marburger Uni. Da hat er es insofern schonmal besser, weil er ein Büro hat – während in unserer Schule an Büros für Lehrer*innen gar nicht zu denken ist, wir können froh sein, wenn wir im Lehrerzimmer sitzen können, weil es mehr als doppelt so viele Lehrer*innen wie Plätze gibt. Ein Umbau ist bei der Stadt Marburg beantragt. Ältere Kolleg*innen rechnen aber nicht damit, dass sie den Umbau noch erleben. Die Stadt Marburg spart Zinsen, indem sie die Genehmigung noch ein paar Jährchen hinauszögert.

Meine Situation hat sich durch die Solidarität einer Kolleg*in aber schon mächtig verbessert, weil sie mir jetzt die Hälfte eines Faches im Lehrerzimmer (40 mal 40 cm Grundfläche) überlassen hat, in dem ich wenigstens ein paar Bücher lagern kann. Danke, Hessen! Bildung rules.

Daniel hat in der Marburger Uni aber auch zu kämpfen: Am Institut für Philosophie gibts 3 Professor*innen für 900 Studierende. Alle Versuche, das hessische Ministerium zur Bereitstellung weiterer Mittel zu bewegen, scheiterten bisher.

So. Zurück zum Thema. Also während die Investmentbanker sich anscheinend fühlen, als seien sie Commander auf der Brücke von Raumschiff Enterprise, fühl ich mich eher wie ein Maschinist, der mit seinem Kumpel Daniel La Forge und vielen anderen die ganze Zeit versucht, den vollkommen überalterten Warp-Antrieb, der fast auseinanderfällt, durch ständiges Schrauben, Einbauen von minderwertigen Ersatzteilen und jeder Menge Fußtritte auf den Photonenbeschleuniger am Laufen zu halten. Jedes Mal, wenn so ein Banker „Energie“ sagt, droht der Warp-Antrieb vollends auseinander zu fliegen.

Zum Glück sitzen ja auf der Brücke außer den Banker-Commanders noch Captn Jean-Luc Bouffier und seine Nummer eins, Wirtschaftsminister Riker Al-Wazir. Sie sind die Hauptfiguren in unserer Lieblingsserie Spar-Trek. Sie wissen, wo’s langgeht. Und wenn sie sagen: „Energie“, dann heißt das auch Energie, scheißegal, wie lange der Warp-Antrieb nicht grundsaniert wurde. Das Problem ist: Ich als Maschinist muss leider sagen, dass ich glaube, dass unserer guten alten Enterprise demnächst irgendwo im Andromedanebel der Photonenbeschleuniger kollabiert, dabei Decks 27-29 explodieren und wir manövrierunfähig auf einem gottverlassenen Planeten notlanden müssen.

Aber wir können ja zum Glück einfach umschalten. Auf den anderen Programmen läuft auch spannendes Zeug: Spar-Wars 7: Griechenland und die Troika oder wie ich zu meiner Blinddarm-OP mein Skalpell selber mitbringen musste, weil das Krankenhaus in Thessaloniki pleite war – geiler Streifen. Oder der hier: 2011 – Odyssee im Weltfinanzraum – oder wie die Bundesregierung mit Milliardenhilfen Pleitebanken rettete, die auf den internationalen Finanzmärkten irgendwie die Orientierung verloren hatten.

Nachdem mein politisches Engagement, meine Teilnahme an der Demonstration „Banken in die Schranken“ 2011, mein Kreuz bei Nein beim hessischen Referendum zur Schuldenbremse 2011, meine Teilnahme bei Blockupy 2012 und 2013, meine Arbeit bei attac und meine Hilfe beim Grünen-Wahlkampf 2013 irgendwie das Gefühl hinterließen, dass die Macht nicht mit mir ist, bleibt mir nur noch die Fernbedienung meines DVD-Players. Da entscheide ich noch selbst. Ich glaub, heute schau ich mir den neuen Sparminator an, Untertitel: „Billiger Strom jetzt – Braunkohleengel Gabriel gegen die verrückten Ökos.“

Was heißt: „Den Kapitalismus abschaffen“?

Der Kapitalismus ist nicht eigentlich eine Wirtschaftsweise, sondern eine Gesellschaftsformation. Dieses ist er, insofern er eine Textur ist, die Entscheidungsrechte (also die Möglichkeit von Subjekten, sich in einem politischen Raum zu verorten) systematisch mit Profiten und Eigentum an Kapital (sowohl konstantem als auch Geldkapital) verknüpft.

Das Gewebe, das dadurch entsteht, ist zweidimensional, weil die eine Dimension durch den Staat, Staatsapparate und Rechte von Individuen gebildet und die andere Dimension durch die Ökonomie des Kapitalismus und das Markthandeln in kapitalistischen Strukturen gebildet wird. Das Verwobensein beider Dimensionen kann man sich anhand von Eigentumsrechten klarmachen. Eigentumsrechte sind Teil der politischen Struktur, insofern der Staat sie schützt durch Gesetze und Polizei, und daraus die Legitimität des Erhebens von Steuern herleitet, um den Staatsapparat zu finanzieren.

Problematisch ist das Gewebe oder die Textur des Kapitalismus, weil es unseren Alltag fast komplett durchzieht: Es bildet eine topographische Ordnung, die unser Handeln leitet, meist ohne dass wir dies wahrnehmen. Beispiele sind: Der Eintritt bei Kulturveranstaltungen, das Verbot von Tauschhandel für Ladenbesitzer, die Hygienevorschriften für Restaurants, die Verknüpfung von Aufenthaltsrechten mit Eigentumstiteln und sozio-ökonomischem Status, die Dresscodes in Firmen etc.

Aber der Kapitalismus kann nie den ganzen mehrdimensionalen Raum einnehmen, der Gesellschaft ist, solange es Handlungen, Personen und Institutionen gibt, die sich in diesem mehrdimensionalen Raum befinden. Der Kapitalismus kann nur immer mehr Dimensionen einebnen, so dass er sie in sein Gewebe integriert, oder ihnen zumindest ihre Struktur in zwei von drei oder mehreren Dimensionen vorgeben.

Ein Beispiel ist die Familie. Die Familie hat als soziale Gruppe unter anderem die Dimensionen der Entscheidungsrechte (die in diesem Fall zwischen Eltern und minderjährigen Kindern asymmetrisch verteilt sind) und die Dimension der Ökonomie (Erbe, Taschengeld, Haushaltsgeld, Eheverträge), aber auch die Ebenen der Liebe, der Anerkennung, der Interessen (die sich nicht in ökonomischen und politischen erschöpfen, sondern auch ästhetische, thematische und andere Wünsche umfassen), Solidarität, Kultur, Leiblichkeit, natürliche Instinkte etc.

Der Kapitalismus ist eine Gesellschaftsformation, insofern er es vermag, alle diese Dimensionen durch seine zweidimensionale Gewebestruktur zu durchdringen, ihnen ihre Verhältnisse zueinander vorzustrukturieren oder in Konflikt- und Entscheidungssituationen die ausschlaggebende Ordnung darzustellen.

Den Kapitalismus abschaffen heißt erst einmal nicht viel mehr, als ihm diese Organisations-, Normalisierungs- und Normalitätsfunktionen zu entziehen. Kapitalismus abschaffen heißt daher vor allem eine ganze Reihe von Alltagshandlungen zu vollziehen, die die Mehrdimensionalität des sozialen und politischen Lebens erhält, zurückerobert oder neu schafft.

Deutschland als Führungsmacht – na dann gute Nacht!

Deutschland als Führungsmacht – na dann gute Nacht

Gustav Seibt suhlt sich heute in der SZ in der Teutonistan-Anbiederei von Angelo Bolaffi – Deutschland soll jetzt der erfolgreiche Kompromiss aus allen europäischen Extremen sein. Die Briten seien zu laissez-faire und die Franzosen zu „abstrakt“ (was immer damit gemeint sein soll), die Italiener zu korrupt und vermachtet und überhaupt biete sich ja nur der „konsensuale“ rheinische Kapitalismus als Modell für einen europäischen Sozialstaat an, verlässlich, ja, aber bitte nicht zu teuer.
Also mich hat über den hochgelobten „rheinischen Kapitalismus“ niemand befragt, sonst hätte ich denen schön was erzählt, ein System der Ausbeutung bekommt meine Stimme nicht, aber das gute Stück aus der rhetorischen Trickkiste von Adenauers CDU ist halt auch nie abgestimmt worden. Dass wir Deutschen keinen Generalstreik machen dürfen, ist so ein schönes Element dieses ach so konsensualen, sozialen und freiheitlichen deutschen Kapitalismusmodells, die Franzosen machen von ihrem Recht auf Generalstreik alle Naslang Gebrauch, wenn ihnen die Politik ihrer Regierung nicht passt, zuletzt 2009 gegen Sarkozys Sparpolitik. Aber weil wir ja so frei sind in Deutschland, sind wir halt bloß etwas überrascht, wenn Schröder seine Agenda 2010 durchboxt, und können ja auch bis zur nächsten Wahl dann mangels Generalstreikmöglichkeit nicht wirklich unsere Regierung zur Raison bringen.
Ich weiß nicht, welche Bücher Gustav Seibt so in seinem stillen Kämmerlein liest, aber wenn ich den Begriff Führungsmacht höre, dann muss ich kotzen, und wenn es schon aus mir unerfindlichen Gründen in Europa eine geben muss, dann bitte, bitte eine, in der die Bürger ihrer Regierung jederzeit zur Vernunft bringen können, wie in Frankreich, und nicht die BRD, die sich in ihrer vielgepriesenen Liberalität nicht zu schade ist, oppositionelle Parlamentarier auf einer gerichtlich genehmigten Demonstration in Frankfurt am Main in einem Polizeikessel ihrer Freiheit zu berauben und auch bei Vorzeigen des Parlamentarierausweises nicht aus dem Kessel zu lassen.

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass wir Europäer überhaupt keine Führungsmacht brauchen, weil wir in Europa Institutionen wie das europäische Parlament und den europäischen Gerichtshof haben, die schon Entscheidungen für Europa fällen. Die sollen gestärkt werden. Jede Nation dagegen, die sich als „Führungsmacht“ in Stellung bringt, verletzt den europäischen Gedanken und gehört ganz ordentlich zurechtgestutzt. Ich habe langsam den Eindruck, die Deutschen werden wegen ihrer aus allen Nähten platzenden Bankkonten gerade größenwahnsinnig und vergessen ihre gute Kinderstube. Ich habe eine Nachricht für uns: Nur weil einer mehr bezahlt als andere, darf er in einer Demokratie noch lange nicht für alle entscheiden.