Ökologismus, Anarchismus und die hessischen Grünen

Gestern ging ich die Straße entlang, in der ich wohne, und fragte mich, warum ich eigentlich keine Ideologie mehr habe. Früher hatte ich mal eine, dachte ich, wo ist die hingekommen? Und was war es noch gleich für eine? Ich spürte schmerzlich, dass diese spezielle Form des modernen Glaubens eine Stütze für mich gewesen war, meine Entscheidungen zu treffen: Diese jetzt abhanden gekommene Glaubensvorstellung hatte mir doch in vielen Situationen geholfen, Gründe zu finden, warum ich wie handeln sollte und das, was ich getan hatte, auch vor anderen zu rechtfertigen.

Und jetzt war sie anscheinend weg. Ich fing an, einige Momente lang angestrengt nachzudenken. Was war es noch gewesen, an das ich geglaubt hatte? War es was religiöses? Ich erinnerte mich dunkel an eine Phase pantheistischer Vorstellungen davon, dass irgendwelche geheimnisvollen Kräften in allen Lebewesen und in der Welt wirkten. Da war ich 18. Aber das konnte es nicht gewesen sein, weil ich in der Zeit eher orientierungslos war und der Vorteil von meiner Ideologie musste es doch gewesen sein, dass sie mir genau sagte, wo es lang zu gehen hat.

Dann erinnerte ich mich, dass ich ja vor der pantheistischen Phase Anarchist gewesen war. Ich hatte ein Buch über Anarchismus gelesen (von Daniel Guérin, Suhrkamp), und ich hatte eine schwarze Fahne genäht, die ich immer aus dem Fenster hing, wenn meine Eltern in Urlaub fuhren und meine Geschwister und ich das Haus für uns hatten.

Ich hörte dann aber irgendwann vorläufig auf, an den Anarchismus zu denken. War ich ideologielos geworden? Das würde erklären, warum mir große Teile der darauffolgenden Lebensjahre im Rückblick betrachtet so vorkommen, als sei ich einfach so dahingedriftet, ohne richtig zu wissen, wohin.

Ich dachte noch einen Moment länger nach (ich habe im Philosophiestudium gelernt, dass man nicht zu früh mit Nachdenken aufhören sollte) und da fiel mir folgendes Wort ein: „Ökologismus“. Da hatte ich nun dieses Gefühl gelinden Erschreckens, das mich oft ergreift, wenn ich eine Wahrheit erkannt habe, die nicht nur angenehm ist. Klar: Ich hatte ja mit 15 die Jungen Grünen Kreuztal mitgegründet und war lange Jahre dort mehr oder weniger aktiv.Und offensichtlich hatte ich dort eine Ideologie vermittelt bekommen, die ich nur nicht so klar als Ideologie erkannt habe: Ökologismus.

Ökologismus verhält sich zum Ökologischen wie der Sozialismus zum Sozialen: Menschen sind soziale Wesen, das ist ein spätestens seit der griechischen Antike bekannter Fakt, und selbst die konservativen und die reaktionären Gegner*innen der Sozialist*innen würden das nie bestreiten, aber die sozialistische Ideologie beschreibt diesen Fakt nicht nur, sondern leitet daraus die Notwendigkeit ab, eine solidarische und gerechte Gesellschaft zu schaffen, in der es keine Klassen von Menschen mehr gibt, keine Spaltung zwischen Besitzlosen und Besitzenden, Mächtigen und Ohnmächtigen.

Genau diese Doppeldeutigkeit, ein unbestreitbares Faktum zu beschreiben, und gleichzeitig daraus  abzuleiten, dass wir auf eine ganz bestimmte Weise handeln müssen, ist auch charakteristisch für den Ökologismus. Der Fakt ist: Menschen sind Lebewesen, die nur in einer lebendigen und intakten natürlichen Umgebung als Art überlebensfähig sind. Daraus leitet aber der Ökologismus die Forderung ab, dass wir diese natürliche Umgebung schützen und erhalten müssen. Laut der ökologistischen Ideologie muss das das oberste Prinzip unseres Handelns und wichtiger als alle anderen Leitideen sein (zum Beispiel des Sozialismus, des Liberalismus, des Konservatismus und so weiter).

Und genau wie beim Sozialismus kann man dem scheinbar nicht so richtig widersprechen: Wer will schon bestreiten, dass Menschen Luft atmen, sich ernähren und vor Überschwemmungen und Dürren geschützt werden müssen, wenn sie überleben wollen?

Was aber nicht so ganz koscher am Ökologismus ist, ist dasselbe wie bei allen anderen Ideologien: Dass Ökologist*innen so reden und handeln, als hätten sie im Gegensatz zu den Anhänger*innen anderer Glaubensrichtungen als Einzige die Einsicht, was das oberste Orientierungsprinzip im Politischen sein muss.

Damit das funktioniert und möglichst viele Menschen das glauben (was ziemlich hilft, wenn man an die Macht will), muss der Ökologismus aber verschleiern, dass er auch bloß ein Glaube unter vielen ist, und sein Prinzip deshalb auch nur eins unter vielen. Das funktioniert so, dass Ökologist*innen so tun und reden, als könnten sie von außen auf die Welt schauen und würden sie, im Gegensatz zu den Konservativen oder Sozialist*innen, als einzige total verstehen. Weil sie eben von außen auf sie schauen und so erkennen können, was die Welt zusammenhält. Und nur wer das Ganze begreifen kann, hat auch natürlich die Ahnung, was alle tun müssen, damit wir gut leben können.

So. Da hatte ich es also: Ich war lange Jahre meines Lebens Anhänger einer Ideologie gewesen, die ich gar nicht als solche erkannt hatte, unter anderem, weil ich das Wort Ökologismus noch nicht kannte. Das war der Grund, warum ich so ein bisschen erschrak, als mir das Wort einfiel: Ich erschrak über meine eigene Blindheit.

Heute bin ich Ökologist, wie ich Anarchist bin: So teilweise. Ich finde es gut, die Umwelt zu schützen und fahre deswegen Fahrrad und Bahn statt Auto, und kaufe Öko-Produkte ein, wo immer ich kann. Aber ich habe nicht mehr das Gefühl, auf einer Mission zu sein und alle Leute davon überzeugen zu müssen, dass das oberste Prinzip unseres Lebens der Schutz der ökologischen Systeme sein muss. Ich glaube nämlich, dass hinter diesem missionarischen Motiv ein als Fürsorge verkleideter Machtwille steckt. Weshalb ich auch ehrlich gesagt von meiner Freundin Angela Dorn sehr enttäuscht war, als sie auf der Landesmitgliederversammlung der hessischen Grünen letztes Jahr die schwarz-grüne Koalition damit gerechtfertigt hat, dass wir durch den Koalitionsvertrag jetzt sicher sein könnten, auch in Jahrzehnten noch unter denselben Bäumen spazieren gehen zu können. Dass wir dank der hessischen CDU auch in Jahrzehnten noch Beton und Lärm der neuen Startbahnen des Fraport ertragen müssen, kam in ihrer Rede nicht so vor. Das war für mich umso schlimmer, als ich ja vor der Landtagswahl 2014 noch als Komparse in einem Wahlwerbevideo für Angela Dorn mitgespielt habe. Wir liefen da unter hessischen Bäumen entlang.

Ist jetzt halt doof gelaufen in Hessen, könnte aber schlimmer sein, wenn die CDU die absolute Mehrheit bekommen hätte, zum Beispiel. Aber mein Ökologismus hat mich, statt mich vernünftig zu orientieren, in eine Falle gelockt, in der meine Emotionen, meine sozialen Beziehungen und meine Ziele von der hessischen CDU  für Machtzwecke benutzt werden konnten. Dadurch bin ich jetzt doch wieder mehr Anarchist geworden: Ich habe wieder ein tiefes Misstrauen gegen Mächtige, Machtwillen und Machtverhältnisse.