Von den blauen Bergen kommen wir

Verse 1:
G D
Von den blauen Bergen kommen wir, und wir lügen ganz genauso viel wie ihr
G C
Hab’n im Schrank nicht alle Tassen, doch wir können super hassen,
D G
von den blauen Bergen kommen wir.

Chorus:(2x)
G D
Wir Singen blabla jippi jippi jeh, Singen blabla jippi jippi jeh,
G C D G
wir singen blabla, jippi jippi, blabla, jippi jippi, blabla, jippi jippi jeh!

Verse 2:
Von den blauen bergen kommen wir, und wir lügen ganz genauso viel wie ihr
Soll’n die Reichen Geld verprassen und der Staat hat leere Kassen,
denn die Zeche zahlt am Ende ja dann ihr!

Chorus

Verse 3:
Kohle, Öl Atom, die beste Energie! Denn die Zukunft interessierte uns noch nie
Was du heute kannst verbraten, damit solltest du nicht warten,
denn ne Rechnung von den Enkeln kriegst du nie!

Chorus

Verse 4:
Woran liegst? Wir schreien immer: Migration! Grenzen dicht und dann regelt sich das schon.
Soll’n die Armen doch ersaufen, solang Scheiche Benze kaufen,
ist das alles doch im Dienste der Nation!

Chorus

Gnu Public Licence 2025 – frei verfügbar außer für kommerzielle Nutzung.

Herz statt Merz – auf der Marburger Demo gegen die CDU-Migrationspolitik

Ich war nicht so sicher, ob ich gestern um 18:00 zur Demo gegen die CDU-Gesetzespläne gegen Migration, denen auch die AfD zugestimmt hat, gehen sollte. Ich bin für Gespräche und gegen Fronten in der Gesellschaft. Aber ich habe dann gelesen, dass Merz das Asylrecht faktisch so einschränken will, dass es kaum noch jemand in Anspruch nehmen könnte. Also bin ich trotzdem hingegangen, weil das ein Kern-Grundrecht im Grundgesetz ist.

Wir liefen ganz am Schluss der Demo durch die Frankfurter Straße, als uns drei kleine Jungen ansprachen, ich schätze, sie waren 11 oder 12 Jahre alt. Einer fragte uns: „Worum geht es denn hier?“ Ich antwortete: „Wir protestieren gegen die MIgrationspolitik der CDU.“ Da sie das nicht genau verstanden, erklärte Ihnen meine Freundin, was das heißt. Der Junge bekam große Augen: „Dann geht es darum, dass ich hierbleiben kann?“ Sein einer Freund sagte: „Wir kommen aus einem anderen Land!“ Der dritte Junge in der Mitte darauf freudig: „Ich habe einen deutschen Pass!“, der erste: „Echt? Cool!“ und zu mir: „Also geht es gegen die AfD?“ Ich: „Ja!“ Er darauf: “ Dann ist das ja eine gute Parade! Dürfen wir mitlaufen?“ Ich (um Fassung ringend): „Ja klar! Aus welchem Land kommt ihr denn?“ Der erste antwortete: „Aus Russland!“, der zweite mit dem deutschen Pass: „Aus Kirgistan.“ Sie liefen eine Weile mit. Später kamen sie uns entgegen, die Demo verlassend, und ich rief ihnen zu: „Tschüss!“ Der erste Junge aus Russland grüßte und rief: „Tschüss! Danke, dass ich hierbleiben darf!“

Von dem Moment an hatte ich keinen Zweifel mehr, dass es richtig war, auf der Demo mitzulaufen.

Auf dem Schild steht „Ornithologische Aktion“ – Marburg, Demo gegen die Zusammenarbeit der CDU mit der AfD am 31.1.2025, Frankfurter Straße.

Was ist eigentlich eine Krise?

In den politischen Reden von Tarek al Wasir und von Robert Habeck, die ich in Marburg gehört habe, sagten beide, dass wir gerade mehrere Krisen zugleich erleben würden: Die Corona-Krise hätten wir gerade hinter uns, zugleich seien wir in der Ukraine-Krise und in der Klimakrise.

Wladimir Kaminer diagnostiziert uns Deutschen ironisch, die Bevölkerung würde sich in Krisengemeinschaften aufteilen, die jede um ihre eigene besonders schlimme Krise gruppiert sei – und ergänzt zu den grünen Diagnosen noch die rechte Variante: „die Migrationskrise“, und die ökonomische Variante: die Wirtschaftskrise. Es wird auch eine Demokratiekrise diagnostiziert.

Aber was ist eigentlich eine Krise? Ich habe darüber nachgedacht und stelle hier mal ein paar Definitionen in den Raum.

Zuerst habe ich versucht, verschiedene Arten von Krisen zu unterscheiden. Ich unterscheide grob folgende 3 Kategorien: individuelle Krisen, die einzelne Menschen durchleben; das können Krankheiten oder Lebenskrisen sein; soziale Krisen, die Gruppen von Menschen oder ganze Gesellschaften durchleben, das können zum Beispiel politische oder wirtschaftliche Krisen sein, und natürliche Krisen wie die Klimakrise, in die ganze Ökosysteme geraten können.

Dies ist die Idee der Systemtheorie davon, was eine Krise ganz allgemein ist: Der Prozess, in dem ein System sich entweder erfolgreich verändert oder desintegriert, indem es sich in seiner Umwelt auflöst und damit zu existieren aufhört. Ich finde es aber etwas zu technisch, Lebendiges wie Menschen, Gruppen von Menschen oder einen Wald als ein „System“ zu beschreiben. Um das zu vermeiden, schlage ich vor, ein „System“ als diejenige Beziehung zwischen einer Ordnung und einem Chaos zu begreifen, die ein Leben möglich und gut macht. Eine Krise entsteht, wenn diese Beziehung zwischen Ordnung und Chaos das Leben schlechter oder unmöglich macht.

Warum ist eine Krise für das Lebendige gefährlich? Und was ist eine lebensfördernde Beziehung zwischen Ordnung und Chaos? Ich frage jetzt für die drei Krisenkategorien (individuell, sozial, natürlich) jeweils genau nach.

Individuelle Krisen können körperlich oder psychisch sein. Eine Viruserkrankung als Beispiel für eine körperliche Erkrankung kann eine Krise des infizierten Organismus hervorrufen. Der Organismus versucht, seine Funktionen zu erhalten, indem er die unkontrollierte Instrumentalisierung seiner Zellen durch die Viren begrenzt (etwa durch Fieber und Immunreaktionen) und so die Funktionen der Zellen soweit sichert, dass der Organismus integriert bleiben kann. Das Chaos ist das unkontrollierte Zweckentfremden von Zellen, die Ordnung ist die Funktionalität der Zellen im integrierten Ganzen des Körpers. Ist andererseits die Immunreaktion zu stark, schadet es dem Organismus auch, weil eine Autoimmunerkrankung entsteht, er muss also eine Balance zwischen Ordnung und Chaos finden.

Psychische Krisen dagegen würde ich so als gestörte Beziehung zwischen Ordnung und Chaos beschreiben: Sinnerleben und Glück sind eine bestimmte emotionale Balance zwischen Vernunft (Ordnung) und Trieben (Chaos); Wenn die Psyche zum Pol der Ordnung kollabiert, versucht sie, alles unter Kontrolle der Vernunft zu bringen und Leben wird zu bloßem Berechnen; wenn sie zum Pol des Chaos kollabiert und nur noch aus unzusammenhängenden Impulsen besteht, wird Leben unverständlich und sinnlos. Die gelingende Balance zwischen Vernunft und Trieben im emotionalen Kern der Psyche einer Person bewirkt, dass sie motiviert ist, ihr Leben zu leben, weil sie Wünsche, Gefühle, Gedanken und Ziele hat, die ihr auch entsprechen, die sie also als ihre eigenen erlebt und selbst mitgestaltet.

Ob diese Balance einem Menschen gelingt, hängt offensichtlich auch von der sozialen Situation ab, in der die Person lebt. Was aber, wenn diese durch soziale Krisen geprägt ist?

Ein Beispiel für eine soziale Krise ist eine politische Krise. Politik entsteht überall da, wo Menschen zusammenleben. Dadurch entsteht Chaos, wenn die unterschiedlichen Wünsche und Ziele der einzelnen Menschen zu Konflikten zwischen ihnen führen. Das kann in eine Krise führen, weil die Situation so chaotisch wird, dass es immer unwahrscheinlicher wird, dass alle ihre Ziele und Wünsche halbwegs verwirklichen können.

Am anderen Pol des Spektrums kann eine Gruppe auch so organisiert werden, dass die Wünsche und Ziele der einzelnen Mitglieder dem Wohl der Gruppe komplett untergeordnet und unterworfen werden. Dann kollabiert das Gleichgewicht zum Pol der Ordnung.

Ein drittes Krisenszenario in politischen Krisen ist eine misslingende Balance zwischen beiden Extremen Ordnung und Chaos, so dass die einzelnen Personen den Sinn der jeweiligen Balance zwischen Konflikten und Unterordnung unter die Gruppe nicht erkennen können und deshalb das Zusammenleben als absurd empfinden.

In der Wirtschaft sehe ich zwei Prinzipien, die beide ein eigenes Koordinieren von Chaos und Ordnung leisten: Konkurrenz und Kooperation. Konkurrenz ist nicht reines Chaos, sondern ein Prinzip, wie chaotische Prozesse (wie z.B. Kreativität) in einen Ordnungsrahmen (Regeln, nach denen der Wettbewerb abläuft) integriert werden und so Reichtum generiert wird. Kooperation erfordert zwar Ordnung und Absprachen, hat aber auch chaotische Elemente, weil oft die eine Partner*in nicht genau weiß, was die andere tun wird. Deshalb bedeutet gelingende Kooperation oft, die anderen machen zu lassen und dann irgendwie spontan damit umzugehen, was dabei herauskommt.

Diese beiden Prinzipen können auch kollabieren: Zum Pol der Konkurrenz kollabieren soziale Gefüge, wenn der Reichtum extrem ungleich verteilt wird, zum Pol der Kooperation kollabieren sie, wenn durch Stillstand und Erosion des Geschaffenen keine Erhaltung der Werte mehr gelingt und deshalb alle ärmer werden. Beide Formen von Kollaps können dazu führen, dass nicht alle Personen genügend mit knappen Gütern versorgt werden, die Wirtschaft ist dann dysfunktional. (Die Weltwirtschaft war noch nie in einem anderen Zustand).

Diese Dysfunktionalität verweist auf die natürlichen Krisen, weil Knappheit aus der Lage der Biosphäre in einer lebensfeindlichen natürlichen Umwelt notwendig folgt.

Die Biosphäre ist das Zusammenleben aller lebendigen Wesen auf dem Planeten, die sich selbst die Bedingungen ihres Weiterlebens und ihrer Entwicklung schaffen, z.B eine bestimmte Zusammensetzung der Atmosphäre; ein bestimmtes Klima; funktionierende Stoffkreisläufe wie Wasserkreisläufe. Die Biosphäre scheint auch nach zwei einander teilweise widersprechenden Prinzipien organisiert zu sein, nämlich Weiterleben und sich Entwickeln. Sobald der Pol des Weiterlebens (z.B. einer bestimmten Spezies) überbetont wird, wird Entwicklung verlangsamt oder kommt zum Stillstand, und umgekehrt, sobald Entwicklung zum dominanten Prinzip wird, sterben Spezies aus. Beide Prinzipien vermitteln zwischen Ordnung und Chaos und nur eine gelingende Ausbalancierung der Prinzipien kann das Lebendige lebendig halten.

Aus diesen Überlegungen ziehe ich die Schlussfolgerung, dass Leben immer neue Balancen zwischen den Polen Ordnung und Chaos finden muss, um lebendig zu bleiben. Scheinbar tauchen, sobald auf einer Ebene Prinzipien des Ausbalancierens gefunden wurde, auf der nächsten Ebene wieder Probleme beim Ausbalancieren der Prinzipien auf.

Meine Abschlussthese ist, dass es auf der Ebene der Biosphäre gar nicht lebenserhaltend wäre, einen statischen Zustand der endgültigen Balance zu finden, weil die Ökosysteme dann nicht mehr daran gewöhnt wären, sich an neue anorganische natürliche Umweltbedingungen anzupassen. Das würde in einem höheren Risiko münden, dass das Leben ganz stirbt. Es ist für die Biosphäre weniger riskant, in Krisen ständig neue Balancen finden zu müssen, als in einem krisenlosen statischen Zustand überzugehen, weil das Ausbalancieren besser darauf vorbereitet, mit veränderten Umgebungen im All zu leben. Und die sind wahrscheinlicher als ihr Gegenteil.

Ich weiß nicht genau, ob dieses Argument richtig ist und ob und inwieweit es sich auch auf die anderen Ebenen sozialer und individueller Krisen übertragen lässt, aber ich denke, dass wir im Moment in Deutschland etwas zu panisch auf Krisen reagieren und tendenziell mehr diesen Aspekt von Krisen fokussieren sollten: Dass alle lebendigen Wesen und auch die ganze Biosphäre in Krisen durch das Ausbalancieren zwischen extremen Polen und zwischen Ordnung und Chaos lernen, sich entwickeln, wachsen und Probleme lösen.

Der Kapitalismus als sich selbst vernetzendes Netz

Eine Frage an Dich: Ist es Dir wichtiger, das System von Wirtschaft und Gesellschaft zu verstehen, oder wichtiger, die Strategien von Menschen und Klassen und großen Gruppen (wie „dem Proletariat“ als Protagonist der Geschichte und „der Bourgeoisie“ als Antagonist) zu verstehen? Ich glaube, es ist wichtiger, zuerst das System zu verstehen und danach die Akteure, die in seinem Rahmen agieren. Denn wer die Spielregeln eines Spiels nicht versteht, versteht auch nicht richtig, was die Spieler* auf dem Feld eigentlich genau machen und warum sie es tun. Zum Verständnis der Spielregeln des kapitalistischen Systems soll dieser Text einen Beitrag leisten.

Im Marxismus gibt es die klassische Formulierung, das Kapital sei ein „sich selbst verwertender Wert“. Ich habe darüber nachgedacht und mir eine Ergänzung dieses theoretischen Konzepts ausgedacht: Für die Gesellschaftsanalyse könnte es nützlich sein, den Kapitalismus als ein sich selbst vernetzendes Netz zu verstehen.

Wenn ich mir die klassische Definition vom „sich selbst verwertenden Wert“ genauer anschaue, steckt dahinter das Bild, der Kapitalismus als System habe im Zentrum diese fast mathematisch beschreibbare Funktion: Aus einem Wert (z.B. einem Kapital in Form des Eigentums an Maschinen) wird mithilfe der Arbeitskraft einer gegen Lohn angestellten Arbeiter*in ein Mehrwert erzeugt, der Gewinn daraus wird zu dem ursprünglichen Kapital addiert und ergibt dadurch einen zweiten Wert, nämlich das im ganzen Prozess um eine bestimmte Größe gewachsene Kapital. Mathematisch gesagt wird also ein Input – Wert (Kapital 1, auch „g“ genannt) durch eine bestimmte Funktion (Produktion und Verkauf einer Ware) auf einen durch diese Funktion genua bestimmten Output – Wert abgebildet (Kapital 1+ Gewinn = Kapital 2, auch g’ genannt).

Ein sich selbst vernetzendes Netz macht jetzt in meiner Metapher mehr als das: Ein Wert, der als Information in ein Netz von Funktionen statt in eine einzelne Funktion eingespeist wird, bildet sich, wenn er einen Netz-Knoten durchläuft, von dem mehrere andere Netzverbindungen zu anderen Knoten abgehen, gleichzeitig auf mehrere andere Werte ab (die Outputs, die jeweils spezifisch über die jeweilige Verbindung an die anderen Knoten weiterlaufen). Ein Impuls durchläuft das Netz so auf multiplen Funktions-Wegen und erzeugt multiple weitere Informationsflüsse (von Werten). Im konkreten Fall ist der Lohn der Arbeiter*in zum Beispiel ein solcher Wert, aber auch der Kredit, der von der Firma für den Kauf der Maschine bei einer Bank aufgenommen wurde, und die Information, die über den Markt beim Kauf der mit der Maschine produzierten Ware an eine Konkurrenzfirma weitergegeben wurde, weil das Produkt statt deren Konkurrenzprodukt gekauft wurde, was sich auf deren Gewinn auswirkt.

Mit Selbst-Vernetzung des Kapitalismus meine ich, dass ein konkretes „Kapital“ (wie das Eigentum an bestimmten Maschinen) einen Knoten im Netz des Kapitalismus bildet, das sich durch immer mehr neue Knoten (zum Beispiel Unternehmen, Konzerne, Privatvermögen, Geldinstitute und ökonomische Privilegien von Gruppen und Personen) ausdehnt, dabei immer mehr Verbindungen zwischen weit entfernten Elementen des Netzes bildet und die nah beieinander liegenden Knoten dichter verflechtet, wodurch der Impuls, den ein Wert als Input in das Netz gibt, über immer mehr gleichzeitig ablaufende Funktionen auf immer mehr andere Werte im Netz abgebildet wird.

Wer sich ein bisschen in der Kognitionsbiologie auskennt, hört sicher schon die Nachtigall trapsen: Meine Metapher ähnelt stark den kognitionsbiologischen Modellen von neuronalen Netzen. Lernen heißt dann in dieser Metapher für den Kapitalismus, dass dessen Netz auf Umwelteinflüsse (zum Beispiel Entscheidungen von Menschen, neue Gesetze in Staaten oder Überschwemmungen) reagiert, indem bestimmte Verbindungen zwischen bestimmten Knoten des Netzes verstärkt werden (der Input – Wert also schneller und leichter zu einem Output-Wert über die gestärkte Verbindung führt) und andere Verbindungen geschwächt oder abgebaut werden (diese Verbindungen also einen Input – Wert kaum oder gar nicht mehr weitergeben). Das können Pleiten oder das Schrumpfen von Firmen und Banken oder ein zahlungsunfähiger Staat sein.

Dass der Kapitalismus als Kommunikationsstruktur durch die Selbst-Vernetzung schneller lernt und Informationen global und regional schneller weitergegeben werden, wäre eigentlich ein hoffnungsvoller Befund – es ist nur so, dass dieses Lernen scheinbar primär dem Überleben und Wachsen des Kapitalismus selbst dient und nicht dem Überleben und dem guten Leben aller Menschen weltweit. Das Lernen und Selbst-Vernetzen des Kapitalismus verbessert unsere Gesellschaft deshalb nur, insoweit es für dessen eigenes Lernen und Wachsen notwendig und nützlich ist. Wenn andere Kommunikationsstrukturen, zum Beispiel die Machtprozesse in Demokratien, mit seinen Zielen in Konflikt kommen, lernt er als Netz von Funktionen durch seine Selbst-Vernetzung dann leider aber auch immer schneller, den Einfluss von Demokratie auf das menschliche Zusammenleben und die Natur zurückzudrängen. Das Ergebnis sind dann zum Beispiel Steuersenkungen für die Kapitaleigner und parallel dazu Schuldenbremsen, die die öffentliche Infrastruktur zum Beispiel in den Bereichen Wohnen, Verkehr, Bildung, Gesundheit, Verwaltung und Medien langsam erodieren, während gleichzeitig Menschen, nicht-menschliche Lebewesen und die Ökosysteme schutzlos dem Kapital zur Ausbeutung überlassen werden, indem zum Beispiel die Klimaziele ausgesetzt werden und das Tariftreuegesetz nicht zustandekommt.

Falls sich die vernünftigen Personen in der FDP jetzt einseitig marxistisch angegriffen fühlen: Ich möchte mit diesen Argumenten nicht für einen Angriff auf den Kapitalismus werben, sondern dafür, das Kommunikationsnetz des Kapitalismus davor zu schützen, dass es seine eigenen Existenzbedingungen zerstört. Denn es hat materielle und kommunikative Existenzbedingungen, die es nicht selber schaffen kann. Wenn Straßen und Datenkabel um eine Firma herum durch Überschwemmungen zerstört sind, kann das tollste Produkt ihr keinen Gewinn mehr bringen, weil sie es an niemanden verkaufen kann, nicht mal die Information darüber, dass es existiert, erreicht irgendjemanden. Wenn das Gesundheitssystem kaputt ist, wird es nicht genug Arbeitskraft geben, um die Maschinen und Rechner zu warten und zu bedienen, die zur Gewinnerwirtschaftung nötig sind, und die Funktionen werden gestoppt. Wenn das Bildungssystem kaputt ist, wird niemand mehr die Kommunikationen im Netz des Kapitalismus verstehen und es werden massenweise Fehlerimpulse eingespeist. Wenn die Demokratie nicht mehr funktioniert, oder auch nur viele Menschen glauben, dass sie nicht mehr funktioniert, wird es Aufstände geben, und Aufstände sind schlecht fürs Geschäft, außer natürlich für die Geschäftsmodelle Diebstahl und Raub. Das sind zwar auch Impulse, die ins Netz gegeben werden, aber sie führen zu einer Art informationellem Nullsummenspiel, bei dem ein Plus durch ein Minus eliminiert wird und am Ende gar keine Informationsverarbeitung mehr stattfindet. Das System hört dann auf, zu lernen. Und so kapitalismuskritisch ich auch denke: Wir haben im Moment keine alternative Kommunikationsstruktur, die das lernende Netz des Kapitalismus in seinen Funktionen für die Menschen weltweit adäquat ersetzen kann. Karl Marx möge mir verzeihen.

Christian Lindner spart an der Freiheit

Was durchdachter und begründeter Liberalismus ist, können wir in John Rawls „Theorie der Gerechtigkeit als Fairness“ aus den 1970er Jahren nachlesen: „Gleiche Rechte für jede Person!“ ist das Grundprinzip, Ungleichheiten sind nur dann fair, wenn sie auch den Schwächsten in der Gesellschaft mehr Vorteile bringen, als sie durch absolute Gleichheit hätten.

Ich habe Christian Lindner gut zugehört, als er vor der hessischen Landtagswahl letztes Jahr im Marburger Cineplex sprach. Kern seiner Rede war die Forderung, dass Leistung sich lohnen muss und dass diejenigen, die Leistung bringen, nicht bestraft werden dürfen. Deshalb sei er dagegen, Steuern zu erhöhen.

Heute lese ich in der Neuen Zürcher Zeitung, dass Lindner sich gegen das Tariftreuegesetz und das Lieferkettengesetz ausgesprochen hat, die beide im Koalitionsvertrag der Ampel vereinbart waren.

Außerdem will er die Klimaziele abschaffen und die Sozialleistungen kürzen und sagt, es dürfe bei Gesetzesänderungen zum Asylrecht „keine Denkverbote“ geben, das Grundgesetz könne man also auch ändern, wenn man dadurch mehr Menschen abschieben kann.

Diese Vorschläge sind Frontalangriffe auf die Fairness, wie sie der Liberale John Rawls als Kern gerechter Politik begründet hat.

Der destruktivste Angriff ist fast unsichtbar: Er zielt auf das Fundament jeder guten menschlichen Beziehung, die nicht durch Liebe, sondern durch wechselseitige Interessen zustande kommt: Auf die Achtung von Verträgen. Im religiös geprägten Mittelalter entwickelte sich der Rechtsgrundsatz: „Pacta sunt servanda“ – „Verträge sind einzuhalten“. Nach Immanuel Kant sind Verträge die Grundlage jeder Rechtsordnung. Christian Lindner orientiert sich aber mehr an Captain Jack Sparrow, Pirat der Karibik, der seine Haltung zu Verträgen und Absprachen so zusammenfasst: „Bei einem unehrlichen Mann kannst du sicher sein, dass er unehrlich ist. Bei einem ehrlichen Mann weißt du nie, wann er etwas unglaublich Dummes tut.“

Die Absprachen, die Lindner jetzt für ungültig erklärt, hat er aber nicht nur mit der SPD (Tariftreuegesetz und Rentenreform) und den Grünen (Lieferketten und Klimaziele). Es gibt auch geltende europäische Absprachen zum Klimaschutz und internationale Absprachen im Rahmen des Pariser Vertrags, die er damit aufkündigt.

Wenn Personen wie Lindner eine Kultur durchsetzen, in der Verträge nicht mehr gehalten werden müssen, haben alle verloren, die motiviert sind, zwischen Menschen mit gleichen Rechten auf gleicher Ebene Kompromisse zu machen und diese in Verträgen festzuschreiben. Konkurrenz wird zum alles beherrschenden Prinzip, in dem sich letztlich mangels vertraglich vereinbartem Recht die Stärksten, Mächtigsten, Reichsten und Unehrlichsten durchsetzen.

Das kann ich auch schon an den Punkten, die Lindner aufkündigt, erkennen: Die Klimaziele aufzukündigen, bedeutet, alle Chancen und Gewinne den jetzt lebenden erwachsenen Menschen zuzuspielen, und die Risiken und Kosten den jungen und ungeborenen Menschen aufzudrücken. Lindner hat irgendwie die alte Hippie-Parole „Lebe jeden Tag, als wenn es dein letzter wäre“ als politisches Prinzip auf die staatliche Zukunftsplanung einer ganzen Gesellschaft übertragen. Finde den Fehler.

Das Bundesverfassungsgericht hat schon die bisherige zaghafte Klimaschutzpolitik als grundgesetzwidrig verurteilt, weil die Eigentumsrechte zukünftiger Generationen verletzt werden. Statt die Politik rechtskonform zu ändern, hat Lindner eine besser Idee: Nach dem Motto: Schlechte Politik ist nur noch nicht radikal schlecht genug, legt er jetzt nochmal klimapolitisch ein Schüppchen drauf. Reichtum für heute, Armut für alle, die leider zu spät geboren wurden.

Dasselbe Prinzip zeigt sich auch in den anderen Vorschlägen seiner Wirtschafts-“Wachstums“ – Politik: Er will das Lieferkettengesetz nicht mehr, die Gewinne sollen also die deutschen Unternehmen einfahren, die Kosten und Risiken sollen die Menschen in den Zulieferländern des globalen, in Armut abgedrängten Südens tragen. Das gleiche zeigt sich beim Tariftreuegesetz: Management und Unternehmenschefs sollen gestärkt und die lohnabhängig Arbeitenden in den Firmen geschwächt werden. Ebenso bei den Sozialleistungen: Die Unternehmen und die Reichen sollen ihr Geld behalten, die Armen sollen die Risiken und Kosten tragen.

Ich habe mich sehr gefreut über die Vorhaben der FDP zur Einführung einer Verantwortungsgemeinschaft und habe große Hoffnungen gehabt, weil der Satz „Familie ist, wo Kinder sind“ wirklich eine zukunftsweisende und gerechte Alternative zum bisherigen Familienbild ist, aber das Ehegattensplitting, das die FDP dann real verteidigt, bedeutet weiter, dass reiche kinderlose Paare gegenüber allen Lebensgemeinschaften, in denen Kinder aufwachsen, riesige Reichtumsvorteile bekommen. Mit dieser FDP-Realpolitik ist die „Verantwortungsgemeinschaft“ ein bloßes Papier-Statement ohne materielle Realität.

Linders Politik verfolgt also ein Prinzip: Konkurrenz ist gut, alles, was sie behindert (Verantwortungsgefühl für ungeborene Generationen, Rücksicht gegenüber Armen und unverschuldet Benachteiligten, Respekt auch gegenüber denen, die wenig Macht und Reichtum haben) ist schlecht. Gleiche Rechte für alle sind der FDP auch nicht so wichtig. Sobald sich damit Stimmen gewinnen lassen, kann man das Asyl-Recht auf Schutz in einem friedlichen und demokratischen Land schonmal zur Diskussion stellen. Lindner denkt laut nach, ob man nur noch handverlesene Personen vor dem Unrechtsregime der Taliban schützt, für die anderen das Grundrecht auf Asyl aber abschafft.

Die FDP behauptet zwar, für das ganze Land und die EU Politik zu machen, schaut man sich die Politik, die sie machen, aber real an, hat sie nur ein Grundprinzip: „Individuelle Freiheit ist das Wichtigste!“ Verantwortung braucht man, wenn man so ein tolles Prinzip hat, dann auch nicht zu übernehmen, weder für zukünftige Generationen, noch für die eigenen Zusagen, die man Partnern in der Vergangenheit gemacht hat. Verantwortung steht bei der FDP dann auch konsequenterweise nicht hoch im Kurs, wie man im Text von Marco Buschmann über den liberalen Soziologen Max Weber nachlesen kann:

„Man habe, so Weber, der sich klar auf die Seite einer Verantwortungsethik stellt, für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen, nicht nur für die unmittelbaren, auch für die in der weiteren Zukunft. Dabei wisse man, dass wir Menschen absolute Gerechtigkeit auf Erden nicht schaffen können. (…) All dies atmet eine Härte und Strenge, die von manchem als Widerspruch zu Menschenfreundlichkeit oder Zuversicht empfunden wird.“ (https://www.bmj.de/SharedDocs/Interviews/DE/2024/0418_FAZ-Einspruch_Gastbeitrag.html)

Buschmann merkt leider nicht, dass Webers Verantwortungsethik eine Ethik der Fürsorge und der Menschenfreundlichkeit ist, die auch mitdenkt, dass wir Menschen die Folgen unserer Entscheidungen nur begrenzt absehen können, und uns damit von zu viel Verantwortungsdruck entlastet. Die Prinzipien-Gesinnung der FDP dagegen „atmet“ gnadenlose „Härte und Strenge“: „Konkurrenz belebt das Geschäft!“ ist das unbarmherzige Prinzip einer Gesellschaft, in der nur Leistung allein zählt. Armer John Rawls! Die FDP vertritt einen irrationalen Liberalismus, in dem Ungleichheit als Leistungsanreiz zum einzigen Prinzip wird und gleiche Rechte für alle nicht mehr so wichtig sind, wenn sie Geld kosten und Wähler*innenstimmen.

Das wird schiefgehen. Wer so Politik macht, macht mehr kaputt, als er Gutes schafft. Verantwortungsgemeinschaften können nicht nur kleine Gruppen sein, sondern müssen auch Nationen und die internationale Gemeinschaft sein. Die gemeinsam geteilte und verabredete Verantwortung, die im Grundgesetz, in der EU-Menschenrechtskonvention und in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN gut definiert wurde, gilt allen Menschen weltweit und auch denen, die in der Zukunft geboren werden, so gut und so weit wir die Folgen unserer Politik absehen können. Vielleicht sollte Christian Lindner „Fluch der Karibik“ anschauen, und im Bezug auf seine Grund-Prinzipien: „Konkurrenz“ und „Individuelle Freiheit“ den Satz von Captain Barbossa beherzigen: „The code – thats more guidelines“ – Prinzipien sind mehr Richtlinien als strikte Vorschriften, und wenn wir gerechte Politik machen wollen, müssen wir uns zwar am Prinzip individueller Freiheit orientieren, aber wir haben auch einen Auslegungsspielraum, in dem wir konkret bestimmen müssen, was das genau heißt, und wie Politik zum Beispiel in einem Staat und international für alle individuellen Personen Chancengleichheit schaffen kann. Wir müssen das Prinzip Freiheit richtig auslegen und können uns nicht an schematischen Programmen orientieren, weil das Prinzip individueller Freiheit auf reales Leben trifft, und Leben ist meistens komplizierter, als unsere Prinzipien uns vortäuschen. Zu dieser Kompliziertheit gehört, dass wir nur gemeinsam frei sein können, wie Erich Mühsam gegen den simplen liberalen Individualismus einerseits und den desaströsen Kollektivismus totalitärer Ideologien andererseits argumentierte. Und gemeinsam frei sein können wir nur, wenn wir uns alle darauf verlassen können, dass Verträge und Versprechen auch gelten, und nur begründet aufgekündigt werden können. Diese Begründung kann nicht der Reichtums- und Machterhalt der eigenen Gruppe allein sein.

Angriff auf die Freiheit

Warum Geschlechtervielfalt für die Rechtsextremen so ein zentrales Problem ist

Die postfaschistische Regierung von Giorgia Meloni greift Aufklärung über Genderfragen in Schulen an. (Taz vom 12.-18.10.2014, Nr. 101; S.5) Die rechtsextreme AfD, rechtspopulistische und faschistische Organisationen sind sich einig, dass das bloße Wissen über Geschlechtervielfalt uns schon dem Weltuntergang näher bringt. Warum eigentlich? Es ist doch nur eine relativ kleine Minderheit von Menschen, die trans*, inter* oder nicht-binär sind oder eine andere nicht ins Mann-Frau Schema passende Geschlechtsidentität haben. Das einzige echte Ziel, was die Autoritären haben, die Macht, ließe sich in einer Mehrheitsdemokratie doch auch locker gegen diese kleine Gruppe und ihre Unterstützer*innen aus den liberalen, linken und progressiven Lagern erreichen.

Ich habe bisher gedacht, dass Genderwissen deshalb bekämpft wird, weil es den Rechtsextremen die Tür zu weiten Teilen der bürgerlichen Mitte öffnet: Auch viele Konservative haben starke Aversionen gegen Formen geschlechtergerechten Sprechens und reagieren empfindlich auf die Brüche tradierter Konventionen in der Geschlechterordnung. Ich habe bisher gedacht, dass die Rechtsextremen dies bloß strategisch ausnützen, um die konservative Mitte in ihre Bündnisse einzubinden.

Inzwischen denke ich, dass das zwar stimmt, aber nur die halbe Wahrheit ist: Die andere Hälfte ist, dass Geschlechterkonventionen nicht nur irgendwelche Konventionen unter anderen sind (zum Beispiel der Konventionen, höflich und respektvoll miteinander zu sprechen), sondern die wichtigsten Konventionen für zwischenmenschliche Beziehungen. Wie wir mit anderen in Beziehung gehen, welche Art Beziehung mit wem überhaupt möglich ist, wie diese Beziehung definierbar ist, all das wird von der Geschlechterordnung gerahmt.

Trans*- und nicht-binäre Menschen machen wahrnehmbar, dass wir viel mehr Möglichkeiten haben, diese Beziehungen zu gestalten, als die starre Ordnung uns zu denken erlaubte. Dies müssen die Autoritären bekämpfen, weil es ihre Denkstruktur zentral in Frage stellt, nämlich die Denkstruktur, dass Freiheit eine Gefahr ist und dass Macht, Zwang, Disziplin und Autorität nötig sind, um diese Gefahr zu bannen.

Nun haben die Autoritären in einem Punkt tatsächlich recht: Freiheit ist prinzipiell gefährlich. Mit den Worten von Niklas Luhmann: Mit mehr Freiheit steigert sich auch die doppelte Kontingenz von Begegnungen. Ich weiß nicht, was Du tun wirst und Du weißt nicht, was ich tun werde. Ich weiß auch, dass Du das alles weißt und vice versa, was den Verlauf und das Ergebnis der Interaktion hochkomplex und unberechenbar macht. Jede kennt das aus ihrem Alltag, du denkst, du kannst voraussehen, was die Mitbewohnerin mit dem Gartengrundstück macht, und dann kommst du aus dem Urlaub wieder und der von dir gepflanzte Estragon ist durch Salat ersetzt. Du wirst wütend, womit wieder deine Mitbewohnerin nicht gerechnet hat. Es stellt sich raus, dass gar nicht geklärt war, wer wie entscheidet, was in dem Beet gepflanzt wird. Doppelte Kontingenz nervt.

Klassischerweise lösen wir solche Probleme mit Kommunikation – und oft klappt das auch ganz gut. Wenn aber eine gemeinsame Sprachkonvention fehlt, klappt auch das nicht fehlerfrei, weil wir immer übersetzen müssen, und beim Übersetzen, dass weiß jede noch aus dem Englischunterricht, passieren noch leichter Fehler, als beim Reden in einer gemeinsamen Sprache sowieso schon. Deshalb werden gendergerechte Sprechweisen als so bedrohlich wahrgenommen, weil sie scheinbar der Kommunikation den Boden für die Bewältigung doppelter Kontingenz entziehen.

Übersetzungsfehler lassen sich aber erkennen und klären, das braucht nur Zeit. Ich denke, wir sollten unsere Kommunikation zuallererst entschleunigen und akzeptieren, dass es Zeit braucht, sich zu verstehen. Das ist sowieso immer so, und wenn wir freier werden und sich deshalb viele unterschiedliche Lebensweisen entwickeln, noch viel mehr. Wenn Konservative und Progressive sich ohne Zeitdruck in gegenseitiger Toleranz und Akzeptanz über Geschlechterfragen austauschen, können wir sicher die meisten Missverständnisse aufklären und zu einem gegenseitigen Verständnis finden, das uns zumindest erlaubt, sicher und ohne Angst in einer Gesellschaft zusammenzuleben.

Wie sich als deutscher Linker zum Gaza Krieg positionieren?

Lange Zeit habe ich innerlich meine Position zum Krieg in Gaza so bestimmt: Die Regierung Netanjahu ist rechtsreaktionär bis rechtsextrem und zusammen mit der terroristischen fundamentalistisch-islamistischen Hamas-Führung schuld an dem Leid der Menschen in Israel, Gaza und im Westjordanland.

Dann habe ich mich aber gefragt, warum Benjamin Netanjahu diese Politik macht, und den Wikipedia-Artikel über ihn gelesen. Dabei bin ich auf folgende Informationen über seinen Bruder, Yonatan Netanyahu, gestoßen:

Yonatan Netanyahu wurde am 4.7.1976 in Entebbe, Uganda, getötet.

„Als Oberstleutnant war er Kommandeur der Spezialeinheit Sajeret Matkal, die von Israel zur Befreiung der zum größten Teil israelischen Geiseln palästinensischer Terroristen der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) und zweier deutscher Terroristen der Revolutionären Zellen entsandt wurde. Während dieser Operation in Entebbe, Uganda, wurde er als einziger israelischer Militärangehöriger während der Befreiungsaktion getötet.“ (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Jonathan_Netanjahu; abgerufen am 21.8.2024)

„Die Operation Entebbe, Operation Thunderbolt oder Operation Yonatan (Mivtsa Yonatan) war eine militärische Befreiungsaktion in der Nacht zum 4. Juli 1976 auf dem Flughafen von Entebbe in Uganda, mit der israelische Sicherheitskräfte die einwöchige Entführung eines Passagierflugzeugs der Air France durch palästinensische und deutsche Terroristen beendeten.

Die israelischen Elitesoldaten wurden unerkannt nach Entebbe eingeflogen, wo sie sich insgesamt nur 90 Minuten aufhielten. 102 überwiegend israelische Geiseln, einschließlich der Air-France-Besatzung, wurden schließlich mit einem Zwischenstopp in Kenia nach Israel ausgeflogen. Bei der Befreiungsaktion wurden alle sieben anwesenden Geiselnehmer getötet. Drei der zuletzt noch 105 Geiseln, etwa 20 ugandische Soldaten sowie der Oberstleutnant Jonathan Netanjahu der israelischen Einsatzkräfte kamen bei Feuergefechten ums Leben. Die in einem Krankenhaus der nahen Hauptstadt Kampala verbliebene Geisel Dora Bloch wurde später von ugandischen Offiziellen entführt und ermordet.“ (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Entebbe; abgerufen am 21.8.2024)

Ich habe in den letzten Monaten viele Gespräche über den Krieg in Gaza mit Freund*innen mit palästinensichen Wurzeln und auch mit linken deutschen Freund*innen geführt. Die deutsche Linke ist, nicht nur in ihren radikalen Teilen, mit dem Israel-Palästina-Konflikt auf eine Weise verwoben, die uns eine gerechte Haltung zum Krieg historisch fast unmöglich macht. Joschka Fischer zum Beispiel war in den 60er Jahren Mitglied des „Revolutionären Kampfes“, in dem auch spätere Mitglieder der „Revolutionären Zellen“ waren. Er nahm 1969 an einer Konferenz zur Unterstützung der PLO in Algier teil. (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Joschka_Fischer#Politische_Militanz, abgerufen am 21.8.2024).

Nachdem Joschka Fischer die Grünen von ihrem Grundsatz der Gewaltfreiheit wegbewegt und die Bundeswehr im Kosovokrieg und im Afghanistankrieg zum Einsatz gebracht hat, hat er schließlich eine politisch richtige Entscheidung getroffen: „I must say, I am not convinced.“ sagte er 2003 im Weltsicherheitsrat, als US-Außenminister Colin Powell falsch behauptete, der Irak habe Massenvernichtungswaffen, um den militärischen Angriff auf den Irak zu rechtfertigen. (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Irakkrieg#Politische_Entscheidungen, abgerufen am 21.8.2024)

Personen in Führungspositionen haben auch biographische Gründe, die Entscheidungen zu treffen, die sie treffen. Und diese biographischen Gründe sind mit meinen eigenen in einer Weise verwoben, die „Neutralität“ für mich zu einer unmöglichen Aufgabe machen. Meine politische Sozialisation wurde von meinen 68er-Eltern und den jungen Grünen in den 1990er Jahren geprägt.

Ich kenne Menschen in Israel und Menschen, die Verwandte in Palästina haben. Die einzige Position, die ich wirklich klar und eindeutig formulieren kann, ist: Ich will, dass das Töten und die strukturelle Gewalt sofort aufhören. Ich denke, dass es ein Fehler Fischers war, den grünen Grundsatz der Gewaltfreiheit im Kosovo-Krieg und im Afghanistan-Krieg aufzugeben.

Ich glaube nicht, dass es für das Stoppen der Gewalt im Moment eine hilfreiche Strategie ist, jemandem Schuld zuzuweisen. Wenn wir das wirklich tun wollen wollen, müssen wir ein so komplexes Geflecht persönlicher, familiärer und sozialer Beziehungen analysieren, dass noch viel mehr Menschen getötet werden, während wir das zu tun versuchen. Die Frage nach der Schuld sollte dann gestellt werden, wenn das Töten und die strukturelle Gewalt gestoppt sind. Ich weiß aber nicht, wie das gelingen kann. Meine Hoffnung sind Gespräche und Abkommen.

Ich trauere um alle getöteten Menschen. Was würden sie in unseren Gesprächen heute sagen, wenn sie an ihnen teilnehmen könnten?

Identitäre Bewegung

für Oskar Maria Graf

Text, Musik, Cello, Geige, Gesang und leider auch Gitarre: Arne Erdmann 2024 (Gnu Public Licence)

Refrain

Ich weiß nicht, was ich bin,

und wohin ich gehöre

wo ich auch bin, ich hoff,

dass ich nicht zu sehr störe

Strophe

Vielleicht wärs gut, wenn ich

ne schöne Frau betöre,

denn ich wär nicht allein,

solang ich ihr gehöre

Bridge

Das muss doch anders gehen,

ich liebe sie doch alle

ich habe zig Affären

das Bett wird mir zur Falle

Refrain

Wenn ich jetzt dem Professor

besonders gut zuhöre

könnts sein, dass ich mich

im Denken nicht verlöre

Das muss doch anders gehen

so dass ich das hier schnalle

ich les 300 Bücher

widersprechen tun sich alle

Ref.

Es kommt soweit, dass ich

auf eine Fahne schwöre

ein schiefes Stimmchen mehr

im Reigen großer Chöre

Das muss doch anders gehen

wir lesen nach bei Kalle

das Proletariat

trinkt Sangria auf Malle

Ref.

Identität im Shop

ein Met nur 50 Öre

mein Drachenboot, ein Benz

rammt leider eine Föhre

Ich muss dann wohl mal gehn

wo gehts hier nach Walhalle

am Himmelstor steht Petrus

den wundert, was ich lalle

Ich wusst nicht, was ich war

und wohin ich gehörte

zeitlebs ich mich erfahr

bis ich dann aufhöre

Postpatriarchale Trickkiste, Trick Nr. 4: Durchschaue rationale Aggression

Nicht jedes aggressive Verhalten ist durch Wut motiviert. Menschen greifen andere oft auch aus ganz rationalen Kosten-Nutzen-Berechnungen heraus an: Was gewinne ich, was verliere ich, wenn ich meine Mitmenschen aggressiv behandle? Kalkulieren wir mehr Nutzen, werden wir aggressiv, ohne das wir wirklich wütend auf die andere Person sind. Von außen kann das sogar wie Wut aussehen, das liegt aber oft nur daran, dass ich als aggressive Person weiß, dass Emotionen als verständliche Motive meiner Verhaltensweise gelten und kalter Egoismus nicht, und ich mich deshalb wütend gebärde, weil das sozial eher akzeptiert wird als rationale Berechnung. Deshalb entsteht auch keine echte Freude, wenn ich mit der Aggression erfolgreich bin, ich registriere einfach nur den Gewinn und mein Lachen fühlt sich hohl und unecht an.

Eine andere Form rationaler Aggression ist scheinbar neutrales und objektives Analysieren der Situation und der anderen Person, wenn diese wütend auf mich ist. Ich habe in einer früheren Liebesbeziehung, in der es zum Schluss dauernd Konflikte und heftig eskalierenden Streit gab, manchmal dieses Verhalten gewählt: Die Kommunikation rational analysiert, das zuvor Gesagte nochmal wörtlich zitiert, auf Vereinbarungen verwiesen, biographische Bezüge zur Interpretation von Verhalten herangezogen – und mir kam mein Verhalten dabei sehr konstruktiv und auf meine Partnerin bezogen vor. Heute denke ich, dass mein Verhalten eher rationale Aggression war. Der Angriff bestand nur darin, mit den Mitteln analytischen Denkens die Situation und die andere Person unter Kontrolle zu bekommen, statt mich emotional auf meine Partnerin einzulassen, mitzufühlen oder mit einem anderen Gefühl auf ihre Wut zu reagieren, und mich so selbst verletzlich zu machen, selbst angesichts ihrer Wut. Verstehen ist nicht immer Mitfühlen, nicht mal unbedingt immer überhaupt mit Fühlen verbunden. Manchmal ist Wut deshalb in Beziehungen eine bessere Resonanz auf die Wut meines Gegenübers als Verstehen, weil sie wenigstens eine emotionale Reaktion ist und keine distanziert-berechnende.

Auch diese Form von Aggression wurzelt in patriarchalen Strukturen, sie setzt in verwandelter Form die Rolle des Patriarchen als Repräsentant der Vernunft und des Denkens fort, der zwischen Konfliktparteien vermittelt, die Situation klärt und aufklärt und erhaben über den anderen steht, neutral das Wohl aller verwaltend.

Heute ist mir klar, warum meine Partnerin noch viel wütender wurde, wenn ich im Streit angefangen habe, alles zu analysieren. Ich vermute sogar, dass kalte, berechnende Aggression gesellschaftich das größere Problem ist als durch Wut motivierte Aggression, weil die damit verbundene Gleichgültigkeit und Unfähigkeit zu fühlen alle wirkliche Beziehung zwischen Menschen zerstört, ohne dass wir das überhaupt merken. Am Ende sind wir einsam und entfremdet voneinander und funktionieren nur noch vor uns hin wie Maschinen, und unsere heimliche Verzweiflung sucht sich seltsame Ventile wie Konsum oder Macht und Status, mit denen wir die fehlenden Beziehungen zu ersetzen oder Signale zu senden versuchen, um doch noch Nähe und Liebe zu erfahren.

Rationale Aggression ist meiner Wahrnehmung nach strukturell in den Institutionen patriarchal geprägter Gesellschaften sedimentiert, setzt sich also systemisch fort, egal, wer in diesen Institutionen Rollen einnimmt, welches Geschlecht die Personen haben oder welcher Generation sie angehören. Das gilt für Staat, Kirche, Marktwirtschaft und auch Wissenschaft.

Ich fürchte, das zum jetzigen Zeitpunkt kaum ein Leben in unserer Gesellschaft möglich ist ohne ein Mindestmaß an rationaler Aggression in ihren Formen nüchterner Berechnung und Analyse, die wir selbst dazu brauchen, die institutionellen Traditionen kritisch zu reflektieren und zu transformieren, weil wir ohne sie einem übermächtigen Gegner gegenüberstünden. Aber es ist mein Ziel, mich nicht dermaßen automatisieren zu lassen, und in meinen Beziehungen das analytische Denken zur Verfeinerung meines Mitgefühls für die anderen zu nutzen statt dazu, die Kontrolle über sie zu erlangen.