Mein Fahrrad, Heidegger und die Unverständlichkeit der Welt

Ich radelte heute zur Post und dachte dabei über mein Fahrrad nach. Ich fragte mich, wer es wohl zusammengeschraubt hat (es ist so ein Hollandrad aus den 70ern), und wo die Teile herkommen und wer das Eisenerz geschürft und den Stahl verhüttet hat und wie überhaupt diese Scheiben, aus denen die Kette besteht, hergestellt werden – werden die gegossen? Oder irgendwie gefräst? Mir fiel auf, dass ich keine Ahnung habe, wie das komplexe Teil, mit dem ich jeden Tag zur Arbeit fahre, überhaupt gebaut wird.

Weil ich Philosophen zu Freunden habe, fiel mir sofort Heidegger ein. Der hat von der „Bewandtnisganzheit“ geschrieben, womit er laut Aussage meines Freundes Daniel die Idee bezeichnet hat, dass uns die uns umgebenden Gegenstände als Teile einer möglicherweise erkennbaren sinnhaften Gesamtheit erscheinen – am Beispiel meines Fahrrads kann man sagen, dass in den 70er Jahren eine ganze Menge Leute in verschiedenen Ländern und Berufen verschiedene Dinge getan haben, aus deren Gesamtsumme das Fahrrad entstanden ist, das den Sinn hat, dass ich damit zur Arbeit fahren kann. Wenn es kaputt geht, ist es nicht mehr sinnvoll, sondern wird zum Problem – ich höre auf zu radeln und fange an nachzudenken, wie ich es reparieren kann. Heidegger nennt das so: „Das Fahrrad ist nicht mehr zuhanden, sondern vorhanden“. Wir switchen deshalb vom praktischen Benutzen zum theoretischen Nachdenken.

Mein Fahrrad ist zwar heute nicht kaputt gewesen, aber es schleifte ein bisschen und ich will Heidegger mal wohlwollend soweit folgen und annehmen, dass das Schleifen mein Fahrrad für mich vom Zuhandenen zum Vorhandenen gemacht hat, weshalb ich über es nachdachte.

Das Ergebnis meines Nachdenkens war, dass ich verblüffend wenig darüber weiß, wer eigentlich alles was warum macht, bis am Ende so ein Rad herauskommt – womit mir mein eigenes Denken vom Zuhandenen zum Vorhandenen wurde, weil ich nämlich sehr bald sehr am Ende war mit dem Versuch, denkend meine Welt – selbst angesichts der noch recht einfachen Form meines Fahrrads – zu verstehen.

Das ganze Nachdenken ist ja noch ein recht harmloses Freizeitvergnügen – bis eine Finanzkrise kommt und den Fräser (oder Gießer) meiner Fahrradkettenbestandteile arbeitslos macht, den ganzen Ablauf der Fahrradproduktion zerschlägt und es im schlimmsten Fall unmöglich macht, Ersatzteile zu bekommen, weshalb das Fahrrad vorhanden bleibt und – trotz allen Nachdenkens über die Bewandtnisganzheit – nicht wieder zuhanden wird.

Daraus schlussfolgere ich messerscharf, dass es nicht reicht, erst zu fragen, was es mit den Finanzmärkten für eine Bewandtnis hat, wenn sie nicht mehr funktionieren. Man muss also dem Vorhandenwerden zuvorkommen und sich schon mal während man etwas benutzt (wie zum Beispiel Geldanlagen in Form von Finanzderivaten kauft) Gedanken machen, wie es funktioniert. Zum Glück leben wir in einer Gesellschaft, in der nicht jeder alles verstehen muss. Deshalb reicht es, wenn Christian in meiner Fahrradwerkstatt, der gelernter Industrieschlosser ist, weiß, wer wie und warum die Einzelteile von Fahrradketten herstellt. In Anlehnung an eine Idee von Hilary Putnam kann man das das Prinzip der hermeneutischen Arbeitsteilung nennen.

Die funktioniert jetzt aber auch nur so lange, wie alle Leute den verschiedenen Fachleuten vertrauen, ob es jetzt Banker_innen oder Industrieschlosser_innen sind, und glauben, dass die genug wissen, um nicht funktionierende Sachen wieder zu reparieren. Das ist ein Problem, weil es immer Banker_innen und Industrieschlosser_innen gibt, die kein Interesse daran haben, dass alle Gegenstände funktionieren, weil sie mehr Geld verdienen können, je mehr kaputt geht, was sie reparieren müssen. Bei Finanzderivaten ist die Sache eigentlich noch bescheuerter – weil manche Derivate nur dadurch Geld bringen, dass andere kaputtgehen. Ich frage mich sowieso, wie die Leute bei solchen Bewandtnissen einander überhaupt vertrauen.

Franz Kafka hat ja bei einer Versicherung gearbeitet – was vielleicht erklärt, warum seine Geschichten oft so gruselig sind und scheinbare Gewissheiten flux in nichts auflösen – Kafka wusste wahrscheinlich sehr gut, wie den Leuten scheinbare Sicherheit verkauft wurde, die sich dann im Ernstfall als ungedeckter Scheck erwies – tut uns leid, Sie hätten Anlage 25 f ihrer Versicherungspolice lesen sollen, denn darin sind Brandschäden durch Feuersbrünste, die durch Kabelbrand in Elektrogeräten, die älter als 2 Jahre sind, ausgelöst wurden, ausdrücklich von der Erstattung ausgenommen.

Leider ist allein die Zeit, die man braucht, um sich mit der Bewandtnis seiner eigenen Versicherungspolicen vertraut zu machen, inzwischen so enorm, dass man entweder seinen Job kündigen oder auf Kontakt zu seinen Freunden verzichten müsste, um wirklich zu verstehen, was man tut, wenn man die Policen unterschreibt.

Wie schwierig wird es dann wohl, die Bewandtnisganzheit zu verstehen? Ich finde, wir sollten es da mit Heideggers Lehrer Husserl halten, der geschrieben hat, dass man, wenn man überhaupt etwas erkennen will, gut daran tut, alle Sinnkonstruktionen, die man beim Wahrnehmen normalerweise automatisch verwendet, zeitweise außer Kraft zu setzen, und ersteinmal möglichst unvoreingenommen zu schauen, was man vor sich hat. Die Bewandtnisganzheit können wahrscheinlich nur Leute, die ordentlich Peyote genommen haben, ansatzweise verstehen. Und die haben dann natürlich alles wieder vergessen, sobald sie wieder klar sind. Wahrscheinlich zum Glück.