Sekundäre Heteronomie

Judith Butler schreibt in „Die Macht der Gewaltlosigkeit“, dass Menschen immer zuerst aufeinander angewiesen sind, bevor sie ein wenig Autonomie entwickeln können, die aber immer partiell und brüchig bleibt. Ich finde ihre Analyse des „Phantasmas“ des autonomen Subjekts, eines aus der Geschichte und den Beziehungen gefallenen Robinsons ohne Bindungen, sehr treffend. Allerdings bleibt für mich das Angewiesensein aufeinander ein Skandal: Wie ungerecht, als Säugling in eine Welt geworfen zu werden, in der ich ohne die Hilfe und Zuneigung anderer Menschen nicht überleben kann. Was kann unter diesen Umständen realistischerweise Freiheit heißen? Und wieso stanzt die Gesellschaft diese Freiheitsideale in mich ein, die Butler jetzt als Phantasmen enthüllt, wenn sie gar nicht wirklich erreichbar sind?

Heute beim Yoga, das ich jeden Morgen gegen meine Bandscheibenvorfälle mache, kam mir ein Gedanke, den Du vielleicht auch interessant findest: „Sekundäre Heteronomie“. Schon die primäre Heteronomie als Säugling ist ein Skandal, wie Butler ausführt: Sie ist der Grund, aus dem wir in Liebesbeziehungen immer auch Aggressionen auf die geliebte Person empfinden, weil wir, sobald wir einander nah kommen, durch diese Nähe und unsere Angewiesenheit auf die Liebe der anderen Person an unsere Verletzlichkeit als Säugling errinnert werden.

Viel mehr noch ist die sekundäre Heteronomie ein Skandal: Ich beobachte oft, dass Paare einander ergänzen, wofür es im Französischen das schöne Wort „Pendant“, Gegenstück, gibt. Wie ein Paar Schuhe, bei denen der linke ohne den rechten unbrauchbar ist und umgekehrt, funktionieren die Paare nur zusammen in dieser Gesellschaft gut, und sind einzeln hilflos. Das binäre System der Geschlechter ist fundamental auf diese Struktur aufgebaut, auch wenn ich vermute, dass die Pendant-Struktur andere Wege finden würde, sich durchzusetzen, selbst wenn das binäre System abgeschafft würde.

Die Pendant-Struktur ist eine Form von sekundärer Heteronomie: Sie greift, wo eigentlich Chancen auf Autonomie existieren, und unterläuft diese Chancen, indem sie Menschen dazu erzieht, einander auf eine bestimmte Weise zu brauchen. Ich habe mal bei einer Partner*innensuchplattform einen Persönlichkeitstest gemacht, mithilfe dessen der Algorhythmus mich dann matchen sollte. Ich sollte zum Beispiel geometrische Formen bewerten und eingeben, ob sie mich positiv ansprechen. Das Ergebnis des Tests wurde mir in einem Bericht zusammengefasst und auch gleich eine Empfehlung für meine Suche nach einer Partnerin gegeben: Ich sei ein sehr emotionaler Mensch und solle mir eine Frau suchen, die etwas rationaler plant.

Nun ist das leider wahr, rationale Planung ist wirklich keine Stärke von mir. Aber der Skandal besteht darin, dass unsere Gesellschaft eigentlich für eine Art Idealperson geschaffen zu sein scheint, in der alle Kräfte, Charaktereigenschaften und Kompetenzen ideal ausbalanciert sind. Menschen tun sich zu Paaren oder Gruppen oder Teams zusammen, auch weil sie von der Gesellschaft nicht individuell akzeptiert werden, so dass sie in ihr mit ihren Schwächen und Defiziten willkommen sind. Dahinter steckt der Leistungszwang, der alles soziale Leben durchzieht, und um dem gerecht zu werden wir diese Idealperson sein müssten, wenn es nicht die anderen Menschen gäbe, die uns helfen und ergänzen und uns so vom Druck, ideal sein zu müssen, entlasten.

Die Gesellschaft prägt also durch Leistungszwang unsere Beziehungen zu anderen und schafft so eine zweite, kulturell vermittelte Schicht unserer Persönlichkeit, die die erste unserer Bedürftigkeitserfahrung als Säugling überformt. Diese Schicht und ihre Berührungen mit anderen Menschen werden erneut zu einer Quelle von Wut, Ohnmacht, Verzweiflung und Schmerz. Vielleicht habe ich mich durch die primäre Erfahrung des Angewiesenseins so an die damit verbundenen Gefühle gewöhnt, dass die zweite Schicht daran andocken konnte und ich bereit war, trotz des dadurch entstehenden Leids diese neue Persönlichkeitsschicht anzunehmen. Sekundäre Heteronomie, aus der diese schmerzhaften Gefühle entspringen, ist noch frustrierender, weil sie eigentlich nicht notwendig wäre: Dass wir als hilflose Wesen geboren werden, ist eine biologische Realität, und wir können das nicht ändern. Aber die sekundäre Angewiesenheit auf ein Pendant ist nicht notwendig, sondern entspringt der falschen Struktur unserer Gesellschaft, ihren Leistungszwängen und von den Menschen abgekoppelten Idealen.

Das Einstanzen von Freiheits- und Autonomieidealen kann ich auf der Basis dieser Überlegungen nun auch besser analysieren: Es ist Teil der Struktur der Leistungszwänge, weil es Menschen dazu zwingt, die eigenen Defizite zu erkennen, zu beseitigen oder durch Beziehungen auszugleichen. Das ist das, worauf der Algorhytmus der Partner*innenbörse (und das Wort Börse trifft es ganz genau) mich sanft und unmissverständlich hingewiesen hat: Willst Du erfolgreich leben, dann suche dir eine Partnerin nach dem Schema xy. „Freiheit“ ist dann aber bloß noch eine Funktion im Algorhythmus einer Gesellschaft, die blind ist für reale Individuen, der es nur ums eigene Funktionieren und den Erhalt der sozialen Strukturen geht.

Mir

Am Sonntag war ich auf der Demo für Frieden in der Ukraine in Frankfurt.

Konsens der Redner*innen war, dass wir jetzt alle Flüchtenden aus der Ukraine aufnehmen müssen und dass die russische Führung der Aggressor ist und deren Armee sich sofort aus der Ukraine zurückziehen muss.

Dissens war deutlich bei der Frage, ob wir aufrüsten sollten, also das 100 Milliarden Euro Sondervermögen für Rüstung der Bundesregierung sinnvoll ist, und ob wir Waffen an die Ukraine liefern sollten. Attac und ein Friedensaktivist sprachen dagegen, der Attac Vertreter wurde dafür ausgebuht, der Frankfurter Oberbürgermeister Feldmann und ein Kirchvertreter sprachen dafür.

Für mich war interessant, dass die Demo auch dadurch bei einem gemeinsamen Grundkonsens sehr plural war, es fühlte sich sehr angenehm an, mit Menschen zusammen zu demonstrieren, die in Aspekten unterschiedlicher Meinung sind. Normalerweise bin ich auf Demos, wo gemeinsame gleiche Empörung stilbildend ist, und am Sonntag habe ich gemerkt, dass ich mich damit eigentlich wegen des Drucks, den das auf mich aufbaut, gar nicht so wirklich wohl fühle und eigentlich nur aus Pflichtgefühl hingehe. Die Fridays waren da schon ein bisschen anders, weil da viel Kreativität und wenig Frontendenken war. Vielleicht lernt die Zivilgesellschaft gerade, dass Pluralität und Gemeinsamkeit gar kein Widerspruch sein müssen.

Die Ukrainer*innen schützen: Gasimporte durch Zölle drosseln

Ein Freund von mir kommt aus der Ukraine, seine Verwandten leben dort und sind von Bomben bedroht. Ich habe in den letzten Tagen manchmal die Taz nicht gelesen, weil ich den Tag nicht mehr weinend am Frühstückstisch beginnen konnte. Ich muss funktionieren. Aber meine Wut auf die russische Regierung und meine Trauer um die Menschen, die dort ermordet werden, wächst.

Was kann ich tun? Kants Idee eines internationalen Gerichtshofes ist auch nach über 200 Jahren noch nicht richtig verwirklicht. Die UN sind das, was seiner Idee am nächsten kommt. Die UN-Vollversammlung hat mit mehr als 2/3 Mehrheit den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine verurteilt und die russische Regierung dazu aufgefordert, den Krieg gegen die Ukrainer*innen sofort zu beenden.

https://www.vorwaerts.de/artikel/uno-vollversammlung-ukraine-welt-stimmt-gegen-putins-krieg

Gleichzeitig bezahle ich mit meinen Heizkosten die Bomben, die jetzt das Leben der Familie meines Freundes bedrohen. Wenn ich nach der Zeitungslektüre noch in den Spiegel schauen können will, muss ich etwas tun. Spenden reicht nicht. Also gehe ich heute um 12 zur Demo auf dem Frankfurter Opernplatz gegen Energieimporte aus Russland.

Aus Diskussionen weiß ich, dass es ein Problem mit einem Embargo gibt: Scheinbar ist die europäische Wirtschaft so abhängig von den fossilen Energieimporten aus Russland, dass wir uns kein Embargo leisten können, bevor wir nicht über einige Jahre neue Infrastruktur geschaffen und neue Energiequellen erschlossen haben werden.

https://www.berliner-zeitung.de/news/russische-energie-bleibt-fuer-die-deutsche-wirtschaft-vorerst-unverzichtbar-li.215829

Ein Mittelweg wären höhere Zölle auf Gasimporte aus Russland, wie sie die USA anstreben.

https://www.finanzen.net/nachricht/aktien/russland-ukraine-krieg-usa-setzen-hoehere-zoelle-gegen-russland-in-gang-11129544

Aus dem Artikel geht hervor, dass dies nach den WTO-Richtlinien im Falle eines Krieges möglich ist. Die Regelung dafür hat die russische Regierung selbst in der WTO durchgesetzt, um die Ukraine mit Zöllen bekämpfen zu können. Die russische Regierung hat damit ein rechtliches Instrument geschaffen, das wir jetzt gegen ihren Krieg einsetzen können.

Zölle auf Gas und einen Stopp der Erdölimporte halte ich für ein gutes Mittel, um die russische Regierung unter Druck zu setzen, diesen Krieg zu beenden. Für das Öl gibt es Alternativen aus anderen Regionen der Welt, für das Gas gibt es aber leider noch keine vollständige Ersatzmöglichkeit. Zölle würden das Gas aus Russland teuer machen, und Menschen und Firmen in der EU so dazu bringen, diese Ressourcen einzusparen, und dadurch würde es einen Anreiz für die Wirtschaft geben, erneuerbare Energien auszubauen und dort zu investieren.

Zugleich müssen wir verhindern, dass die Alternativen zum russischen Gas Kohle, Frackinggas aus den USA und Atomkraft werden. Dazu ist es notwenig, am Kohleausstieg festzuhalten und durch Steuervergünstigungen und Subventionen der Staaten und der EU alle Kraft in den Ausbau der regenerativen Energien zu investieren. Das Geld für diese Subventionen kann dann teilweise aus den Zöllen auf russisches Gas gewonnen werden, so dass die russischen Konzerne dafür bezahlen, dass Europa mittelfristig von ihnen unabhängig wird.

Außerdem sind Zölle ein flexibleres Instrument als ein Embargo: Die demokratischen Regierungen können über die Höhe der Zölle gezielt und dosiert eingreifen: Wenn die Zölle niedriger sind, entlastet die Politik die Verbraucher, sollte zum Beispiel der soziale Frieden durch hohe Energiekosten gefährdet sein. Wirken die niedrigen Zölle aber noch nicht auf Russlands Politik, können sie erhöht werden. Wahrscheinlich gibt es da ein Optimum zwischen der Skylla des gefährdeten sozialen Friedens im Inland und der Charybdis eines von europäischen Geldern finanzierten illegalen Angriffskrieges auf die Menschen in der Ukraine. Dieses Optimum müssen wir schnell finden.

PS: Wen es irritiert, dass ich hier so unkritisch auf Marktmechanismen setze, der lese bitte Fernand Braudels Text „Über die Dynamik des Kapitalismus“, in dem er nachweist, dass Marktwirtschaft nicht gleich Kapitalismus ist, sondern im Gegenteil der Kapitalismus ein System ist, dass Märkte entgegen deren eigentlicher Normativität ausnützt und diese Normativität damit beschädigt.

Tagebucheintrag

Wen Gott liebt, den prüft er, und wen der Teufel hasst, den straft er – und die Scheiße ist, dass sich beides genau gleich anfühlt und man nie genau weiß, was was ist.

Der Mond ist aufgegangen

So legt euch denn, Geschwister,

in Gottes Liebesnester

kalt ist der Abendhauch

verschon uns, Gott, mit Strafen

und lass uns ruhig schlafen

und unsre kranken Nachbarn auch!

Posttemporalismus

Mit einem Bein stehe ich in der Vergangenheit, mit dem anderen in der Zukunft – und je weiter sich beide voneinander entfernen, desto schwieriger wird der Spagat. Hoffentlich vergibt niemand Haltungsnoten in dieser Sportart.

Früher war alles besser, aber sehr verschwommen

Ich versuche, mich an das erste Lied zu erinnern, dass ich in meinem Leben gehört habe: Das erste, was mir einfällt, ist „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“, das war in einem Liederbuch, das in meiner Erinnerung sehr groß und dick und weiß mit schönen Zeichnungen zu vielen Liedern ist, und da konnte ich auch die Gans sehen. An den Fuchs erinnere ich mich nicht (das kann daran liegen, dass, wie Hans Rosling schreibt, unser Nervensystem die negativen Erinnerungen wegsubtrahiert, deshalb glauben wir, dass früher alles besser war, und je länger es her ist, desto besser erscheint es uns dann auch).

Meine Mutter hat mir, als ich 4 oder 5 war, auf der Querflöte die Lieder aus dem Buch vorgespielt, ich erinnere mich auch an „Hänschen klein“, das fand ich traurig.

Das erste Mal bei einem Lied in Tränen ausgebrochen bin ich dann, als ich mit etwa 7 den Abspann von einer Folge „Lucky Luke“ gesehen habe, in dem er auf Jolly Jumper in den Sonnenuntergang reitet und singt „I am a poor lonesome Cowboy, far away from home…“. Meine Mutter musste mich trösten, sie hat ganz erschrocken gefragt, warum ich denn so traurig sei, und ich konnte das nicht so richtig beantworten, ich habe nur irgendetwas geschluchzt, an dass ich mich leider nicht erinnern kann.

Ich kann nicht sagen, ob ich Bilder und Musik zusammen als Kind eindrücklicher fand als Musik ohne Bilder, oder ob meiner Erinnerung sich diese Kombination nur besser eingeprägt hat. Klar ist allerdings, dass meine Mutter eine wichtige Rolle bei meinen ersten Musikerlebnissen spielte. Sie hat uns Geschwistern auch die Kassette „Die Rübe“ gekauft, die ich glaube ich immer noch habe. Da war drauf: „Der Cowboy Jim aus Texas“ (der nachts auf seinem Pferd saß, hat einen Hut aus Stroh, und darin sitzt ein Floh…ich kanns immer noch im Kopf mitsingen: Yippie Yei, Yippie Yeiei, Yippie YeiYeiYeiYeiYei). Ich glaube, Benjamin hätte seinen Aufsatz über die technische Reproduzierbarkeit von Kunstwerken nochmal umgeschrieben, wenn er die Nazis überlebt und gesehen hätte, dass Kinder in den 1980er Jahren unermüdlich immer dieselben Kassetten nochmal und nochmal hörten.

Es wird wahrscheinlich die Herausforderung meiner Generation, mit den nächsten klarzukommen, die schon mit Spotify und einem unmittelbar zugänglichen Pluriversum von Musik aufwachsen und, wenn sie nicht wollen, keinen Song mehr als einmal hören müssen.

Der Titelsong der Rübe brauchte nun gar kein visuelles Bild, um sich mir einzuprägen, der Text reichte, weil ich mir die Gruppe Kinder, die zusammen an einer riesigen Rübe ziehen und sie auch nur zusammen mit den italienischen Nachbarskindern rausgezogen bekommen können, so in einem inneren Bild ausmalte, als hätte ich daneben gestanden. Ich hatte das Glück, später mit 14 mit einem Freund, der eine italienische Mutter hatte, am Lagerfeuer zu singen, und er war wahrscheinlich der wichtigste Gesangslehrer, den ich jeh hatte – er weiß nichts davon. Das kommt auch sehr viel später auf dieser Tonspur. Aber vielleicht hat die Rübe dieser Freundschaft, die bis heute besteht, schonmal den Weg geebnet.

Ich glaube, ich bin neuroatypisch (und Judith Butler würde mir da wahrscheinlich recht geben)

Heute habe ich in der Marburger Philosophie einen Vortrag von Stefan Lang (Wien) unter dem Titel “ Selbst, Selbstbewusstsein und Affekt“ gehört.

Lang will das Subjekt untersuchen, indem er zunächst den Fokus auf „neurotypische erwachsene Lebewesen“ setzt und versucht, davon ausgehend zu klären, was ein Subjekt (oder ein Selbst) ist. Er sagte, er schließe mit dem Begriff „neurotypisch“ Kleinstkinder, (soweit ich es verstanden habe, meint er alle Menschen, die noch nicht das Wort „ich“ beherrschen), Tiere und psychopathologische Menschen erst einmal aus der philosophischen Untersuchung aus.

Er begründete seine Forschungsfragen „Existieren Subjekte?“ und wenn ja, was sind dann Subjekte? damit, er versuche, Antworten auf die philosophische Diskussion zu finden, in der aus buddhistischer Perspektive bezweifelt werde, dass es Subjekte gebe.

Leider ist mir das beste Argument gegen Langs philosophisches Vorgehen mit dem Begriff „neurotypisch“ erst nach der Veranstaltung eingefallen, so dass ich es nicht mehr äußern konnte:

Ich habe mich gefragt, wie wir als Philosoph*innen eigentlich festlegen, was „neurotypisch“ ist. Ein erstes Problem taucht dabei nämlich auf, wenn wir uns fragen müssen, ob träumende Erwachsene eigentlich in dem Moment, in dem sie träumen, „neurotypisch“ oder „neuroatypisch“ sind (Excuse my language).

Dieses Problem können wir vielleicht lösen. Ein anderes, das an dem Clash zwischen der buddhistisch inspirierten mit der christlich inspirierten Philosophie erkennbar wird, aber, wie ich glaube, mit Langs Methode nicht: Ich denke, dass „neurotypisch“ für alle Menschen genau das ist, was Lang von vornherein ausschließt: Dass wir alle als hilflose, auf unsere Bezugspersonen angewiesene Säuglinge geboren werden, deren Bewusstsein vor allem aus Affekten besteht, lange bevor wir Worte wie „Ich“ oder „Praxis“ oder „Subjekt“ oder „Bewusstsein“ lernen. Dagegen ist wahrscheinlich, wie aus dem Konflikt zwischen der buddhistischen Perspektive und der westlichen Philosophie schon zu ersehen ist, bei den Menschen und auch ihren sozialen Gruppen und Organisationen kulturell bedingt auf den biographisch später sich entwickelnden Ebenen unseres Bewusstseins sehr unterschiedlich, was ein Selbst ist (und ob es so etwas überhaupt gibt). Das hängt von der jeweiligen Sprache und ihrer Logik und der sozialen Praxis, in die diese Sprache eingebettet ist, ab, und es dürfte rettungslos sein, auf diesen Ebenen der Großhirnrinde etwas „Typisches“ zu finden, was bei allen Menschen unabhängig von ihrer Kultur gleich ist.

Ich würde die Existenz von etwas für alle Menschen aller Kulturen „neurotypischen“ auf den durch Sprache und kulturelle Praxis vermittelten Ebenen von menschlichen Nervensystemen daher erstmal generell bezweifeln. Es macht typischerweise einen Unterschied in der Wahrnehmung und im Bewusstsein, ob ich an das Nirvana glaube oder daran, dass ich nach dem Tod Gott im Jüngsten Gericht gegenüberstehe, und dieser Unterschied ist vermutlich so tief in die Geistesgeschichte eingegraben, dass die damit jeweils verbundenen Formen der Identität trotz der Säkularisierung nicht mehr auf etwas „Typisches“ reduziert werden könnten.

Daher finde ich es sinnvoller, genau bei einer der Existenzweisen anzufangen, die Lang von vornherein ausschließt, nämlich beim Bewusstsein von Kleinkindern, wenn wir etwas neurotypisches für alle Menschen aufspüren wollen. Denn mit Judith Butler lässt sich sagen, dass die existenzielle Hilflosigkeit und Verletzlichkeit und die daraus folgende Abhängigkeit von den Bezugspersonen, beides spürbar in starken Affekten der Säuglinge und Kleinstkinder, wahrscheinlich für alle Menschen gleich welcher Kultur ziemlich ähnlich sind – das sind deshalb viel aussichtsreichere Phänomene, wenn wir etwas „neurotypisches“ finden wollen.

Von hier aus können wir dann wahrscheinlich auch irritierende Phänomene wie Träume besser verstehen – und davon träumen, dass wir weniger kulturell bedingte Missverständnisse und Konflikte haben werden, wenn wir mit der Zeit besser verstehen, was ein Subjekt und was ein Affekt und was eine menschliche Beziehung ist.

Ein drittes Problem mit dem „Neurotypischen“ besteht darin, dass die meisten Menschen im Alter ein weniger leistungsfähiges Zentralnervensystem bekommen, bis hin zur Demenz. Ist das typisch für Menschen? Ich würde sagen: Ja. Verlieren alte Menschen dadurch die Eigenschaft, Subjekte zu sein? Offensichtlich nicht. In einem durch Anerkennung von Menschenwürde geprägten sozialen Umfeld lebt die neurologisch voll funktionierende mittelalte Person, die eine demente Person einmal war, in der Erinnerung und in den Erzählungen ihrer sozialen Bezugspersonen weiter. Auf der Basis dieser sozialen Identität, die weitgehend ohne eine korrespondierende „normale“ Neurologie der Person auskommt, treffen dann Angehörige Entscheidungen zum Beispiel über lebenserhaltende medizinische Maßnahmen. Der Begriff des „neurotypischen erwachsenen Lebewesens“ schattet diese soziale Dimension personaler Identität ab. Sie ist aber ein zentrales Element dessen, was wir ein Subjekt nennen und dessen, was unser subjektives Bewusstsein ausmacht.

So geraten die Subjekte, die Lang untersuchen will, zu geburtlosen, nicht alternden, außerhalb der Zeit, der Geschichte und der sozialen Beziehungen existierenden Entitäten. Was das beitragen soll zur Debatte über Subjekte, ist mir sehr schleierhaft. Vielleicht fängt aber auch bei mir schon die Demenz an mit 44, und ich verstehe es nur deshalb nicht. Dann betrachte bitte diesen Text als gegenstandslos. Möglicherweise war ich aber noch neurotypisch, als ich anfing, ihn zu schreiben, und bin erst beim Verfassen langsam neuroatypisch geworden. In diesem Fall bitte ich Dich, im Text den Punkt zu finden, an dem ich anfing, mich zu verlieren.

Realität, die

Arbeitsdefinition:

Realität ist das, was alle wahrnehmungsfähigen Wesen gemeinsam gleich wahrnehmen würden, wenn Ihre Wahrnehmungsfähigkeiten nicht begrenzt und fallibel wären.