Menschenrechte, Fußballspielen und das gute Leben

In diesem Artikel geht es um Widersprüche zwischen dem allgemein normativ Richtigen in der Gesellschaft und den partikularen Konzepten guten Lebens einzelner Gruppen. Ich schlage außerdem ein neues Element des Modells des personalen Selbst vor, das ich das generalisierte Eigene nenne.

Der Soziologe George Herbert Mead hat ein wirkmächtiges Modell des personalen Selbst vorgeschlagen: Das Selbst ist demnach zusammengesetzt aus dem „I“, dem spontanen Teil der menschlichen Psyche, und dem „Me“, dem reflektierten Teil des menschlichen Geistes, der sich dadurch bildet, dass ein Mensch sich selbst gemäß des Blicks seiner Mitmenschen auf sich zu betrachten lernt und so in sein Selbstbild das Bild integriert, was andere von ihm haben. Um dies tun zu können, müssen Menschen etwas konstruieren, was Mead als das „generalisierte Andere“ bezeichnet: Sie müssen sozusagen die Quersumme aus allen Sichtweisen der verschiedensten Mitmenschen bilden und sich so aus der Perspektive eines verallgemeinerten Mitmenschen, eben des generalisierten Anderen, betrachten.

Ich möchte nun eine Erweiterung dieses Modell des Selbst vorschlagen. Ich bin der Überzeugung, dass zu unserem Selbstbild auch immer das Konstrukt eines generalisierten Eigenen gehört. Damit meine ich folgendes: Stellen wir uns unser soziales Leben als ein Spiel vor, das einerseits durch Solidarität und andererseits durch Konkurrenz geprägt ist, wobei wir in unserer Gruppe (zum Beispiel in der Familie oder im Freundeskreis) solidarisch zusammenspielen, aber dabei in Konkurrenz zu anderen Gruppen stehen, gegen die wir gemeinsam spielen. Außerdem gibt es noch Spielregeln, die für alle mitspielenden Gruppen und Individuen festlegen, was als faires Spielen gilt.

Meads generalisierter Anderer wäre jetzt mein Konstrukt der Quersumme aus den Blickwinkeln aller Spielenden auf dem Spielfeld auf mich und mein Spiel. Meine Idee ist jetzt, das ich nicht nur diese Quersumme bilde, sondern zugleich auch den Blick der Gegner auf mich vom Blick meiner Teamteilnehmenden auf mich unterscheide. Den Blick meines Teams auf mich fasse ich in einem generalisierten Eigenen zusammen, dessen Teil ich bruchlos sein kann – weil mein Blick auf mich genau wie der der anderen Teamteilnehmer auf den Erfolg unserer Gruppe in der Konkurrenzsituation des Spiels ausgerichtet ist. Er hat deshalb starke normative und evaluative Komponenten: Ich beobachte mich genau wie alle anderen meines Teams mich beaobachten, hinsichtlich des Beitrags, den mein Spielverhalten für den Gruppenerfolg leistet. Ich beurteile daher mein Verhalten auch als richtig oder falsch, und zwar nach dem Doppelstandard des generalisierten Anderen einerseits (aus dieser Sicht zählt, was normativ gemäß der für alle geltenden Spielregeln und aus der Sicht aller Spielenden als fair gilt), und nach dem Standard des geralisierten Eigenen andererseits (hier zählt, was evaluativ als gut für den Gruppenerfolg gilt). Ob ich den evaluativen Standard meiner Gruppe und den normativen Standard aller Mitspielenden widerspruchsfrei zur Deckung bringen kann, hängt von den teilnehmenden Gruppen und ihrem Spielverhalten und von den Spielregeln ab.

Wenn zum Beispiel eine Fußballspieler_in ständig Alleingänge vor dem gegnerischen Tor versucht, ohne ihre Mitspieler, die frei stehen, anzuspielen, ist ihr Verhalten zwar normativ korrekt, insofern es den Spielregeln konform ist, aber es wird evaluativ als schlecht bewertet, weil es nicht im Sinne der Gruppe ist, jedenfalls solange es nicht erfolgreich ist und nicht zu einem Tor führt. Die Alleingänger_in weiß das, weil sie sich ständig aus der Sicht ihres Teams beobachtet und bewertet und ihr Spiel danach ausrichtet.

Jetzt hat dieser mein Vorschlag für ein neues Modell des Selbst in der Gesellschaft eine gefährliche Konsequenz: Der Rahmen, der für das gesellschaftliche Leben gilt, ist ein normativer, er besteht aus Regeln, die richtig und falsch festlegen. Die Unterscheidung zwischen gutem und schlechten Leben ist dem normativen Fairnessrahmen der Gesellschaft untergeordnet, insofern wir unser Verhalten im Zweifelsfall an allgemein geltenden Normen als an gruppenspezifischen Werten orientieren müssen. Das hat Vorteile, insofern man, wie Rawls es vorgeschlagen hat, innerhalb eines funktionierenden Gerechtigkeitsrahmens unterschiedliche kulturelle Gemeinschaften mit unterschiedlichen Konzepten guten Lebens spielen lassen kann, ohne dass es zu Gewalt und Unterdrückung kommt. Aber es hat auch Nachteile, denn wenn die Spielregeln absolut gesetzt werden, können wir uns nicht mehr mit einem Konzept guten Lebens im Rücken kritisch auf den normativen Rahmen beziehen, selbst wenn er unseren gemeinsamen gruppeninternen Vorstellungen des guten Lebens widerspricht. Wir könnten also im Fußball nicht kritisieren, dass Männer und Frauen in getrennten Ligen spielen, weil das zum normativen Rahmen des Spiels gehört. Deshalb würde sich der normative Rahmen auch nicht weiterentwickeln. Damit Spielende die Spielregeln verändern können, müssen sie alle Mitspieler überzeugen können, dass ihre Vorstellung vom guten Spielen zwar im Gegensatz zu den normativ wirksamen Spielregeln steht, aber aus der Sicht aller Spielenden das Spiel verbessern würde, wenn der normative Rahmen entsprechend verändert würde. Wenn also der FC Frankfurt demnächst in der Männerbundesliga mit einer geschlechtergemischten Mann/Frauschaft aufspielt, müsste sich der DFB fragen lassen, ob es nicht im Sinne aller wäre, gemischte Ligen zuzulassen.

Insofern können Regelbrüche durch Gruppen auch transformatorischen Charakter bekommen, indem Konzepte guten Lebens über normative Traditionen gestellt und dann diskursiv hinsichtlich ihrer Kongruenz mit dem Allgemeinwohl geprüft werden. Ein gutes normatives Rahmengerüst von Gesellschaften enthält deshalb vor allem Verfahrensregeln, wie und inwiefern evaluative Konzepte guten Lebens auf die abstraktere Ebene normativer Spielregeln gehoben und verallgemeinert werden können. Allerdings werden auch diese Verfahrensregeln von kulturellen Gemeinschaften hinsichtlich ihrer Funktionalität für des gute Leben diskutiert. Die Menschen- und Grundrechte erfüllen dabei die Funktion, den Teufelskreis der Evaluation der Normen und der Normierung der Evaluation zu unterbrechen. Sie müssen deshalb seltsame Hybride aus Werten und Normen sein, sonst könnten sie ihre Funktion nicht erfüllen.

Der generalisierte Andere ist also sozusagen die innere Instanz, vor der jede Person ihre im Konzept des generalisierten Eigenen enthaltenen Vorstellungen des guten Spielens prüfen kann. Insofern sind zum Beispiel aus der Sicht von Fußballspielenden ungeahndete Fouls zwar im Sinne der Mannschaft, aber nicht richtig. Andererseits kann es dazu kommen, dass Normen Konzepten guten Lebens widersprechen. Ein Beispiel dafür ist der Widerspruch zwischen Konzepten gendergerechten Lebens und den Regeln des Sports in unserer Gesellschaft. Die Regeln des Sports müssen sich vor diesen neuen Werten als gerechtfertigt darstellen oder geändert werden. Gendergerechtes Leben wird nur durch Auflösung der starren und unrealistischen Mann-Frau-Unterscheidung möglich werden. Immer wieder werden Intersexuelle Sporler_innen Opfer der Mann-Frau-Abstraktion von der realen Geschlechtervielfalt, und in absehbarer Zeit werden sich die Sportverbände hinsichtlich der normativen Verfasstheit des Sports den Forderungen des Gender Mainstreaming stellen müssen, wenn sich nicht gesellschaftliche Gruppen ganz von ihnen abwenden sollen.

Der normative Rahmen bundesdeutscher Staatlichkeit ist insofern wesentlich weiter entwickelt als der der Sportverbände: In Artikel 4 heißt es: „Niemand darf wegen seines Geschlechts … benachteiligt oder bevorzugt werden…“. Hier ist zum Glück nicht nur von Männern und Frauen die Rede. Vor dem HIntergrund der Tatsache, dass erst 1919 die Frauenbewegung ihr Konzept guten Lebens mühsam in die normative Ordnung gehoben hat, dergestalt, dass endlich „allgemeines Wahlrecht“ auch Wahlrecht für Frauen hieß, kann man sehen, welche Kämpfe es erfordert, die normative Ordnung zu transformieren.

Allerdings bleibt zu warnen, dass es auch Konzepte des generalisierten Eigenen gibt, die humanitäre Verbrechen mitverursachen: Rassismus ist ein solches Konzept, ein evaluatives Konzept, in dem zum Beispiel die Hautfarbe als Gütekriterium und Inklusionsmerkmal auftaucht. Die Sperren im normativen Rahmen gegen evaluativ bedingte Veränderungen, wie sie der Antidiskriminierungsartikel beispielhaft zeigt, sind daher zwar oft konservativ, aber sie schützen gerade deswegen vor verbrecherischen partikularen Konzepten wie dem Rassismus. Nicht jedes Konzept des guten Lebens ist gut.

Zum Konzept des Spiels gehört es, das jeder jederzeit aussteigen kann. Sonst ist es kein Spiel, sondern Ernst. Aus der Tatsache, dass kein Fußballspieler aus einem Bundesligaspiel aussteigen kann, will er nicht Opfer von Missachtung und Verfolgung werden, kann man deshalb schließen, dass es sich bei dem in der Bundesligea organisierten Fußball nicht um ein echtes Spiel handelt, sondern um eine Disziplinierungs- und Herrschaftsmaschine. Ich weiß nicht, ob das an der normativen oder der evaluativen Komponente der Bundesliga liegt, vielleicht an beidem. Mein Konzept des guten Lebens sagt deshalb zur Bunten Liga ja und zur Bundesliga nein. Mal sehen, was sich im Laufe der Geschichte durchsetzt.