Ein neues Wort

Mir ist heute morgen beim Meditieren mal wieder ein neues Wort eingefallen. Das Wort heißt „Entwürdigungszusammenhang“. Mark Twain hätte sich aufgrund des typisch deutschen Bandwurmwortcharakters meiner Neuschöpfung vermutlich wieder mal gekringelt vor Lachen. Aber ich finde mein neues Wort sehr nützlich. Man kann es nämlich verwenden, um folgendes zu benennen: Ich habe beobachtet, dass ich und viele andere Menschen sich oft in sozialen Zusammenhängen finden, in denen zwar niemand sie direkt und aktiv und bewusst entwürdigt, wie das zum Beispiel bei der Diskriminierung durch Naziskins, die Syrer*innen beleidigen und verletzen, der Fall ist. Trotzdem sind die Zusammenhänge oft so, dass Personen ihre Würde genommen wird, ohne dass das jemand eigentlich will. Der Sachbearbeiter auf dem Arbeitsamt, der jemandem seine Hartz IV Bezüge kürzt, weil ein Termin vergessen wurde. Die Ärzt*in, die eine psychisch kranke Patient*in in einer Klinik zu einem Drogenscreening zwingt. Die Lehrer*in, die eine Schüler*in vor der ganzen Klasse wegen eines Fehlers korrigiert. In allen diesen Zusammenhängen gibt es keinen direkt Beteiligten, der jemanden entwürdigen möchte. Und trotzdem werden in diesen Situationen dauernd Menschen entwürdigt.

Der Grund für diese Tatsache ist eben der Entwürdigungszusammenhang: Er ist das praktische Pendant zu Adornos „Verblendungszusammenhang“. Dieser sorgt laut Adorno dafür, dass Menschen die soziale Wirklichkeit nicht erkennen, weil sie durch systematische ideologische Verzerrung den Blick dafür verlieren. Etwas ähnliches gibt es aber auch in der Praxis des menschlichen Zusammenlebens. Das bezeichne ich als Entwürdigungszusammenhang. Der Entwürdigungszusammenhang ist komplex, er besteht aus Normen, Gesetzen, sozialen Regeln für richtig und falsch, bestimmten Begriffen und Worten und ist in die Grammatik unserer Sprache eingebaut. Er durchdringt die Architektur unserer Gebäude, die Bräuche und die Kultur. Er strukturiert Situationen, schon bevor Menschen sich in diesen Situationen zueinander verhalten müssen. Er zwingt uns täglich, Dinge zu tun und zu sagen, die wir nicht sagen und tun möchten.

Nieder mit dem Entwürdigungszusammenhang! Wir brauchen dazu kreative Lösungen. In der Schule zum Beispiel lasse ich Fehler oft unkommentiert erstmal stehen und lasse den Kurs weiter diskutieren, bis die Schüler*innen den Fehler selbst korrigieren. Dann lobe ich das und fasse alles zusammen (ohne den Fehler!). Die Sachbearbeiter beim Arbeitsamt und die Ärzt*innen können sicher ähnliche Strategien berichten, die sie täglich anwenden. Mehr davon! Schrauben wir den blöden Entwürdigungszusammenhang langsam und Stück für Stück auseinander, bis nur noch ein Wust unzusammenhängender Elemente alten Schrotts davon übrig ist.

Zu schön, um wahr zu sein?

Manche Leute sagen ja öfter, etwas sei „zu schön, um wahr zu sein“. Heute fiel mir diese Redewendung wieder ein und ich habe mich gefragt, was das eigentlich bedeuten soll. Wenn etwas richtig richtig schön ist, so ganz ohne Haken und ohne Wermutstropfen, dann kann es nicht wahr sein?

Ich habe jetzt bei einer Schulveranstaltung meinem Schulleiter erzählt, warum mein Fairphone fair ist. Er zeigte mir deutlich seine Skepsis. Ich habe aber (obwohl ich selber Zweifel habe, wie fair das Ding wirklich hergestellt wird) voller Überzeugung die Fairness der Fairphone Stiftung vertreten. Ich glaube, ich hab einfach jetzt die Nase voll davon, die Wirklichkeit und meine Mitmenschen dauernd unter Generalverdacht nehmen zu lassen, das an allem Guten und Schönen und Edlen irgendwas gelogen sein müsse, weil ja die Welt schlecht sei und die Menschen daran schuld.

Manches, was passiert, ist vielleicht einfach gut und schön und edel. Manches, was Menschen tun, manche Momente und Erlebnisse, manche Gefühle. Ich habe da gerade einige neue Erfahrungen gemacht.

 

Europa links vom Sparwahn

Endlich: Griechen wehren sich gegen das Spardiktat aus Berlin, Brüssel, London und New York. Ein kosmopolitischer Ökonom gibt seinen Lehrstuhl in den USA auf, um als Finanzminister für Griechenland die Kartoffeln aus dem Feuer zu holen. Danke, Varoufakis.

Regierungschef Alexis Tsipras stoppt die Privatisierung des Hafens von Piräus und der Eisenbahngesellschaft. Der Ausverkauf Griechenlands hat einige Opfer weniger.

Die neue Regierung will einen Schuldenreduktionsplan durchsetzen: Länger Zeit für die Rückzahlung, geringere Zinsen, Abzahlung je nach Wirtschaftswachstum. Das ist Politik mit Augenmaß.

Die Populisten um Wolfgang Schäuble von der CDU beschimpfen Tsipras und Varoufakis dafür jetzt, na, wie? Als Populisten. Dabei haben Schäuble und Konsorten den deutschen Wähler*innen jahrelang erzählt, die Griechen würden unser Geld klauen. In Wirklichkeit haben das Geld die ganzen Reichen geklaut, die es in die Steueroase Luxemburg verschoben haben, während der jetzige konservative EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker dort Regierungschef war und seine Arbeitszeit größtenteils mit dem Stricken von Steuerschlupflöchern verbracht hat.

Vielen Dank an die europäische Konservative unter der Führung von Juncker, Merkel und Cameron: Sie betreiben den Ausverkauf der europäischen Demokratien.

Ich bin erst zufrieden, wenn die deutsche Bundesregierung sich entschließt, den Griechen endlich Wiedergutmachung für die Schäden von Nazikrieg und Nazibesetzung zu zahlen. Wenn Deutschland im Rahmen des Rettungsfonds hier Nettozahler würde, wäre das nur gerecht.

Wenn Tsipras jetzt noch dafür sorgt, dass die reichen Griechen auch endlich ihre Steuern bezahlen, bin ich überzeugt, dass die Griechen zurecht Syriza gewählt haben. Es sei denn, die Rechtspopulisten in der griechischen Koalition machen den Migrant*innen das Leben noch schwerer, als es das Dublin II Abkommen eh schon macht. Aufgrund dieses Abkommens nämlich landen die fliehenden Syrer*innen massenweise im bettelarmen Griechenland und kaum im reichen Deutschland.

Probleme – in die Peripherie abschieben, nach Spanien und Griechenland. Gewinne: Ins Zentrum verschieben, nach Deutschland. Und dann noch die Ohnmächtigen als Schuldige darstellen. Das ist die Politik der konservativen Populisten. Pfui.