Mein Streik gegen die Revolution

Warum exportiert die spanische Wirtschaft Wasser in Form von Obst und Gemüse, wenn Wasser dort immer knapper wird? Nach der klassischen ökonomischen Theorie der komparativen Kostenvorteile von David Ricardo dürfte das unter Freihandelsbedingungen gar nicht passieren. Produziert werden müsste in Spanien nach dieser Theorie das, was dort am kostengünstigsten herstellbar ist – und Knappheit bedeutet normalerweise Kostensteigerungen.

Gleichzeitig fallen in Deutschland überall Massen von Äpfeln und Birnen von Obstbäumen und verfaulen auf dem Boden – während in deutschen Supermärkten ebenso massenweise Äpfel und Birnen gekauft werden, die aus Neuseeland quer über den Globus transportiert wurden. Was läuft falsch in den ökonomischen Systemen, so dass sie sich solche Ressourcenverschwendung leisten?

Ich könnte jetzt sehr leicht auf den Kapitalismus und seinen Wahnsinn schimpfen, aber ich bin dessen müde, weil eh die meisten Menschen nicht mehr zuhören, wenn wir Linken das tun. Deshalb versuche ich eine andere Erklärung des Problems.

Ich verwende dafür eine Kernidee der Systemtheorie des konservativen Soziologen Niklas Luhmanns. Danach ist das Wirtschaftssystem ein Funktionssystem der Gesellschaft, das autopoeitisch und selbstreferentiell ist. Das bedeutet, dass es sich von seiner Umwelt abgrenzt und sich nach außen schließt, indem es zur Kommunikation einen Code verwendet, der allen Informationsfluss von außen unterbricht, der für die Funktionsweise des Systems egal ist. Dieser Code unterscheidet nur Zahlung und Nichtzahlung. Alles, was nicht in diesem Code im Medium Geld kommuniziert werden kann, ist für das Wirtschaftssystem irrelevant und hat erstmal keine Effekte auf seine Prozesse.

Im konkreten Beispiel bedeutet das, dass es für die Firmen in Spanien nicht beobachtbar ist, ob die Wasserressourcen übernutzt werden, solange Wasser nicht wesentlich teurer wird. In Deutschland passiert dasselbe: Die Verbraucher*innen in der deutschen Ökonomie können in ihrer Rolle als Konsument*innen die Sinnlosigkeit davon nicht wahrnehmen, dass die Äpfel von den deutschen Bäumen vergammeln, solange es teurer ist, Arbeitszeit zum Äpfelsammeln zu verwenden, als aus Neuseeland herangeschiffte Äpfel im Supermarkt zu kaufen.

Das Wirtschaftssystem ist also so selbstbezogen und nach außen geschlossen, dass es zu seiner Umwelt, den Ökosystemen der Welt, keine direkten Kommunikationsbeziehungen mehr haben kann. Nach Luhmann muss es sich aber an die Umwelt anpassen, um sich zu erhalten. Dazu verwendet es strukturelle Kopplungen. Das bedeutet, irgendwie muss es, wenn die Informationen über Wasserknappheit schon nicht in den Preisen rechtzeitig und deutlich genug ausgedrückt werden, so dass es seine Strukturen dementsprechend verändern kann, trotzdem die Umweltinformationen verarbeiten.

Ich glaube, dass wissenschaftliche Organisationen wie der IPCC gerade genau das versuchen: Sie versuchen, das Wirtschaftssystem strukturell mit den Ökosystemen zu koppeln, indem sie die Ökonomie sensibel für die Knappheiten macht, die gerade entstehen, ohne dass sich das schnell genug in Kostensteigerungen und Preisen zum Beispiel für Wasser bemerkbar macht. Zu langsam ist dies, weil die globale Ökonomie der Menschen einen historisch einmaligen Grad an Macht über die Ökosysteme aufgebaut hat, gleichzeitig aber eine solche Trägheit in ihren Grundstrukturen, zum Beispiel der fossilen Energieinfrastruktur, dass sie Zerstörungen der Ökosysteme nicht rechtzeitig aufhält, bevor sie zu irreversiblen Knappheiten von Wasser und anderen Gütern führen.

Wenn die Wissenschaft planetare Belastungsgrenzen berechnet (die zum Beispiel bei der Umnutzung von Land und der Biodiversität schon weit überschritten sind), dann versucht es, Informationen in das geschlossene Wirtschaftssystem einzuschleusen, damit es sich an die Umwelt anpassen kann, so dass Wasser als grundlegende Ressource auch weiter zur Verfügung steht und das System sich nicht selbst zerstört. Das nennt Luhmann dann strukturelle Kopplung.

Auch das politische System versucht, in das Wirtschaftssystem solche Kopplungen einzubauen, zum Beispiel durch den Handel mit Emissionszertifikaten. Der Ausstoß von CO2 ist nämlich erstmal für die Wirtschaft gar nicht beobachtbar gewesen, weil er nichts gekostet hat: Die Atomsphäre konnte jahrhundertelang als Senke für die Abgase der Wirtschaft fast kostenlos genutzt werden, sie war eine Allmende – ein Gemeingut. Jetzt versucht die Politik, die Wirtschaft ausreichend darüber zu informieren, dass diese Allmende schon lange übernutzt ist. Sie versucht durch die Zertifikate die Schäden, die die Übernutzung verursacht, in den Code Zahlung-Nichtzahlung zu übersetzen, so dass das Wirtschaftssystem sie auch beobachten und darauf reagieren kann.

Organisationen, die von innen aus dem ökonomischen System selbst heraus ähnliche Kopplungen aufbauen, sind die großen Rückversicherungskonzerne wie die Münchener Rück, die schon seit Jahren warnen, weil die mit der Klimakrise verbunden ökonomischen Risiken etwa durch Dürren, Überschwemmungen und Stürme zu unberechenbar werden, um sich dagegen noch solide und zu einem akzeptablen Preis versichern zu können.

Leider gibt es daneben andere strukturelle Kopplungen des Wirtschaftssystems, die diese Versuche der Krisenbewältigung torpedieren, indem sie in genau die entgegengesetzte Richtung zielen: Das Wirtschaftssystem ist nach Luhmanns Theorie nicht nur umgeben von der Umwelt der planetaren Ökosysteme, sondern wir Menschen sind für das ökonomische System auch Umwelt. Luhmann interpretiert uns Menschen als „psychische Systeme“, und als solche sind wir Umwelt für das Wirtschaftssystem.

Das Wirtschaftssystem arbeitet nun schon lange und sehr erfolgreich daran, uns als psychische Systeme strukturell mit ihm zu koppeln, zum Beispiel mithilfe von Werbung, Arbeit und Mythen. Ein aktueller Mythos ist der Mythos von der Elektromoblität. Der Mythos sagt: Wir können mit Hilfe von E-Autos weiter so unbegrenzt mobil sein wie bisher, ohne unsere Lebensgrundlagen zu zerstören. Wir können unsere Lebensgewohnheiten einfach beibehalten, ohne die Krise der Knappheit zu verschärfen. Ein Mythos ist das deshalb, weil diese Erzählung wichtige Aspekte der Wirklichkeit ausblendet: Klimaerhitzung durch Treibhausgase stößt nur an eine der vielen planetaren Belastungsgrenzen. Elektromoblität bedeutet weitere Umnutzung von Land durch Lithiumabbau, Energieverbrauch und Emissionen durch Produktion neuer Autos und E-Bikes und weitere Straßen und Versiegelung von Boden und Erzeugung von giftigem Müll. Das sind alles Gründe für das Artensterben, eine Krise, die genauso bedrohlich für unser Überleben als Zivilisation ist, wie die Erderhitzung.

Soviel zum Mythos der Elektromobilität, der auch Menschen frisch mit dem Wirtschaftssystem koppelt, die schon Zweifel bekommen hatten, ob das alles so gut läuft. Was aber ist gefährlich an der Art, wie wir Arbeit definieren, und wie koppelt sie uns mit dem ökonomischen System? In Deutschland ist Arbeit, eingeengt verstanden als Erwerbsarbeit, mit der im Gegensatz zur häuslichen Sorge-Arbeit Geld verdient wird, ein so integraler Bestandteil des Selbstbildes, der sozialen Wertschätzung und der Selbstdefinition von Personen, dass die meisten Menschen durch ihre Arbeit fest an das Wirtschaftssystem gekoppelt sind.

Als ich beim letzten Klimastreik auf der Raddemo über die Marburger Stadtautobahn fuhr, brüllte uns jemand aus einem vorbeirasenden Auto von der Gegenfahrbahn aus zu: „Geht arbeiten!“. Das war in meinem Fall einigermaßen absurd, weil ich an dem Freitag aus einer vollen Arbeitswoche kam und an meinem ersten freien Nachmittag versucht habe, das Wirtschaftssystem mit der natürlichen Umwelt strukturell zu koppeln. Vor mir fuhr ein weißhaariger Mann auf der Raddemo und sagte dazu: Ich habe Jahrzehnte gearbeitet, ich habe meinen Teil getan.

Die Szene ist leider ein guter Indikator dafür, dass bei dem brüllenden Autofahrer die Kopplung seines psychischen Systems mit dem Wirtschaftssystem so fest ist, dass er Forderungen nach Veränderungen des Wirtschaftssystems, in diesem Fall der Mobilität, als Forderungen nach Veränderung seiner eigenen Psyche erlebt: Eine Kritik an der Autoökonomie erscheint ihm deshalb als Angriff auf seine eigene Integrität als Person. Das Auto, das er fährt, ist so gesehen viel mehr als ein Gegenstand, den er als Instrument seiner Mobilität verwendet: Es ist eine weitere Kopplung (neben seiner Erwerbsarbeit), die sein Körper und seine Psyche mit dem Wirtschaftssystem eingegangen sind. Erwerbsarbeit und Autobesitz sind außerdem zwei Kopplungen, die ineinander verschränkt sind: Viele brauchen ihr Auto, um zur Arbeit zu kommen, und brauchen umgekehrt das Erwerbseinkommen, um sich ein Auto leisten zu können.

Wieso finde ich diese Struktur absurd? Das sind doch erstmal Notwendigkeiten der Lebensrealität. Ich finde sie absurd, weil wir Menschen alle auch Lebewesen und durch unsere Körper Teil der Ökosysteme dieser Welt sind. Wir sind zum Beispiel durch Atmung und Ernährung mit allen anderen Lebewesen auf dem Planeten strukturell gekoppelt. Die strukturellen Kopplungen mit dem Wirtschaftssystem, die sich durch Mythen, Erwerbsarbeit und Autobesitz bilden, scheinen bei vielen Menschen aber so stark zu sein, dass sie nicht mehr wahrnehmen, dass Atmen, Trinken und Essen für ihre psychische und körperliche Integrität und diejenige ihrer Kinder und Enkel wichtiger sind als ihr Auto und der Benzinpreis. Die CDU plakatiert hier in Marburg: „Autofahren verbieten verboten“ gegen die sehr gute rot-grün-grüne Verkehrsreform Move 35. Die Marburger CDU ist damit nicht mehr konservativ, sondern eine revolutionäre Partei, weil sie mit Macht daran arbeitet, die Verbindung der Menschen mit der Biosphäre, die uns hervorgebracht hat und am Leben erhält, durch Kopplungen der Menschen mit einem Wirtschaftssystem zu ersetzen, das alle planetaren Grenzen zu sprengen und alle Verhältnisse, in denen die Menschen noch atmende, fühlende und in ihre Welt eingebettete Wesen sind, umzustoßen droht.

Das bedeutet: Um die Dürre in Spanien und die Verschwendung von gutem Essen in Deutschland zu stoppen, müssen wir nicht nur das Wirtschaftssystem mit der natürlichen Umwelt durch Klimaberichte und Emissionszertifikate strukturell koppeln, sondern wir müssen auch unsere psychischen Systeme vom Wirtschaftssystem aktiv entkoppeln. Ich versuche das, indem ich in Teilzeit arbeite, so auf Einkommen verzichte und Zeit gewinne, um auf Raddemos für die Verkehrswende zu fahren und mit meinem M-Bike (ich fahre eines dieser altmodischen Räder ohne Elektromotor) in meinen Radtaschen Äpfel und Birnen hier im Marburger Umland zu sammeln und dann zu verschenken. Entkopplung ist machbar, Herr Nachbar!

Nachhaltipp: Vegane Milch leicht und schnell selbst machen

Du willst nicht immer Verpackungsmüll für Deine vegane Milch in Kauf nehmen? Du suchst eine praktische und schnelle Methode, vegane Milch für Deine heißen Getränken selbst zu machen?

Du kannst in einem Milchaufschäumer Wasser und Nuss- oder Mandelmus zu einer veganen Milch aufschäumen lassen. Ich nehme für einen veganen Cappuccino einen gestrichenen Esslöffel Bio-Haselnussmus. Das geht schnell, spart Energie und Du musst keine Tetrapacks oder Flaschen mehr kaufen. Das Nussmus ist konzentriert und ein großes Glas reicht für mehrere Liter Nussmilch. Du hast dann einen leckeren Nougat-Cappuccino. Haselnussmus hat allerdings etwas gröbere Bestandteile, die nicht ganz zermahlen sind, an die Konsistenz musst Du Dich vielleicht erstmal gewöhnen.

Mandelmus dagegen ist so fein gemahlen, dass Du eine homogene Mandelmilch daraus schäumen kannst. Besonders lecker: Matcha Pulver mit Wasser und einem Esslöffel Mandelmus zu einem Matcha aufschäumen. Die 60-70 Grad des Aufschäumers sind genau perfekt für diesen sehr gesunden Tee. Das ganze dauert eine Minute. Praktisch ist, einen Teelöfel unter den Esslöffel Mus zu halten, um das Mus ohne Tropfen in den Aufschäumer zu bugsieren.

Auch super: Milchaufschäumer mit Hafermilch und Bio-Kakaopulver und Zucker befüllen, in einer Minute ist deine schaumige heiße Schokolade fertig. Deliziös!

Spüle Deinen Aufschäumer nach dem Gebrauch mit heißem Wasser aus, lasse ihn regelmäßig mit Wasser laufen, um ihn zu spülen und reinige ihn regelmäßig. Dann hast Du länger was davon, weil sich keine Ablagerungen bilden, und Dein Matcha schmeckt nicht nach Kakao (und umgekehrt).

Meinen Milchaufschäumer habe ich auf dem Sperrmüll gefunden. Durch die Stromersparnis, weil er viel weniger braucht als eine Herdplatte, und die gesparten Produktionskosten hat die Methode dann eine super Ökobilanz. Gebraucht kaufen ist auch ok.

Danke, Greta!

Dass Du Dich öffentlich gegen einen großen Teil der Ökologiebewegung dafür aussprichst, erstmal in Ruhe nachzudenken, bevor jetzt Atomkraftwerke abgeschaltet werden, das steigert meinen Respekt für Dich noch einmal.

Ich habe mit 16, 1993, bei den Jungen Grünen gegen Atomkraft protestiert, wir haben unter anderem an die Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl 1986 erinnert. Als ich 9 war, durften wir wegen der radioaktiven Wolke nicht mehr draußen auf dem Boden spielen. Ich bin gegen Atomkraft. Aber Prinzipien und Empörung allein bringen uns jetzt nicht weiter.

Wir stehen in politischen Kämpfen mit Rechtskonservativen und Rechtsextremen, für die ökologisch denkende Menschen der Feind sind, und sie bekommen, wie die AfD in Niedersachsen, immer mehr Stimmen. Mehr Menschen wählen die AfD, weil sie Angst haben, die Gas- und Stromrechnungen nicht mehr bezahlen zu können. Es ist nicht der Zeitpunkt, Symbolpolitik zu machen. Weil wir die Krise des Ukrainekrieges, der Klimakrise und der Pandemie alle gleichzeitig lösen müssen, müssen wir überlegen, was funktioniert, und nicht, wofür wir den meisten Applaus bekommen. Greta, Du bist meine Lehrerin.

Solidarität mit den russischen Anarchist*innen

Ein guter Freund und ich haben beide ein Problem: Es fällt uns schwer, als Linke angesichts des Ukrainekriegs eine klare Position zu den konkreten Maßnahmen gegen den Krieg zu finden.

Im Gespräch habe ich dann gesagt, dass es eigentlich nur eine Klarheit für mich gibt: Dass ich die Aktionen von russischen Anarchist*innen gegen die Kriegspolitik der russischen Regierung, von denen Bernhard Clasen in der Taz berichtet, gut und mutig finde.

https://taz.de/Sabotageakte-in-Russland/!5844653/

Deshalb bin ich solidarisch mit Aleksandra Skochilenko, die in einem Laden Preisschilder durch Informationen über den Angriffskrieg der russischen Regierung gegen die Ukraine ersetzt hat, und deshalb jetzt vor Gericht steht:

Quelle: Siehe den hier angegebenen Link, abgerufen am 29.7.2022:

https://avtonom.org/en/news/hearing-extension-pre-trial-detention-aleksandra-skochilenko

Die Aktivistin hat eine bipolare Störung und ist deshalb besonders verletzlich angesichts der Repression. Auf der Seite finden sich auch Spendenmöglichkeiten für die Aktivist*innen, die sich in Russland der Regierung widersetzen.

Mein Herz ist bei euch.

солидарность!

Sekundäre Heteronomie

Judith Butler schreibt in “Die Macht der Gewaltlosigkeit”, dass Menschen immer zuerst aufeinander angewiesen sind, bevor sie ein wenig Autonomie entwickeln können, die aber immer partiell und brüchig bleibt. Ich finde ihre Analyse des “Phantasmas” des autonomen Subjekts, eines aus der Geschichte und den Beziehungen gefallenen Robinsons ohne Bindungen, sehr treffend. Allerdings bleibt für mich das Angewiesensein aufeinander ein Skandal: Wie ungerecht, als Säugling in eine Welt geworfen zu werden, in der ich ohne die Hilfe und Zuneigung anderer Menschen nicht überleben kann. Was kann unter diesen Umständen realistischerweise Freiheit heißen? Und wieso stanzt die Gesellschaft diese Freiheitsideale in mich ein, die Butler jetzt als Phantasmen enthüllt, wenn sie gar nicht wirklich erreichbar sind?

Heute beim Yoga, das ich jeden Morgen gegen meine Bandscheibenvorfälle mache, kam mir ein Gedanke, den Du vielleicht auch interessant findest: “Sekundäre Heteronomie”. Schon die primäre Heteronomie als Säugling ist ein Skandal, wie Butler ausführt: Sie ist der Grund, aus dem wir in Liebesbeziehungen immer auch Aggressionen auf die geliebte Person empfinden, weil wir, sobald wir einander nah kommen, durch diese Nähe und unsere Angewiesenheit auf die Liebe der anderen Person an unsere Verletzlichkeit als Säugling errinnert werden.

Viel mehr noch ist die sekundäre Heteronomie ein Skandal: Ich beobachte oft, dass Paare einander ergänzen, wofür es im Französischen das schöne Wort “Pendant”, Gegenstück, gibt. Wie ein Paar Schuhe, bei denen der linke ohne den rechten unbrauchbar ist und umgekehrt, funktionieren die Paare nur zusammen in dieser Gesellschaft gut, und sind einzeln hilflos. Das binäre System der Geschlechter ist fundamental auf diese Struktur aufgebaut, auch wenn ich vermute, dass die Pendant-Struktur andere Wege finden würde, sich durchzusetzen, selbst wenn das binäre System abgeschafft würde.

Die Pendant-Struktur ist eine Form von sekundärer Heteronomie: Sie greift, wo eigentlich Chancen auf Autonomie existieren, und unterläuft diese Chancen, indem sie Menschen dazu erzieht, einander auf eine bestimmte Weise zu brauchen. Ich habe mal bei einer Partner*innensuchplattform einen Persönlichkeitstest gemacht, mithilfe dessen der Algorhythmus mich dann matchen sollte. Ich sollte zum Beispiel geometrische Formen bewerten und eingeben, ob sie mich positiv ansprechen. Das Ergebnis des Tests wurde mir in einem Bericht zusammengefasst und auch gleich eine Empfehlung für meine Suche nach einer Partnerin gegeben: Ich sei ein sehr emotionaler Mensch und solle mir eine Frau suchen, die etwas rationaler plant.

Nun ist das leider wahr, rationale Planung ist wirklich keine Stärke von mir. Aber der Skandal besteht darin, dass unsere Gesellschaft eigentlich für eine Art Idealperson geschaffen zu sein scheint, in der alle Kräfte, Charaktereigenschaften und Kompetenzen ideal ausbalanciert sind. Menschen tun sich zu Paaren oder Gruppen oder Teams zusammen, auch weil sie von der Gesellschaft nicht individuell akzeptiert werden, so dass sie in ihr mit ihren Schwächen und Defiziten willkommen sind. Dahinter steckt der Leistungszwang, der alles soziale Leben durchzieht, und um dem gerecht zu werden wir diese Idealperson sein müssten, wenn es nicht die anderen Menschen gäbe, die uns helfen und ergänzen und uns so vom Druck, ideal sein zu müssen, entlasten.

Die Gesellschaft prägt also durch Leistungszwang unsere Beziehungen zu anderen und schafft so eine zweite, kulturell vermittelte Schicht unserer Persönlichkeit, die die erste unserer Bedürftigkeitserfahrung als Säugling überformt. Diese Schicht und ihre Berührungen mit anderen Menschen werden erneut zu einer Quelle von Wut, Ohnmacht, Verzweiflung und Schmerz. Vielleicht habe ich mich durch die primäre Erfahrung des Angewiesenseins so an die damit verbundenen Gefühle gewöhnt, dass die zweite Schicht daran andocken konnte und ich bereit war, trotz des dadurch entstehenden Leids diese neue Persönlichkeitsschicht anzunehmen. Sekundäre Heteronomie, aus der diese schmerzhaften Gefühle entspringen, ist noch frustrierender, weil sie eigentlich nicht notwendig wäre: Dass wir als hilflose Wesen geboren werden, ist eine biologische Realität, und wir können das nicht ändern. Aber die sekundäre Angewiesenheit auf ein Pendant ist nicht notwendig, sondern entspringt der falschen Struktur unserer Gesellschaft, ihren Leistungszwängen und von den Menschen abgekoppelten Idealen.

Das Einstanzen von Freiheits- und Autonomieidealen kann ich auf der Basis dieser Überlegungen nun auch besser analysieren: Es ist Teil der Struktur der Leistungszwänge, weil es Menschen dazu zwingt, die eigenen Defizite zu erkennen, zu beseitigen oder durch Beziehungen auszugleichen. Das ist das, worauf der Algorhytmus der Partner*innenbörse (und das Wort Börse trifft es ganz genau) mich sanft und unmissverständlich hingewiesen hat: Willst Du erfolgreich leben, dann suche dir eine Partnerin nach dem Schema xy. “Freiheit” ist dann aber bloß noch eine Funktion im Algorhythmus einer Gesellschaft, die blind ist für reale Individuen, der es nur ums eigene Funktionieren und den Erhalt der sozialen Strukturen geht.

Mir

Am Sonntag war ich auf der Demo für Frieden in der Ukraine in Frankfurt.

Konsens der Redner*innen war, dass wir jetzt alle Flüchtenden aus der Ukraine aufnehmen müssen und dass die russische Führung der Aggressor ist und deren Armee sich sofort aus der Ukraine zurückziehen muss.

Dissens war deutlich bei der Frage, ob wir aufrüsten sollten, also das 100 Milliarden Euro Sondervermögen für Rüstung der Bundesregierung sinnvoll ist, und ob wir Waffen an die Ukraine liefern sollten. Attac und ein Friedensaktivist sprachen dagegen, der Attac Vertreter wurde dafür ausgebuht, der Frankfurter Oberbürgermeister Feldmann und ein Kirchvertreter sprachen dafür.

Für mich war interessant, dass die Demo auch dadurch bei einem gemeinsamen Grundkonsens sehr plural war, es fühlte sich sehr angenehm an, mit Menschen zusammen zu demonstrieren, die in Aspekten unterschiedlicher Meinung sind. Normalerweise bin ich auf Demos, wo gemeinsame gleiche Empörung stilbildend ist, und am Sonntag habe ich gemerkt, dass ich mich damit eigentlich wegen des Drucks, den das auf mich aufbaut, gar nicht so wirklich wohl fühle und eigentlich nur aus Pflichtgefühl hingehe. Die Fridays waren da schon ein bisschen anders, weil da viel Kreativität und wenig Frontendenken war. Vielleicht lernt die Zivilgesellschaft gerade, dass Pluralität und Gemeinsamkeit gar kein Widerspruch sein müssen.

Die Ukrainer*innen schützen: Gasimporte durch Zölle drosseln

Ein Freund von mir kommt aus der Ukraine, seine Verwandten leben dort und sind von Bomben bedroht. Ich habe in den letzten Tagen manchmal die Taz nicht gelesen, weil ich den Tag nicht mehr weinend am Frühstückstisch beginnen konnte. Ich muss funktionieren. Aber meine Wut auf die russische Regierung und meine Trauer um die Menschen, die dort ermordet werden, wächst.

Was kann ich tun? Kants Idee eines internationalen Gerichtshofes ist auch nach über 200 Jahren noch nicht richtig verwirklicht. Die UN sind das, was seiner Idee am nächsten kommt. Die UN-Vollversammlung hat mit mehr als 2/3 Mehrheit den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine verurteilt und die russische Regierung dazu aufgefordert, den Krieg gegen die Ukrainer*innen sofort zu beenden.

https://www.vorwaerts.de/artikel/uno-vollversammlung-ukraine-welt-stimmt-gegen-putins-krieg

Gleichzeitig bezahle ich mit meinen Heizkosten die Bomben, die jetzt das Leben der Familie meines Freundes bedrohen. Wenn ich nach der Zeitungslektüre noch in den Spiegel schauen können will, muss ich etwas tun. Spenden reicht nicht. Also gehe ich heute um 12 zur Demo auf dem Frankfurter Opernplatz gegen Energieimporte aus Russland.

Aus Diskussionen weiß ich, dass es ein Problem mit einem Embargo gibt: Scheinbar ist die europäische Wirtschaft so abhängig von den fossilen Energieimporten aus Russland, dass wir uns kein Embargo leisten können, bevor wir nicht über einige Jahre neue Infrastruktur geschaffen und neue Energiequellen erschlossen haben werden.

https://www.berliner-zeitung.de/news/russische-energie-bleibt-fuer-die-deutsche-wirtschaft-vorerst-unverzichtbar-li.215829

Ein Mittelweg wären höhere Zölle auf Gasimporte aus Russland, wie sie die USA anstreben.

https://www.finanzen.net/nachricht/aktien/russland-ukraine-krieg-usa-setzen-hoehere-zoelle-gegen-russland-in-gang-11129544

Aus dem Artikel geht hervor, dass dies nach den WTO-Richtlinien im Falle eines Krieges möglich ist. Die Regelung dafür hat die russische Regierung selbst in der WTO durchgesetzt, um die Ukraine mit Zöllen bekämpfen zu können. Die russische Regierung hat damit ein rechtliches Instrument geschaffen, das wir jetzt gegen ihren Krieg einsetzen können.

Zölle auf Gas und einen Stopp der Erdölimporte halte ich für ein gutes Mittel, um die russische Regierung unter Druck zu setzen, diesen Krieg zu beenden. Für das Öl gibt es Alternativen aus anderen Regionen der Welt, für das Gas gibt es aber leider noch keine vollständige Ersatzmöglichkeit. Zölle würden das Gas aus Russland teuer machen, und Menschen und Firmen in der EU so dazu bringen, diese Ressourcen einzusparen, und dadurch würde es einen Anreiz für die Wirtschaft geben, erneuerbare Energien auszubauen und dort zu investieren.

Zugleich müssen wir verhindern, dass die Alternativen zum russischen Gas Kohle, Frackinggas aus den USA und Atomkraft werden. Dazu ist es notwenig, am Kohleausstieg festzuhalten und durch Steuervergünstigungen und Subventionen der Staaten und der EU alle Kraft in den Ausbau der regenerativen Energien zu investieren. Das Geld für diese Subventionen kann dann teilweise aus den Zöllen auf russisches Gas gewonnen werden, so dass die russischen Konzerne dafür bezahlen, dass Europa mittelfristig von ihnen unabhängig wird.

Außerdem sind Zölle ein flexibleres Instrument als ein Embargo: Die demokratischen Regierungen können über die Höhe der Zölle gezielt und dosiert eingreifen: Wenn die Zölle niedriger sind, entlastet die Politik die Verbraucher, sollte zum Beispiel der soziale Frieden durch hohe Energiekosten gefährdet sein. Wirken die niedrigen Zölle aber noch nicht auf Russlands Politik, können sie erhöht werden. Wahrscheinlich gibt es da ein Optimum zwischen der Skylla des gefährdeten sozialen Friedens im Inland und der Charybdis eines von europäischen Geldern finanzierten illegalen Angriffskrieges auf die Menschen in der Ukraine. Dieses Optimum müssen wir schnell finden.

PS: Wen es irritiert, dass ich hier so unkritisch auf Marktmechanismen setze, der lese bitte Fernand Braudels Text “Über die Dynamik des Kapitalismus”, in dem er nachweist, dass Marktwirtschaft nicht gleich Kapitalismus ist, sondern im Gegenteil der Kapitalismus ein System ist, dass Märkte entgegen deren eigentlicher Normativität ausnützt und diese Normativität damit beschädigt.

Tagebucheintrag

Wen Gott liebt, den prüft er, und wen der Teufel hasst, den straft er – und die Scheiße ist, dass sich beides genau gleich anfühlt und man nie genau weiß, was was ist.

Der Mond ist aufgegangen

So legt euch denn, Geschwister,

in Gottes Liebesnester

kalt ist der Abendhauch

verschon uns, Gott, mit Strafen

und lass uns ruhig schlafen

und unsre kranken Nachbarn auch!