Christian Lindner spart an der Freiheit

Was durchdachter und begründeter Liberalismus ist, können wir in John Rawls „Theorie der Gerechtigkeit als Fairness“ aus den 1970er Jahren nachlesen: „Gleiche Rechte für jede Person!“ ist das Grundprinzip, Ungleichheiten sind nur dann fair, wenn sie auch den Schwächsten in der Gesellschaft mehr Vorteile bringen, als sie durch absolute Gleichheit hätten.

Ich habe Christian Lindner gut zugehört, als er vor der hessischen Landtagswahl letztes Jahr im Marburger Cineplex sprach. Kern seiner Rede war die Forderung, dass Leistung sich lohnen muss und dass diejenigen, die Leistung bringen, nicht bestraft werden dürfen. Deshalb sei er dagegen, Steuern zu erhöhen.

Heute lese ich in der Neuen Zürcher Zeitung, dass Lindner sich gegen das Tariftreuegesetz und das Lieferkettengesetz ausgesprochen hat, die beide im Koalitionsvertrag der Ampel vereinbart waren.

Außerdem will er die Klimaziele abschaffen und die Sozialleistungen kürzen und sagt, es dürfe bei Gesetzesänderungen zum Asylrecht „keine Denkverbote“ geben, das Grundgesetz könne man also auch ändern, wenn man dadurch mehr Menschen abschieben kann.

Diese Vorschläge sind Frontalangriffe auf die Fairness, wie sie der Liberale John Rawls als Kern gerechter Politik begründet hat.

Der destruktivste Angriff ist fast unsichtbar: Er zielt auf das Fundament jeder guten menschlichen Beziehung, die nicht durch Liebe, sondern durch wechselseitige Interessen zustande kommt: Auf die Achtung von Verträgen. Im religiös geprägten Mittelalter entwickelte sich der Rechtsgrundsatz: „Pacta sunt servanda“ – „Verträge sind einzuhalten“. Nach Immanuel Kant sind Verträge die Grundlage jeder Rechtsordnung. Christian Lindner orientiert sich aber mehr an Captain Jack Sparrow, Pirat der Karibik, der seine Haltung zu Verträgen und Absprachen so zusammenfasst: „Bei einem unehrlichen Mann kannst du sicher sein, dass er unehrlich ist. Bei einem ehrlichen Mann weißt du nie, wann er etwas unglaublich Dummes tut.“

Die Absprachen, die Lindner jetzt für ungültig erklärt, hat er aber nicht nur mit der SPD (Tariftreuegesetz und Rentenreform) und den Grünen (Lieferketten und Klimaziele). Es gibt auch geltende europäische Absprachen zum Klimaschutz und internationale Absprachen im Rahmen des Pariser Vertrags, die er damit aufkündigt.

Wenn Personen wie Lindner eine Kultur durchsetzen, in der Verträge nicht mehr gehalten werden müssen, haben alle verloren, die motiviert sind, zwischen Menschen mit gleichen Rechten auf gleicher Ebene Kompromisse zu machen und diese in Verträgen festzuschreiben. Konkurrenz wird zum alles beherrschenden Prinzip, in dem sich letztlich mangels vertraglich vereinbartem Recht die Stärksten, Mächtigsten, Reichsten und Unehrlichsten durchsetzen.

Das kann ich auch schon an den Punkten, die Lindner aufkündigt, erkennen: Die Klimaziele aufzukündigen, bedeutet, alle Chancen und Gewinne den jetzt lebenden erwachsenen Menschen zuzuspielen, und die Risiken und Kosten den jungen und ungeborenen Menschen aufzudrücken. Lindner hat irgendwie die alte Hippie-Parole „Lebe jeden Tag, als wenn es dein letzter wäre“ als politisches Prinzip auf die staatliche Zukunftsplanung einer ganzen Gesellschaft übertragen. Finde den Fehler.

Das Bundesverfassungsgericht hat schon die bisherige zaghafte Klimaschutzpolitik als grundgesetzwidrig verurteilt, weil die Eigentumsrechte zukünftiger Generationen verletzt werden. Statt die Politik rechtskonform zu ändern, hat Lindner eine besser Idee: Nach dem Motto: Schlechte Politik ist nur noch nicht radikal schlecht genug, legt er jetzt nochmal klimapolitisch ein Schüppchen drauf. Reichtum für heute, Armut für alle, die leider zu spät geboren wurden.

Dasselbe Prinzip zeigt sich auch in den anderen Vorschlägen seiner Wirtschafts-“Wachstums“ – Politik: Er will das Lieferkettengesetz nicht mehr, die Gewinne sollen also die deutschen Unternehmen einfahren, die Kosten und Risiken sollen die Menschen in den Zulieferländern des globalen, in Armut abgedrängten Südens tragen. Das gleiche zeigt sich beim Tariftreuegesetz: Management und Unternehmenschefs sollen gestärkt und die lohnabhängig Arbeitenden in den Firmen geschwächt werden. Ebenso bei den Sozialleistungen: Die Unternehmen und die Reichen sollen ihr Geld behalten, die Armen sollen die Risiken und Kosten tragen.

Ich habe mich sehr gefreut über die Vorhaben der FDP zur Einführung einer Verantwortungsgemeinschaft und habe große Hoffnungen gehabt, weil der Satz „Familie ist, wo Kinder sind“ wirklich eine zukunftsweisende und gerechte Alternative zum bisherigen Familienbild ist, aber das Ehegattensplitting, das die FDP dann real verteidigt, bedeutet weiter, dass reiche kinderlose Paare gegenüber allen Lebensgemeinschaften, in denen Kinder aufwachsen, riesige Reichtumsvorteile bekommen. Mit dieser FDP-Realpolitik ist die „Verantwortungsgemeinschaft“ ein bloßes Papier-Statement ohne materielle Realität.

Linders Politik verfolgt also ein Prinzip: Konkurrenz ist gut, alles, was sie behindert (Verantwortungsgefühl für ungeborene Generationen, Rücksicht gegenüber Armen und unverschuldet Benachteiligten, Respekt auch gegenüber denen, die wenig Macht und Reichtum haben) ist schlecht. Gleiche Rechte für alle sind der FDP auch nicht so wichtig. Sobald sich damit Stimmen gewinnen lassen, kann man das Asyl-Recht auf Schutz in einem friedlichen und demokratischen Land schonmal zur Diskussion stellen. Lindner denkt laut nach, ob man nur noch handverlesene Personen vor dem Unrechtsregime der Taliban schützt, für die anderen das Grundrecht auf Asyl aber abschafft.

Die FDP behauptet zwar, für das ganze Land und die EU Politik zu machen, schaut man sich die Politik, die sie machen, aber real an, hat sie nur ein Grundprinzip: „Individuelle Freiheit ist das Wichtigste!“ Verantwortung braucht man, wenn man so ein tolles Prinzip hat, dann auch nicht zu übernehmen, weder für zukünftige Generationen, noch für die eigenen Zusagen, die man Partnern in der Vergangenheit gemacht hat. Verantwortung steht bei der FDP dann auch konsequenterweise nicht hoch im Kurs, wie man im Text von Marco Buschmann über den liberalen Soziologen Max Weber nachlesen kann:

„Man habe, so Weber, der sich klar auf die Seite einer Verantwortungsethik stellt, für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen, nicht nur für die unmittelbaren, auch für die in der weiteren Zukunft. Dabei wisse man, dass wir Menschen absolute Gerechtigkeit auf Erden nicht schaffen können. (…) All dies atmet eine Härte und Strenge, die von manchem als Widerspruch zu Menschenfreundlichkeit oder Zuversicht empfunden wird.“ (https://www.bmj.de/SharedDocs/Interviews/DE/2024/0418_FAZ-Einspruch_Gastbeitrag.html)

Buschmann merkt leider nicht, dass Webers Verantwortungsethik eine Ethik der Fürsorge und der Menschenfreundlichkeit ist, die auch mitdenkt, dass wir Menschen die Folgen unserer Entscheidungen nur begrenzt absehen können, und uns damit von zu viel Verantwortungsdruck entlastet. Die Prinzipien-Gesinnung der FDP dagegen „atmet“ gnadenlose „Härte und Strenge“: „Konkurrenz belebt das Geschäft!“ ist das unbarmherzige Prinzip einer Gesellschaft, in der nur Leistung allein zählt. Armer John Rawls! Die FDP vertritt einen irrationalen Liberalismus, in dem Ungleichheit als Leistungsanreiz zum einzigen Prinzip wird und gleiche Rechte für alle nicht mehr so wichtig sind, wenn sie Geld kosten und Wähler*innenstimmen.

Das wird schiefgehen. Wer so Politik macht, macht mehr kaputt, als er Gutes schafft. Verantwortungsgemeinschaften können nicht nur kleine Gruppen sein, sondern müssen auch Nationen und die internationale Gemeinschaft sein. Die gemeinsam geteilte und verabredete Verantwortung, die im Grundgesetz, in der EU-Menschenrechtskonvention und in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN gut definiert wurde, gilt allen Menschen weltweit und auch denen, die in der Zukunft geboren werden, so gut und so weit wir die Folgen unserer Politik absehen können. Vielleicht sollte Christian Lindner „Fluch der Karibik“ anschauen, und im Bezug auf seine Grund-Prinzipien: „Konkurrenz“ und „Individuelle Freiheit“ den Satz von Captain Barbossa beherzigen: „The code – thats more guidelines“ – Prinzipien sind mehr Richtlinien als strikte Vorschriften, und wenn wir gerechte Politik machen wollen, müssen wir uns zwar am Prinzip individueller Freiheit orientieren, aber wir haben auch einen Auslegungsspielraum, in dem wir konkret bestimmen müssen, was das genau heißt, und wie Politik zum Beispiel in einem Staat und international für alle individuellen Personen Chancengleichheit schaffen kann. Wir müssen das Prinzip Freiheit richtig auslegen und können uns nicht an schematischen Programmen orientieren, weil das Prinzip individueller Freiheit auf reales Leben trifft, und Leben ist meistens komplizierter, als unsere Prinzipien uns vortäuschen. Zu dieser Kompliziertheit gehört, dass wir nur gemeinsam frei sein können, wie Erich Mühsam gegen den simplen liberalen Individualismus einerseits und den desaströsen Kollektivismus totalitärer Ideologien andererseits argumentierte. Und gemeinsam frei sein können wir nur, wenn wir uns alle darauf verlassen können, dass Verträge und Versprechen auch gelten, und nur begründet aufgekündigt werden können. Diese Begründung kann nicht der Reichtums- und Machterhalt der eigenen Gruppe allein sein.

Angriff auf die Freiheit

Warum Geschlechtervielfalt für die Rechtsextremen so ein zentrales Problem ist

Die postfaschistische Regierung von Giorgia Meloni greift Aufklärung über Genderfragen in Schulen an. (Taz vom 12.-18.10.2014, Nr. 101; S.5) Die rechtsextreme AfD, rechtspopulistische und faschistische Organisationen sind sich einig, dass das bloße Wissen über Geschlechtervielfalt uns schon dem Weltuntergang näher bringt. Warum eigentlich? Es ist doch nur eine relativ kleine Minderheit von Menschen, die trans*, inter* oder nicht-binär sind oder eine andere nicht ins Mann-Frau Schema passende Geschlechtsidentität haben. Das einzige echte Ziel, was die Autoritären haben, die Macht, ließe sich in einer Mehrheitsdemokratie doch auch locker gegen diese kleine Gruppe und ihre Unterstützer*innen aus den liberalen, linken und progressiven Lagern erreichen.

Ich habe bisher gedacht, dass Genderwissen deshalb bekämpft wird, weil es den Rechtsextremen die Tür zu weiten Teilen der bürgerlichen Mitte öffnet: Auch viele Konservative haben starke Aversionen gegen Formen geschlechtergerechten Sprechens und reagieren empfindlich auf die Brüche tradierter Konventionen in der Geschlechterordnung. Ich habe bisher gedacht, dass die Rechtsextremen dies bloß strategisch ausnützen, um die konservative Mitte in ihre Bündnisse einzubinden.

Inzwischen denke ich, dass das zwar stimmt, aber nur die halbe Wahrheit ist: Die andere Hälfte ist, dass Geschlechterkonventionen nicht nur irgendwelche Konventionen unter anderen sind (zum Beispiel der Konventionen, höflich und respektvoll miteinander zu sprechen), sondern die wichtigsten Konventionen für zwischenmenschliche Beziehungen. Wie wir mit anderen in Beziehung gehen, welche Art Beziehung mit wem überhaupt möglich ist, wie diese Beziehung definierbar ist, all das wird von der Geschlechterordnung gerahmt.

Trans*- und nicht-binäre Menschen machen wahrnehmbar, dass wir viel mehr Möglichkeiten haben, diese Beziehungen zu gestalten, als die starre Ordnung uns zu denken erlaubte. Dies müssen die Autoritären bekämpfen, weil es ihre Denkstruktur zentral in Frage stellt, nämlich die Denkstruktur, dass Freiheit eine Gefahr ist und dass Macht, Zwang, Disziplin und Autorität nötig sind, um diese Gefahr zu bannen.

Nun haben die Autoritären in einem Punkt tatsächlich recht: Freiheit ist prinzipiell gefährlich. Mit den Worten von Niklas Luhmann: Mit mehr Freiheit steigert sich auch die doppelte Kontingenz von Begegnungen. Ich weiß nicht, was Du tun wirst und Du weißt nicht, was ich tun werde. Ich weiß auch, dass Du das alles weißt und vice versa, was den Verlauf und das Ergebnis der Interaktion hochkomplex und unberechenbar macht. Jede kennt das aus ihrem Alltag, du denkst, du kannst voraussehen, was die Mitbewohnerin mit dem Gartengrundstück macht, und dann kommst du aus dem Urlaub wieder und der von dir gepflanzte Estragon ist durch Salat ersetzt. Du wirst wütend, womit wieder deine Mitbewohnerin nicht gerechnet hat. Es stellt sich raus, dass gar nicht geklärt war, wer wie entscheidet, was in dem Beet gepflanzt wird. Doppelte Kontingenz nervt.

Klassischerweise lösen wir solche Probleme mit Kommunikation – und oft klappt das auch ganz gut. Wenn aber eine gemeinsame Sprachkonvention fehlt, klappt auch das nicht fehlerfrei, weil wir immer übersetzen müssen, und beim Übersetzen, dass weiß jede noch aus dem Englischunterricht, passieren noch leichter Fehler, als beim Reden in einer gemeinsamen Sprache sowieso schon. Deshalb werden gendergerechte Sprechweisen als so bedrohlich wahrgenommen, weil sie scheinbar der Kommunikation den Boden für die Bewältigung doppelter Kontingenz entziehen.

Übersetzungsfehler lassen sich aber erkennen und klären, das braucht nur Zeit. Ich denke, wir sollten unsere Kommunikation zuallererst entschleunigen und akzeptieren, dass es Zeit braucht, sich zu verstehen. Das ist sowieso immer so, und wenn wir freier werden und sich deshalb viele unterschiedliche Lebensweisen entwickeln, noch viel mehr. Wenn Konservative und Progressive sich ohne Zeitdruck in gegenseitiger Toleranz und Akzeptanz über Geschlechterfragen austauschen, können wir sicher die meisten Missverständnisse aufklären und zu einem gegenseitigen Verständnis finden, das uns zumindest erlaubt, sicher und ohne Angst in einer Gesellschaft zusammenzuleben.

Wie sich als deutscher Linker zum Gaza Krieg positionieren?

Lange Zeit habe ich innerlich meine Position zum Krieg in Gaza so bestimmt: Die Regierung Netanjahu ist rechtsreaktionär bis rechtsextrem und zusammen mit der terroristischen fundamentalistisch-islamistischen Hamas-Führung schuld an dem Leid der Menschen in Israel, Gaza und im Westjordanland.

Dann habe ich mich aber gefragt, warum Benjamin Netanjahu diese Politik macht, und den Wikipedia-Artikel über ihn gelesen. Dabei bin ich auf folgende Informationen über seinen Bruder, Yonatan Netanyahu, gestoßen:

Yonatan Netanyahu wurde am 4.7.1976 in Entebbe, Uganda, getötet.

„Als Oberstleutnant war er Kommandeur der Spezialeinheit Sajeret Matkal, die von Israel zur Befreiung der zum größten Teil israelischen Geiseln palästinensischer Terroristen der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) und zweier deutscher Terroristen der Revolutionären Zellen entsandt wurde. Während dieser Operation in Entebbe, Uganda, wurde er als einziger israelischer Militärangehöriger während der Befreiungsaktion getötet.“ (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Jonathan_Netanjahu; abgerufen am 21.8.2024)

„Die Operation Entebbe, Operation Thunderbolt oder Operation Yonatan (Mivtsa Yonatan) war eine militärische Befreiungsaktion in der Nacht zum 4. Juli 1976 auf dem Flughafen von Entebbe in Uganda, mit der israelische Sicherheitskräfte die einwöchige Entführung eines Passagierflugzeugs der Air France durch palästinensische und deutsche Terroristen beendeten.

Die israelischen Elitesoldaten wurden unerkannt nach Entebbe eingeflogen, wo sie sich insgesamt nur 90 Minuten aufhielten. 102 überwiegend israelische Geiseln, einschließlich der Air-France-Besatzung, wurden schließlich mit einem Zwischenstopp in Kenia nach Israel ausgeflogen. Bei der Befreiungsaktion wurden alle sieben anwesenden Geiselnehmer getötet. Drei der zuletzt noch 105 Geiseln, etwa 20 ugandische Soldaten sowie der Oberstleutnant Jonathan Netanjahu der israelischen Einsatzkräfte kamen bei Feuergefechten ums Leben. Die in einem Krankenhaus der nahen Hauptstadt Kampala verbliebene Geisel Dora Bloch wurde später von ugandischen Offiziellen entführt und ermordet.“ (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Entebbe; abgerufen am 21.8.2024)

Ich habe in den letzten Monaten viele Gespräche über den Krieg in Gaza mit Freund*innen mit palästinensichen Wurzeln und auch mit linken deutschen Freund*innen geführt. Die deutsche Linke ist, nicht nur in ihren radikalen Teilen, mit dem Israel-Palästina-Konflikt auf eine Weise verwoben, die uns eine gerechte Haltung zum Krieg historisch fast unmöglich macht. Joschka Fischer zum Beispiel war in den 60er Jahren Mitglied des „Revolutionären Kampfes“, in dem auch spätere Mitglieder der „Revolutionären Zellen“ waren. Er nahm 1969 an einer Konferenz zur Unterstützung der PLO in Algier teil. (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Joschka_Fischer#Politische_Militanz, abgerufen am 21.8.2024).

Nachdem Joschka Fischer die Grünen von ihrem Grundsatz der Gewaltfreiheit wegbewegt und die Bundeswehr im Kosovokrieg und im Afghanistankrieg zum Einsatz gebracht hat, hat er schließlich eine politisch richtige Entscheidung getroffen: „I must say, I am not convinced.“ sagte er 2003 im Weltsicherheitsrat, als US-Außenminister Colin Powell falsch behauptete, der Irak habe Massenvernichtungswaffen, um den militärischen Angriff auf den Irak zu rechtfertigen. (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Irakkrieg#Politische_Entscheidungen, abgerufen am 21.8.2024)

Personen in Führungspositionen haben auch biographische Gründe, die Entscheidungen zu treffen, die sie treffen. Und diese biographischen Gründe sind mit meinen eigenen in einer Weise verwoben, die „Neutralität“ für mich zu einer unmöglichen Aufgabe machen. Meine politische Sozialisation wurde von meinen 68er-Eltern und den jungen Grünen in den 1990er Jahren geprägt.

Ich kenne Menschen in Israel und Menschen, die Verwandte in Palästina haben. Die einzige Position, die ich wirklich klar und eindeutig formulieren kann, ist: Ich will, dass das Töten und die strukturelle Gewalt sofort aufhören. Ich denke, dass es ein Fehler Fischers war, den grünen Grundsatz der Gewaltfreiheit im Kosovo-Krieg und im Afghanistan-Krieg aufzugeben.

Ich glaube nicht, dass es für das Stoppen der Gewalt im Moment eine hilfreiche Strategie ist, jemandem Schuld zuzuweisen. Wenn wir das wirklich tun wollen wollen, müssen wir ein so komplexes Geflecht persönlicher, familiärer und sozialer Beziehungen analysieren, dass noch viel mehr Menschen getötet werden, während wir das zu tun versuchen. Die Frage nach der Schuld sollte dann gestellt werden, wenn das Töten und die strukturelle Gewalt gestoppt sind. Ich weiß aber nicht, wie das gelingen kann. Meine Hoffnung sind Gespräche und Abkommen.

Ich trauere um alle getöteten Menschen. Was würden sie in unseren Gesprächen heute sagen, wenn sie an ihnen teilnehmen könnten?

Identitäre Bewegung

für Oskar Maria Graf

Text, Musik, Cello, Geige, Gesang und leider auch Gitarre: Arne Erdmann 2024 (Gnu Public Licence)

Refrain

Ich weiß nicht, was ich bin,

und wohin ich gehöre

wo ich auch bin, ich hoff,

dass ich nicht zu sehr störe

Strophe

Vielleicht wärs gut, wenn ich

ne schöne Frau betöre,

denn ich wär nicht allein,

solang ich ihr gehöre

Bridge

Das muss doch anders gehen,

ich liebe sie doch alle

ich habe zig Affären

das Bett wird mir zur Falle

Refrain

Wenn ich jetzt dem Professor

besonders gut zuhöre

könnts sein, dass ich mich

im Denken nicht verlöre

Das muss doch anders gehen

so dass ich das hier schnalle

ich les 300 Bücher

widersprechen tun sich alle

Ref.

Es kommt soweit, dass ich

auf eine Fahne schwöre

ein schiefes Stimmchen mehr

im Reigen großer Chöre

Das muss doch anders gehen

wir lesen nach bei Kalle

das Proletariat

trinkt Sangria auf Malle

Ref.

Identität im Shop

ein Met nur 50 Öre

mein Drachenboot, ein Benz

rammt leider eine Föhre

Ich muss dann wohl mal gehn

wo gehts hier nach Walhalle

am Himmelstor steht Petrus

den wundert, was ich lalle

Ich wusst nicht, was ich war

und wohin ich gehörte

zeitlebs ich mich erfahr

bis ich dann aufhöre

Postpatriarchale Trickkiste, Trick Nr. 4: Durchschaue rationale Aggression

Nicht jedes aggressive Verhalten ist durch Wut motiviert. Menschen greifen andere oft auch aus ganz rationalen Kosten-Nutzen-Berechnungen heraus an: Was gewinne ich, was verliere ich, wenn ich meine Mitmenschen aggressiv behandle? Kalkulieren wir mehr Nutzen, werden wir aggressiv, ohne das wir wirklich wütend auf die andere Person sind. Von außen kann das sogar wie Wut aussehen, das liegt aber oft nur daran, dass ich als aggressive Person weiß, dass Emotionen als verständliche Motive meiner Verhaltensweise gelten und kalter Egoismus nicht, und ich mich deshalb wütend gebärde, weil das sozial eher akzeptiert wird als rationale Berechnung. Deshalb entsteht auch keine echte Freude, wenn ich mit der Aggression erfolgreich bin, ich registriere einfach nur den Gewinn und mein Lachen fühlt sich hohl und unecht an.

Eine andere Form rationaler Aggression ist scheinbar neutrales und objektives Analysieren der Situation und der anderen Person, wenn diese wütend auf mich ist. Ich habe in einer früheren Liebesbeziehung, in der es zum Schluss dauernd Konflikte und heftig eskalierenden Streit gab, manchmal dieses Verhalten gewählt: Die Kommunikation rational analysiert, das zuvor Gesagte nochmal wörtlich zitiert, auf Vereinbarungen verwiesen, biographische Bezüge zur Interpretation von Verhalten herangezogen – und mir kam mein Verhalten dabei sehr konstruktiv und auf meine Partnerin bezogen vor. Heute denke ich, dass mein Verhalten eher rationale Aggression war. Der Angriff bestand nur darin, mit den Mitteln analytischen Denkens die Situation und die andere Person unter Kontrolle zu bekommen, statt mich emotional auf meine Partnerin einzulassen, mitzufühlen oder mit einem anderen Gefühl auf ihre Wut zu reagieren, und mich so selbst verletzlich zu machen, selbst angesichts ihrer Wut. Verstehen ist nicht immer Mitfühlen, nicht mal unbedingt immer überhaupt mit Fühlen verbunden. Manchmal ist Wut deshalb in Beziehungen eine bessere Resonanz auf die Wut meines Gegenübers als Verstehen, weil sie wenigstens eine emotionale Reaktion ist und keine distanziert-berechnende.

Auch diese Form von Aggression wurzelt in patriarchalen Strukturen, sie setzt in verwandelter Form die Rolle des Patriarchen als Repräsentant der Vernunft und des Denkens fort, der zwischen Konfliktparteien vermittelt, die Situation klärt und aufklärt und erhaben über den anderen steht, neutral das Wohl aller verwaltend.

Heute ist mir klar, warum meine Partnerin noch viel wütender wurde, wenn ich im Streit angefangen habe, alles zu analysieren. Ich vermute sogar, dass kalte, berechnende Aggression gesellschaftich das größere Problem ist als durch Wut motivierte Aggression, weil die damit verbundene Gleichgültigkeit und Unfähigkeit zu fühlen alle wirkliche Beziehung zwischen Menschen zerstört, ohne dass wir das überhaupt merken. Am Ende sind wir einsam und entfremdet voneinander und funktionieren nur noch vor uns hin wie Maschinen, und unsere heimliche Verzweiflung sucht sich seltsame Ventile wie Konsum oder Macht und Status, mit denen wir die fehlenden Beziehungen zu ersetzen oder Signale zu senden versuchen, um doch noch Nähe und Liebe zu erfahren.

Rationale Aggression ist meiner Wahrnehmung nach strukturell in den Institutionen patriarchal geprägter Gesellschaften sedimentiert, setzt sich also systemisch fort, egal, wer in diesen Institutionen Rollen einnimmt, welches Geschlecht die Personen haben oder welcher Generation sie angehören. Das gilt für Staat, Kirche, Marktwirtschaft und auch Wissenschaft.

Ich fürchte, das zum jetzigen Zeitpunkt kaum ein Leben in unserer Gesellschaft möglich ist ohne ein Mindestmaß an rationaler Aggression in ihren Formen nüchterner Berechnung und Analyse, die wir selbst dazu brauchen, die institutionellen Traditionen kritisch zu reflektieren und zu transformieren, weil wir ohne sie einem übermächtigen Gegner gegenüberstünden. Aber es ist mein Ziel, mich nicht dermaßen automatisieren zu lassen, und in meinen Beziehungen das analytische Denken zur Verfeinerung meines Mitgefühls für die anderen zu nutzen statt dazu, die Kontrolle über sie zu erlangen.

Postpatriarchale Trickkiste, Trick Nr. 3: Erkenne und wertschätze den gerechten Anteil Deiner Wut

Nicht alles an meiner Wut ist falsch und patriarchal. Wut ist auch eine für die Selbstverteidigung notwendige Emotion. Wenn ich alle patriarchalen und projektiven Anteile meiner Wut identifiziert und reguliert habe, bleibt oft ein Anteil sinnvoller, der gegenwärtigen Situation angemessener Anteil übrig.

Dieser Anteil kann zum Beispiel die Wut darüber sein, dass meine Partnerin schlimme Erfahrungen, die sie mit anderen Männern* gemacht hat, auf mich projiziert und mich bekämpft statt diese Männer*. Feministen wie ich bekommen diese Wut wahrscheinlich überdurchschnittlich oft ab, weil wir oft in Beziehung mit feministischen Partnerinnen* leben, die ihre Wut auf das Patriarchat und maskulinistische Männer* nicht unterdrücken und sehr bewusst wahrnehmen, was sie erlitten haben und erleiden. Oft sind aber die Verursacher ihrer Schmerzen außer Reichweite. Feministinnen* haben aus guten Gründen keinen Kontakt mehr zu diesen Männern* oder sie sind aus anderen Gründen unangreifbar, vor allem ihre Väter, in deren Beziehungsgeflecht sie verstrickt sind.

Deshalb landet die gerechte Wut meiner Partnerin auf diese Männer* dann bei mir und in unserer Beziehung, und ich muss damit umgehen. Eine mögliche Weise ist, meine gerechte Wut zu zeigen, also ebenfalls wütend auf projektives wütendes Verhalten meiner Partnerin zu reagieren. Es ist keine sinnvolle Reaktion, als Feminist die Schuld patriarchal agierender Männer* stellvertretend auf sich zu nehmen und sich klein zu machen. Die Gruppe der Männer* würde sich auf Dauer dann nämlich aus zwei Teilgruppen zusammensetzen, patriarchalen, gewalttätigen, maskulinistischen Männern*, die Frauen* verletzen, und feministischen, aber unterworfenen, hilflosen und von Schuldgefühlen beherrschten Männern*. Das ist keine Option für eine feministische Befreiung der Gesellschaft und wird das Problem nicht lösen.

Damit ich meiner Partnerin gegenüber meine gerechte Wut ausdrücken kann, ohne die Beziehung zu schädigen und meiner Partnerin wehzutun, muss ich vorher aber sorgfältig und gründlich Trick 1 und 2 anwenden und mir die Anteile meiner Wut bewusst machen, die nicht gerecht, sondern patriarchal sind, und diese Anteile regulieren, statt sie auszuagieren. Oft bleibt dann eine sehr gemäßigte Wut übrig, die ein Gespräch miteinander ermöglicht.

Kleine Reflexion zu Kafkas Messias

Die Welt der Gegenwart erscheint mir in einem seltsamen Zwielicht: Aus der Vergangenheit scheint auf sie das Licht des Warum, und aus der Zukunft strahlt das Wozu auf alles. Das Licht beider Quellen bricht sich in der Gegenwart, so dass sich mir kein sinnvolles zusammenhängendes Bild ergeben will. Ohne diese Brüche aber, so denke ich mir, würde die Zukunft nahtlos und notwendig aus der Vergangenheit folgen, so dass ich wohl nur in einer mir halbwegs absurd erscheinenden Welt frei sein kann.

Postpatriarchale Trickkiste, Trick Nr. 2: Ent-Identifizierung und Re-Identifizierung

Im Trick Nr. 1 habe ich über den patriarchalen Anteil geschrieben, der darin gründet, dazu erzogen zu sein, die eigene Trauer und den eigenen Schmerz nicht wahrzunehmen, sondern nur die eigene Wut.

Mir ist beim nochmaligen Lesen von Trick Nr. 1 aufgefallen, das etwas wichtiges fehlt. Denn woher kommt die Wut, die ich empfinde? Aus Trauer und Schmerz folgt ja nicht unbedingt notwendig Wut, sie können auch in Angst, Scham, Schuld und Verzweiflung münden.

Eine typische heutige Wutszene ist: Eine Mitbewohner*in klopft an meiner Tür. Ich werde wütend, fühle mich gestört und lasse sie, wenn überhaupt, nur widerwillig in mein Zimmer. Dabei muss ich mich dann oft innerlich sehr zusammenreißen, freundlich und nicht abweisend und schroff zu sein.

Biographische Szenen, in denen meine Wut gründet, sind die Wutausbrüche meines Vaters, der in mein Kinderzimmer kam und sich mir gegenüber aggressiv verhielt. Paradoxerweise passieren bei meiner Übertragung dieser biographischen Szenen auf die Situationen heute in meinem Wohnprojekt zwei gegenläufige Prozesse gleichzeitig: Ich empfinde die Wut noch einmal, die ich als Junge auf meinen Vater hatte, aber nicht zeigen konnte, weil ich körperlich unterlegen war, und die ich also unterdrücken musste. Und ich identifiziere mich zugleich mit der Aggressivität meines Vaters, und kopiere sein Emotionsmuster.

Die erste Wutempfindung richtet sich also auch gegen meine*n Mitbewohner*in als Stellvertreter*in für den nicht mehr präsenten Vater, weil ich mich aggressiv abgrenzen und mein Zimmer verteidigen möchte, was mir als Kind nicht so gut möglich war.

Zum anderen Teil richtet sich in meiner Identifikation mit dem inneren Aggressor meine Wutempfindung aber auch gegen mich selbst, weil ich mich dabei gleichzeitig daran erinnere, wie ich als Junge unter der Wut meines Vaters gelitten habe. Ich projiziere also in der Situation doppelt, setze mich als Vaterstellvertreter ein und projiziere mein kindliches Ich auf meine Mitbewohner*in.

Ich merke dann meistens irgendwie, dass meine Wutempfindung der heutigen Situation nicht wirklich angemessen ist, weil sich die Projektionen gegenseitig widersprechen und weil ich meine Mitbewohner*innen außerdem mag und mich eigentlich meistens freue, sie zu sehen. Aber da passende Empfindungen wie Freude, Empathie oder Neugier unter der alten Wut oft untergehen, bleibt mir dann nur, meine Wut innerlich gegen mich selbst zu wenden und als Energie für Selbstdisziplin zu verwenden. Dann mache ich die Tür auf, sage ein paar freundliche Worte und bin froh, wenn ich wieder alleine bin und keine Selbstdisziplin mehr ausüben muss.

Dass viele Männer im Alter Depressionen bekommen, Misstrauen ihr vorherrschendes soziales Gefühl ist und sie vereinsamen, ist vor dem Hintergrund solcher Muster echt kein Wunder. Eine Lösung kann eine Ent-Identifizierung mit dem inneren Aggressor sein.

Statt die Wut in Selbstdisziplin zu verwandeln und deshalb nicht wirklich in Beziehung treten zu können, kann ich mich mit anderen inneren Anteilen identifizieren, mit der Freude an der Beziehung zu nahen Menschen, dem Interesse an Ihnen und der Interaktion mit ihnen und der Sensibilität für deren Gefühle. Es gab es in meiner Kindheit viele biographische Szenen, in denen diese Gefühle und Haltungen prägend waren, und an die ich mich erinnern kann, auch mit meinem Vater. Ich kann also die Ent-Identifizierung mit dem inneren Aggressor mit einer Re-Identifizierung mit dem inneren Geschwisterkind, dem umsorgten Kind und den umsorgenden Eltern ergänzen. Gleichzeitig ist es sicher gut, sich der Erfahrungen, aus denen Wut sich speist, bewusst zu bleiben und diese Seite des eigenen Selbst nicht zu verdrängen oder zu vergessen.

Die Funktion apokalyptischen Denkens

Viele utopische Gedanken haben einen apokalyptischen Schatten. Die Vision einer Gesellschaft in Harmonie mit der Natur zum Beispiel taucht oft zugleich mit dem Schreckensszenario einer planetaren ökologischen Katastrophe auf. Der apokalyptische Schatten hat dann meistens die Funktion, Menschen zu motivieren, sich in die Richtung des utopischen Gedankens zu bewegen, obwohl sie dafür Mühe, Zeit, Kraft und Ressourcen brauchen und große Risiken eingehen müssen.