Wir treffen uns um 6 Uhr nach der Revolution!

Es gibt ja diesen US-amerikanischen Marxisten David Harvey, der so eine Art Popstar der Linken geworden ist. Ich habe neulich auf Youtube ein Interview mit ihm gesehen, in dem er gefragt wurde, wer denn nun eigentlich zum Proletariat gehöre, das die Revolution machen wird. Und diese Frage ist nicht ganz trivial, weil zum Beispiel ich ja Lehrer bin, und also klassischerweise eigentlich zur Bourgeoisie gehören müsste, aber ich verdiene vielleicht ein Drittel von dem, was ein Facharbeiter bei VW verdient. Mein Vater hat mir außerdem erzählt, dass die bei VW dieses Jahr 8000 Euro Weihnachtsgeld bekommen, und das ist mehr, als ich in den nächsten 8 Jahren werde sparen können.

Also jetzt die Preisfrage: Bin ich jetzt Bourgeois oder der VW-Facharbeiter? Oder sind wir beide Proletarier? Oder was? Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung. Und David Harvey offensichtlich auch nicht, weil er auf die Frage sehr weitschweifig nicht geantwortet hat. Und der Blick in das kommunistische Manifest hilft da auch nicht viel weiter, weil Marx und Engels da nur schreiben: Proletarier sind Leute, die kein Eigentum an Produktionsmitteln haben, und deshalb gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen.

Nun habe ich eine relativ gut ausgestattete Geigenbauerwerkstatt zusammengekauft, als ich in der Lehre war, und mit einigen wenigen Neuanschaffungen könnte ich mich selbständig machen und wäre dann – Unternehmer. Vermutlich würde ich im Monat so knapp das Existenzminimum verdienen, aber welcher Klasse würde ich dann angehören? Ich habe mich stattdessen entschieden, meine Arbeitskraft an das Land Hessen zu verkaufen, und jetzt weiß ich nicht, ob ich Proletarier bin oder nicht.

Aber die Frage, wer eigentlich Proletarier ist und wer nicht, ist ziemlich entscheidend für die marxistische Linke, weil das Proletariat ja die Revolution machen soll und die Produktionsmittel vergesellschaften soll, wodurch dann die Klassen verschwinden, weil es keinen Privatbesitz an Produktionsmitteln mehr gibt und die klassenlose Gesellschaft anbricht. Wenn ich mir aber jetzt vorstelle, dass die VW-Facharbeiter meine Geigenbauerwerkzeuge verstaatlichen, dann verdrillert sich mein Gehirn, weil ich mir die Revolution irgendwie anders vorgestellt habe.

Ich stelle mir die Revolution nicht so wie ein Armaggeddon vor, so einen Endzeitkampf der guten gegen die böse Klasse, Proletarier gegen Bourgeoisie, sondern eher wie ein ziemliches Chaos, wo keiner so genau weiß, wo er hin soll, und alle wuseln so vor sich hin und langsam fangen dann immer mehr Leute an, still und leise von der Fahne des Kapitalismus zu desertieren – das kann damit anfangen, dass Du keine Kleidung aus Sweatshops in Bangladesch mehr kaufst, sondern nur noch fair produzierte, oder Du gründest einen kleinen Kollektivladen, oder ein Hausprojekt, oder Du gehst mal ein Jahr nach Uruguay, statt an deiner Karriere zu feilen, oder Du spendest deine 8000 Euro Weihnachtsgeld an Ärzte ohne Grenzen. Bringt dem Kapitalverwertungsprozess alles nichts und ist deshalb ein klitzekleines Puzzleteil in dem, was dann in den Geschichtsbüchern der 2100er Jahre als Revolutionsgeschichte erzählt werden wird.

Also: Wir treffen uns um 6 Uhr nach der Revolution! Vergiss nicht, Dein Geschichtsbuch mitzubringen, und vergiss nicht Deine Geschichten.

Was sind eigentlich normative Fakten?

Während meiner Examensarbeit bin ich auf einen Patriarchenbattle zwischen zwei Philosophen gestoßen, die ich beide ziemlich gut finde, nämlich Jürgen Habermas und Robert Brandom. Die beiden haben sich in mehreren Aufsätzen darüber gestritten, ob es normative Fakten, normative facts, gibt, die Teil der objektiven Welt sind, so dass man sie beobachten kann wie die Umlaufbahnen von Planeten. Robert Brandom meint, ja, in der Welt gibt es normative Fakten, die auch da wären, wenn wir nicht da wären, also egal, ob wir sie beobachten und darüber sprechen oder nicht, sie sind einfach da wie der Mount Everest oder diese Kiesel in Flüssen, die von der Strömung rundgeschliffen wurden.

Habermas meint, nein, alles Normative, also alle Regeln und alles Sollen wird von Menschen in Gesellschaften geschaffen, durch sie bestimmbar und veränderbar, weshalb es keinen Sinn macht, normative Sätze wie „Du sollst nicht töten“ als Element einer objektiven Welt zu betrachten, die halt einfach so ist, wie sie ist, ob sie nun von Menschen beobachtet wird oder nicht.

Ich war jetzt einigermaßen verwirrt, weil ich beide philosophischen Patriarchen sehr weise fand und jetzt, da sie sich stritten, keine Ahnung hatte, wem ich nun glauben sollte.

Jetzt lag ich vor ein paar Tagen in meiner Hängematte, als es mir wie Schuppen von den Augen fiel: Ich hatte den Ausweg aus meiner patriarcheninduzierten Verwirrung gefunden. Ich kann an dieser Stelle nur allen Leuten, die gerne philosophieren,  zur Anschaffung einer Hängematte raten, es philosophiert sich darin ganz formidabel.

Meine Lösung geht so: Klar gibt es normative Fakten einer objektiven Welt. Aber es gibt sie nicht unabhängig von Menschen. Normative Fakten sind historische Fakten: Wir leben alle in einer Welt, in der seit Jahrtausenden andere Menschen intentional gehandelt haben, das bedeutet, sie hatten bei dem, was sie taten, Ziele, und diese Ziele sind durch das bestimmt gewesen, was sie gut oder schlecht, richtig oder falsch fanden, das heißt, sie hatten Werte und Normen, nach denen sie gehandelt und über die sie gesprochen und geschrieben haben. Diese ganzen intentionalen Handlungen, die Gespräche, Bücher und manchmal auch Verbrechen, sind für uns, die wir in einer Welt mit dieser Vergangenheit leben, objektiv da, das bedeutet, sie wären auch da, wenn wir nicht da wären, sie sind einfach Teil der Welt, in die wir hineingeboren wurden, ohne das man uns gefragt hat, ob wir in einer Welt leben wollen, in der zum Beispiel Kreuzritter im 11. Jahrhundert aus ihrem christlichen Glauben die Pflicht abgeleitet haben, nach Jerusalem zu ziehen und dort Muslime abzuschlachten.

Deshalb hat natürlich Habermas auch gute Gründe, die Vorstellung von „normativen Fakten“ anzugreifen, weil er aus der philosophischen Schule der Kritischen Theorie kommt, und deren Grundidee ist die Emanzipation. Wissenschaft und speziell die Philosophie hat in dieser Schule die Aufgabe, Menschen dazu zu ermächtigen, die Regeln und Werte, nach denen ihre Gesellschaft funktioniert, gemeinsam und vernünftig zu kritisieren und wenn nötig zu verändern. Wenn es aber normative Fakten gäbe, dann könnten wir uns die Diskussion darüber, welche normativen Bestimmungen gelten sollen und welche nicht, gleich sparen, weil die dann einfach da wären und Punkt. Außerdem haben die Philosoph*innen der Kritischen Theorie  traditionell etwas gegen Traditionen, weil sie in Traditionen die Unvernunft vergangener Gesellschaften und die Absicherung von Herrschaftsverhältnissen vermuten.

Ganz in diesem Sinne muss ich jetzt leider auch noch dem zweiten Patriarchen widersprechen, nämlich Robert Brandom: All die historisch angereicherten intentionalen Handlungen, Gespräche, Regeln und Werte inzwischen toter Menschen sind zwar irgendwie objektiv da, aber wenn wir sie verstehen und für unser Leben Schlüsse daraus ziehen wollen, müssen wir sie zuerst interpretieren. Und um sie zu interpretieren, brauchen wir die Werte, Bedeutungen, Sinnkonstruktionen und Regeln des Verständnisses, die wir eben heute haben. Deshalb werden wir nie dahinterkommen, was eine Vorschrift aus dem 1. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung objektiv bedeutet, weil wir sie durch die Brille des 21. Jahrhunderts anschauen, und durch diese Brille sieht sie garantiert und unter allen Umständen zumindestens ein bisschen anders aus als aus dem Blickwinkel ihrer Schöpfer*innen von vor 3000 Jahren. Deshalb ist auch Gadamers Hermeneutik totaler Quatsch, derzufolge wir in den „Überlieferungszusammenhang“ einrücken können sollen, was heißen soll, dass uns der Sinn der Geschichte offenbart wird. Derrida hat deshalb auch Gadamer widersprochen und gezeigt, dass man oft Texte besser verstehen kann, wenn man von den Brüchen im Text, zwischen der Zeit des Textes und unserer Zeit und den Brüchen in der Geschichte selbst ausgeht.

Also haben meine beide Patriarchen Brandom und Habermas ein bisschen recht und ein bisschen unrecht, und am meisten recht habe ich, weshalb ich mich eigentlich etwas wundere, dass ich noch kein philosophischer Patriarch bin. Vielleicht liege ich zu viel in der Hängematte.