Was heißt: „Den Kapitalismus abschaffen“?

Der Kapitalismus ist nicht eigentlich eine Wirtschaftsweise, sondern eine Gesellschaftsformation. Dieses ist er, insofern er eine Textur ist, die Entscheidungsrechte (also die Möglichkeit von Subjekten, sich in einem politischen Raum zu verorten) systematisch mit Profiten und Eigentum an Kapital (sowohl konstantem als auch Geldkapital) verknüpft.

Das Gewebe, das dadurch entsteht, ist zweidimensional, weil die eine Dimension durch den Staat, Staatsapparate und Rechte von Individuen gebildet und die andere Dimension durch die Ökonomie des Kapitalismus und das Markthandeln in kapitalistischen Strukturen gebildet wird. Das Verwobensein beider Dimensionen kann man sich anhand von Eigentumsrechten klarmachen. Eigentumsrechte sind Teil der politischen Struktur, insofern der Staat sie schützt durch Gesetze und Polizei, und daraus die Legitimität des Erhebens von Steuern herleitet, um den Staatsapparat zu finanzieren.

Problematisch ist das Gewebe oder die Textur des Kapitalismus, weil es unseren Alltag fast komplett durchzieht: Es bildet eine topographische Ordnung, die unser Handeln leitet, meist ohne dass wir dies wahrnehmen. Beispiele sind: Der Eintritt bei Kulturveranstaltungen, das Verbot von Tauschhandel für Ladenbesitzer, die Hygienevorschriften für Restaurants, die Verknüpfung von Aufenthaltsrechten mit Eigentumstiteln und sozio-ökonomischem Status, die Dresscodes in Firmen etc.

Aber der Kapitalismus kann nie den ganzen mehrdimensionalen Raum einnehmen, der Gesellschaft ist, solange es Handlungen, Personen und Institutionen gibt, die sich in diesem mehrdimensionalen Raum befinden. Der Kapitalismus kann nur immer mehr Dimensionen einebnen, so dass er sie in sein Gewebe integriert, oder ihnen zumindest ihre Struktur in zwei von drei oder mehreren Dimensionen vorgeben.

Ein Beispiel ist die Familie. Die Familie hat als soziale Gruppe unter anderem die Dimensionen der Entscheidungsrechte (die in diesem Fall zwischen Eltern und minderjährigen Kindern asymmetrisch verteilt sind) und die Dimension der Ökonomie (Erbe, Taschengeld, Haushaltsgeld, Eheverträge), aber auch die Ebenen der Liebe, der Anerkennung, der Interessen (die sich nicht in ökonomischen und politischen erschöpfen, sondern auch ästhetische, thematische und andere Wünsche umfassen), Solidarität, Kultur, Leiblichkeit, natürliche Instinkte etc.

Der Kapitalismus ist eine Gesellschaftsformation, insofern er es vermag, alle diese Dimensionen durch seine zweidimensionale Gewebestruktur zu durchdringen, ihnen ihre Verhältnisse zueinander vorzustrukturieren oder in Konflikt- und Entscheidungssituationen die ausschlaggebende Ordnung darzustellen.

Den Kapitalismus abschaffen heißt erst einmal nicht viel mehr, als ihm diese Organisations-, Normalisierungs- und Normalitätsfunktionen zu entziehen. Kapitalismus abschaffen heißt daher vor allem eine ganze Reihe von Alltagshandlungen zu vollziehen, die die Mehrdimensionalität des sozialen und politischen Lebens erhält, zurückerobert oder neu schafft.