- Wissen wir, was wir wissen?
- Was wollen wir tun?
- Was werden wir gehofft haben?
- Warum sind die Menschen?
Ich glaube, ich bin neuroatypisch (und Judith Butler würde mir da wahrscheinlich recht geben)
Heute habe ich in der Marburger Philosophie einen Vortrag von Stefan Lang (Wien) unter dem Titel “ Selbst, Selbstbewusstsein und Affekt“ gehört.
Lang will das Subjekt untersuchen, indem er zunächst den Fokus auf „neurotypische erwachsene Lebewesen“ setzt und versucht, davon ausgehend zu klären, was ein Subjekt (oder ein Selbst) ist. Er sagte, er schließe mit dem Begriff „neurotypisch“ Kleinstkinder, (soweit ich es verstanden habe, meint er alle Menschen, die noch nicht das Wort „ich“ beherrschen), Tiere und psychopathologische Menschen erst einmal aus der philosophischen Untersuchung aus.
Er begründete seine Forschungsfragen „Existieren Subjekte?“ und wenn ja, was sind dann Subjekte? damit, er versuche, Antworten auf die philosophische Diskussion zu finden, in der aus buddhistischer Perspektive bezweifelt werde, dass es Subjekte gebe.
Leider ist mir das beste Argument gegen Langs philosophisches Vorgehen mit dem Begriff „neurotypisch“ erst nach der Veranstaltung eingefallen, so dass ich es nicht mehr äußern konnte:
Ich habe mich gefragt, wie wir als Philosoph*innen eigentlich festlegen, was „neurotypisch“ ist. Ein erstes Problem taucht dabei nämlich auf, wenn wir uns fragen müssen, ob träumende Erwachsene eigentlich in dem Moment, in dem sie träumen, „neurotypisch“ oder „neuroatypisch“ sind (Excuse my language).
Dieses Problem können wir vielleicht lösen. Ein anderes, das an dem Clash zwischen der buddhistisch inspirierten mit der christlich inspirierten Philosophie erkennbar wird, aber, wie ich glaube, mit Langs Methode nicht: Ich denke, dass „neurotypisch“ für alle Menschen genau das ist, was Lang von vornherein ausschließt: Dass wir alle als hilflose, auf unsere Bezugspersonen angewiesene Säuglinge geboren werden, deren Bewusstsein vor allem aus Affekten besteht, lange bevor wir Worte wie „Ich“ oder „Praxis“ oder „Subjekt“ oder „Bewusstsein“ lernen. Dagegen ist wahrscheinlich, wie aus dem Konflikt zwischen der buddhistischen Perspektive und der westlichen Philosophie schon zu ersehen ist, bei den Menschen und auch ihren sozialen Gruppen und Organisationen kulturell bedingt auf den biographisch später sich entwickelnden Ebenen unseres Bewusstseins sehr unterschiedlich, was ein Selbst ist (und ob es so etwas überhaupt gibt). Das hängt von der jeweiligen Sprache und ihrer Logik und der sozialen Praxis, in die diese Sprache eingebettet ist, ab, und es dürfte rettungslos sein, auf diesen Ebenen der Großhirnrinde etwas „Typisches“ zu finden, was bei allen Menschen unabhängig von ihrer Kultur gleich ist.
Ich würde die Existenz von etwas für alle Menschen aller Kulturen „neurotypischen“ auf den durch Sprache und kulturelle Praxis vermittelten Ebenen von menschlichen Nervensystemen daher erstmal generell bezweifeln. Es macht typischerweise einen Unterschied in der Wahrnehmung und im Bewusstsein, ob ich an das Nirvana glaube oder daran, dass ich nach dem Tod Gott im Jüngsten Gericht gegenüberstehe, und dieser Unterschied ist vermutlich so tief in die Geistesgeschichte eingegraben, dass die damit jeweils verbundenen Formen der Identität trotz der Säkularisierung nicht mehr auf etwas „Typisches“ reduziert werden könnten.
Daher finde ich es sinnvoller, genau bei einer der Existenzweisen anzufangen, die Lang von vornherein ausschließt, nämlich beim Bewusstsein von Kleinkindern, wenn wir etwas neurotypisches für alle Menschen aufspüren wollen. Denn mit Judith Butler lässt sich sagen, dass die existenzielle Hilflosigkeit und Verletzlichkeit und die daraus folgende Abhängigkeit von den Bezugspersonen, beides spürbar in starken Affekten der Säuglinge und Kleinstkinder, wahrscheinlich für alle Menschen gleich welcher Kultur ziemlich ähnlich sind – das sind deshalb viel aussichtsreichere Phänomene, wenn wir etwas „neurotypisches“ finden wollen.
Von hier aus können wir dann wahrscheinlich auch irritierende Phänomene wie Träume besser verstehen – und davon träumen, dass wir weniger kulturell bedingte Missverständnisse und Konflikte haben werden, wenn wir mit der Zeit besser verstehen, was ein Subjekt und was ein Affekt und was eine menschliche Beziehung ist.
Ein drittes Problem mit dem „Neurotypischen“ besteht darin, dass die meisten Menschen im Alter ein weniger leistungsfähiges Zentralnervensystem bekommen, bis hin zur Demenz. Ist das typisch für Menschen? Ich würde sagen: Ja. Verlieren alte Menschen dadurch die Eigenschaft, Subjekte zu sein? Offensichtlich nicht. In einem durch Anerkennung von Menschenwürde geprägten sozialen Umfeld lebt die neurologisch voll funktionierende mittelalte Person, die eine demente Person einmal war, in der Erinnerung und in den Erzählungen ihrer sozialen Bezugspersonen weiter. Auf der Basis dieser sozialen Identität, die weitgehend ohne eine korrespondierende „normale“ Neurologie der Person auskommt, treffen dann Angehörige Entscheidungen zum Beispiel über lebenserhaltende medizinische Maßnahmen. Der Begriff des „neurotypischen erwachsenen Lebewesens“ schattet diese soziale Dimension personaler Identität ab. Sie ist aber ein zentrales Element dessen, was wir ein Subjekt nennen und dessen, was unser subjektives Bewusstsein ausmacht.
So geraten die Subjekte, die Lang untersuchen will, zu geburtlosen, nicht alternden, außerhalb der Zeit, der Geschichte und der sozialen Beziehungen existierenden Entitäten. Was das beitragen soll zur Debatte über Subjekte, ist mir sehr schleierhaft. Vielleicht fängt aber auch bei mir schon die Demenz an mit 44, und ich verstehe es nur deshalb nicht. Dann betrachte bitte diesen Text als gegenstandslos. Möglicherweise war ich aber noch neurotypisch, als ich anfing, ihn zu schreiben, und bin erst beim Verfassen langsam neuroatypisch geworden. In diesem Fall bitte ich Dich, im Text den Punkt zu finden, an dem ich anfing, mich zu verlieren.
Mit unseren Körpern
Im Dannenröder Wald und im Hambacher Wald haben die Aktivist*innen oft in Ihren Reden betont, dass sie den Wald mit ihren Körpern zu schützen versuchen.
Angesichts der katastrophalen Überschwemmungen der letzten Tage und der hunderten toten Menschen frage ich mich, wie die Beziehung unserer menschlichen Körper zur Natur eigentlich ist.
Offensichtlich waren die Aktivist*innen nicht stark genug, um die Braunkohle-Industrie und die Autobahn-Industrie rechtzeitig zu stoppen, und die fossile Industrie hat die natürlichen Systeme so gestört, dass jetzt viele Menschen sehr plötzlich deshalb sterben mussten. Um sie trauere ich.
Ein alter linker Spruch lautet aber: Wandelt Wut und Trauer in Widerstand. Das erste widerständige ist vielleicht, zu verstehen, was passiert. Damit meine ich nicht den Zusammenhang von Braunkohleverbrennung und Überschwemmungen, den kann jede*r ganz einfach in der Taz oder anderen Zeitungen nachlesen. Was mich philosophisch interessiert, sind unsere Körper und die Natur.
Ich habe heute darüber nachgedacht, dass wir Menschen ja alle Teil der Natur sind, solange wir lebendige Körper haben. In der Philosophie unterscheidet man Körper und Leib, und meint mit „Körper“ eigentlich das, was wir sehen, wenn wir Menschen rein naturwissenschaftlich objektivierend betrachten, als Lebewesen unter anderen Lebewesen, die die Biologie beschreibt und erklärt. Leib ist dagegen das, was wir haben, weil wir durch Kultur bestimmte Beziehungen zu anderen Personen haben, unsere Körper durch die Brille unserer Sprache und unserer Praxis sehen und fühlen und uns sozial definieren als Person mit leiblichen Eigenschaften. Beim Verständnis des Leibes helfen uns die Psychologie, die Sozialwissenschaften, die Rechtswissenschaften, die Theologie und die Philosophie, alle Wissenschaften, die Sinn deuten und erkennen.
Es gibt eine alte Debatte in der Philosophie über das „Leib-Seele-Problem“ (oder neuer formuliert: das „Körper-Geist-Problem“), weil wir bisher nicht richtig beschreiben können, wie diese zwei wissenschaftlichen Perspektiven verknüpft und miteinander harmonisiert werden können, (das ist ein bisschen wie in der Physik das Nebeneinander von Quantenmechanik und Relativitätstheorie), und deshalb wissen wir auch nicht genau, wie Körper und Geist miteinander verknüpft sind. Manche sagen, es gibt nur Körper, andere, es gibt nur Geist, und dazwischen gibt es viele, die glauben, dass es beides gibt.
Der Begriff Leib ist eigentlich schon der Versuch, die beiden Perspektiven miteinander zu verbinden, besser noch ist Leiblichkeit: Das Wort benennt ein komplexes Netz von Beziehungen zwischen Menschen, und in diesem Netz bildet jeder Leib so etwas wie einen Knoten, der mit anderen Knoten so eng verknüpft ist, dass es oft willkürlich ist, zu sagen, dass es sich bei Beziehungsfaden A um ein Element von Leib 1 handelt und bei Beziehungsfaden B um ein Element von Leib 2.
Meine Idee heute, als ich durch den Wald lief, war: Das Wort Leib ist kulturhistorisch stark mit der christlichen Tradition aufgeladen, und ich fürchte, das ist nicht wirklich hilfreich. Da fällt mir zumindest gleich die biblische Geschichte vom letzten Abendmahl ein. Damit sind Vorstellungen von Unsterblichkeit und der Einheit von Menschen und sozialen Gruppen verknüpft.
Was ich im Danni erlebt habe, war aber, dass das Verhältnis vieler Menschen zur Natur immer noch und vielleicht mehr denn je ein Gewaltverhältnis ist. Was so schön und harmonisch klingt, die Verbundenheit unserer sozialen Beziehungen in der Leiblichkeit, ist in Wirklichkeit sehr häufig Ausbeutung und Unterdrückung.
Ich will nicht unsolidarisch gegenüber der älteren Frau sein, die als kirchliche Beobachterin der Kirche von Kurhessen Waldeck im Danni von einem Polizisten tätlich angegriffen wurde, vielleicht ist ihr der Begriff Leib aus ihrem Glauben heraus wichtig. Aber der Polizist hat durch den körperlichen Angriff die Sphäre der Leiblichkeit verlassen.
Ein Mitdemonstrant berichtete mir, ein Polizist habe ein Seil zum Reißen gebracht und eine Aktivisti sei dadurch aus einer Höhe von über 4 Metern auf den Boden gefallen. Die Polizisten waren dort im Auftrag des hessischen Innenministers. Eine Maschine hat sich unter ihrem Schutz durch den Wald gefressen, gegen alle Widerstände von Menschen mit ihren Körpern. Diese Maschine sorgt dafür, dass Extremwetterereignisse wie Überschwemmungen noch wahrscheinlicher werden und die Trinkwasserversorgung in Hessen gefährderter ist.
Die Grünen betonen oft, die A49 sei durch rechtsstaatliche Verfahren zustandegekommen. Der Rechtsstaat ist aber nicht einfach eindeutig, sondern die Rechte und Gesetze müssen interpretiert werden, damit wir wissen, was wir tun dürfen und sollen. Und die Maschine, die den Danni durchbrochen hat, ist nicht von den Gesetzen gedeckt, insbesondere widerspricht sie Artikel 26 der hessischen Verfassung, demzufolge der Staat die natürlichen Lebensgrundlagen schützt, auch im Sinne zukünftiger Generationen. Das oben beschriebene Vorgehen der Polizei ist auch nicht von den Grundrechten gedeckt, es verletzt unter anderem das Recht auf Unversehrtheit des Leibes und die Versammlungsfreiheit.
Körper sind nicht unsterblich und werden es niemals sein. Es ist nicht mal sicher, ob Körper einen Geist und eine Seele in sich tragen, die unsterblich ist. Wenn wir erfahren, dass unsere Körper verletzlich und machtlos sind gegen die Zerstörung, wächst unser Bewusstsein dafür, dass das Leben bedroht ist. Die Menschen, die auf den Autobahnen in ihren SUVs mit 150 km/h hin und herfahren, verlieren dieses Bewusstsein.
Ausbeutung und Unterdrückung der Natur fängt bei jedem von uns an. In uns ist eine imperiale Struktur, die wir in unserer Sozialisation verinnerlicht haben, vielleicht am ehesten das, was Judith Butler in „Die Macht der Gewaltlosigkeit“ ein „Phantasma“ nennt: Dieses Phantasma trennt uns von den anderen Menschen und den anderen Lebewesen, es sorgt dafür, dass wir unsere Körper formen wie Bildhauer*innen ihre Stauen, ohne körperliche Bedürfnisse und Gefühle zu respektieren, so stellt es sicher, dass wir arbeiten und Profite generieren, auch wenn die Welt halb untergeht. Das Phantasma erzählt uns die Geschichte, dass Technik uns unsterblich machen kann und dass die menschliche Gesellschaft stärker werden kann als das Leben und die Natur. Dieses Phantasma muss mit Gewalt verteidigt werden, weil ganz einfache kindliche Erfahrungen uns jeden Tag und jede Stunde daran erinnern, dass es nicht real ist, dass wir sterblich sind und verletzlich und andere Lebewesen und Menschen brauchen, um zu leben.
Wir sollten deshalb unsere Körper achten und den Begriff Leib vermeiden, wenn Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse zur Sprache kommen. Wir sollten akzeptieren, dass wir nicht genau wissen, wie unser Geist und unser Körper zusammenhängen. Ich hatte Angst, mich auf einen Tripod zu setzen, weil die Aktivist*in abgestürzt ist. Ich hatte Angst, mich vor die Wasserwerfer zu stellen im letzten Dezember, als die Polizei die Barrios räumten. Ich wollte meinen Körper schützen. Ich habe 20jährige gesehen, die sich in der Kälte in den Wasserwerferstrahl gestellt haben. Ich habe den Aktivistis in den Bäumen zugerufen: „Du bist nicht allein!“ Aber ich musste meine Grenzen akzeptieren, die Grenzen meiner Fähigkeit, zu widerstehen. Jedesmal, wenn ich mit der Bahn an der Schneise der A49 bei Stadtallendorf vorbeifahre, ist mir zum Weinen zumute. Aus Trauer, aus Wut, und aus Scham, weil ich meinen Körper zu schützen versucht habe und die Maschine auch deshalb nicht aufhalten konnte.
Vielleicht sind unsere Emotionen das einzige, was unseren Körper mit unserem Geist verbindet. Vielleicht ist die Unfähigkeit zu Fühlen das schlimmste Ergebnis des Phantasmas der Naturenthobenheit. Es hinterlässt einen Körper ohne Glück und einen Geist ohne Sinn. Es tötet uns, bevor wir sterben. Autofahren und Strom verbrauchen können wir dann aber immer noch.
Reziproke Resonanz: Zu einem postkapitalistischen Narrativ der Liebe
Ich lese gerade „Gefühle in Zeiten des Kapitalismus“ von Eva Illouz. Illouz analysiert darin, wie der Feminismus und der therapeutische Diskurs der Psychologie die Gefühle, insbesondere die in Liebesbeziehungen, verändert haben. Illouz zufolge wurden beide Strömungen unter anderem insofern einflussreich, dass sie durchsetzten, dass Liebesbeziehungen heute auch Orte von Verhandlungen sind, Verhandlungen zwischen gleichberechtigten Partner*innen über die Werte, die in der Beziehung gelten und beachtet werden sollen. Paradoxerweise hat der Feminismus als ein eigentlich kritischer Diskurs so Praxisformen und Diskursformen des Kapitalismus (die Idee, dass alle Werte auf Märkten durch Verhandlungen erzeugt werden, ist kapitalistischen Ursprungs) ) auf die Liebesbeziehungen und die Gefühle ausgedehnt.
Ich habe mit einer Freundin, die mir das Buch empfohlen hatte, über diese Thesen diskutiert und wir sind beide der Meinung, dass das 1. stimmt, aber 2. nicht aus lauter Antikapitalismus jetzt feministisch aufgeklärte Liebesbeziehungen abgelehnt werden dürfen, sondern wir brauchen 3. ein neues Narrativ, dass die Fortschritte, die in dem Verhandlungsmodell der Liebesbeziehung stecken, erhält, und so transformiert, dass die Beziehung zwar gleichberechtigt bleibt, aber keine absolute Marktbeziehung mit einer ausschließlich ökonomischen Struktur wird.
Ich habe jetzt die Idee, dass dieses neue Narrativ um die Idee von reziproker Resonanz als Fundament von Liebesbeziehungen gruppiert werden kann. Damit meine ich, dass die Liebesbeziehung zwar wie eine Marktbeziehung eine Art wechselseitiger, freiwillig eingegangener Vertrag ist, der in Verhandlungen entsteht. Gleichzeitig sollten diese Verhandlungen aber nicht illusorischerweise auf objektiv gedachte Werte, die sozusagen die Verhandlungsmasse und die Substanz des Vertragsergebnisses darstellen, gerichtet sein. Stattdessen kann eine Liebesbeziehung als eine Beziehung gesehen werden, in der die beteiligten Personen eine sich reziprok verstärkende Resonanz von Gedanken, Äußerungen, Gefühlen und Praxisformen erleben können. Resonanz verwende ich hier als Metapher, die ich so verstehe: Menschen sind leiblich-emotional-geistige Wesen, diese Ebenen erzeugen einen komplexen Resonanzraum, wie der Korpus eines Musikinstruments kann dieser Raum Schwingungen bestimmter Tonhöhe, die die andere Person aussendet, aufnehmen und verstärken, wobei sich auch der Charakter der Schwingungen vermittelt durch die individuelle Resonanz verändert. Liebe erscheint mir also als die Kunst, die komplexe Resonanzfähigkeit von zwei oder mehr Menschen so zu harmonisieren, dass die Schwingungen reziprok hin- und hergespielt werden und dabei etwas neues entsteht.
Die Resonanzmetapher verhindert, dass wir Liebe verdinglichen, wie es die rein kapitalistische Metapher der Marktbeziehung tut. Weder erzeugt Resonanz Liebe, die dann wie ein Gegenstand zwischen den Verhandlungspartnern steht und per Vertrag gerecht aufgeteilt wird, noch hat Liebe eine Dauer, die irgendwie von der Resonanzpraxis und den Resonanzerlebnissen unabhängig und trennbar wäre, noch lässt sich Liebe, die wir fundiert auf reziproke Resonanz denken, auf zwei Personen isolieren, weil sie immer ein wenig ausstrahlt. Gleichzeitig gibt uns die Metapher auch ein Bild dafür, dass die Reziprozität einer solchen Beziehung nie perfekt symmetrisch sein wird, wie es das Ideal einer Marktbeziehung suggeriert, weil ein Mensch auf leiblicher, emotionaler und geistiger Ebene immer ein einzigartiges Mitschwingen erzeugen wird, dass nie symmetrisch gespiegelt werden kann, weil die Resonanz die Schwingung auf je eigene Art verändern wird. Und gerade diese Unfähigkeit zu Symmetrie bedroht einerseits die Dauerhaftigkeit der Beziehung und ermöglicht andererseits überhaupt das Spiel der Resonanzen.
Bandscheibenvorfallsphilosophie
Wozu so ein Bandscheibenvorfall doch gut sein kann: Ich lag eben auf der Seite und habe meine Übung gemacht. Dabei wurde mir etwas sehr klar.
Und zwar habe ich die Augen geschlossen und gefühlt, was während der Übung in meinem Körper passierte. Die Fachleute haben mir mein Problem so erklärt: Ein spezieller Nerv wird von einer deformierten Bandscheibe in meinem Rückrat eingeklemmt, dort, wo der Nerv aus der Wirbelsäule austritt. Deshalb hatte ich schreckliche Schmerzen bis in den Fuß herunter. Jetzt tut es etwas weniger weh. Die Übung besteht darin, den Fuß anzuziehen und dabei gleichzeitig den Kopf in den Nacken zu legen, dann den Fuß langsam zu strecken und den Kopf auf die Brust zu legen.
Während ich das tat, spürte ich, wie es über meine ganze Seite von der Hüfte bis in den Fuß herunter zog und ein bisschen brannte.
So wie mir das erklärt wurde, kommt das Brennen aber nicht von der Hüfte oder dem Bein, sondern entsteht dadurch, dass der Nerv an seiner Wurzel, wo er aus der Wirbelsäule austritt, gedrückt und dabei gereizt wird.
Ich hab das dann gespürt und dachte: Wie seltsam, dass mein Nerv gar nicht signaliisieren kann, wo genau es ihn schmerzt, der Schmerz wo ganz anders herzukommen scheint, als er wirklich kommt, und wieso mein Körper mir die Illusion gibt, dass es wo schmerzt, dabei das Problem aber an einer anderen Stelle liegt.
Ich habe mal gelesen, dass manchmal Leute am Gehirn operiert werden, während sie wachs sind, das geht, weil das Gehirn selbst keine Schmerzrezeptoren hat und man also nichts spürt, während einem einer in der Großhierrinde rumschnipselt. Nur die Kopfhaut und die Hirnhaut sind wahrscheinlich sensibel, der Rest dadrunter ist anscheinend einfach sehr sehr taub.
Dasselbe trifft offensichtlich auch auf meinen Nerv zu, denn da, wor er eingeklemmt ist, spüre ich gar nichts.
Ich hab dann überlegt, warum das so ist. Es wär doch viel besser, wenn jeder Nerv den anderen Nerven signalisieren könnte: An der Stelle tuts mir weh. Dann kann der Gesamtorganismus dafür eine Lösung finden, statt im Nebel zu stochern, was denn nun eigentlich schif läuft. Die Natur ist jetzt nicht so eine schlechte Baumeisterin, warum macht sie es nicht so?
Dann hab ich eine Hypothese dazu entdeckt: Wenn mein Nerv zusätzlich zu den Schmerzinformationen aus dem großen Zeh (wenn ich mir den zum Beispiel stoßen würde) jetzt auch noch ans restilche Nervensystem die Info schicken würde, dass es ihm auch auf der Informationsbahn weh tut, dann könnte das zu folgendem Problem führen: Wenn der Reiz groß genug ist, den der Nerv weiterleitet (also bei starken Schmerzen), könnte der Reiz auf der Bahn selbst wegn der hohen Signalstärke Schmerzen in den leitenden Zellen hervorrufen. Diesen Schmerz würden die dann ebenfalls weiterleiten, was zu einem sich selbst verstärkenden Echo von Schmerzsignalen führen könnte. Eine Schmerzspirale.
Deshalb müssen sich nach meiner Hypothese Nerven relativ neutral anfühlen, sie könnten sonst keine Signale über Gefühle weiterleiten. Deshalb können wir Schmerzen nur da spüren, wo die Nervenbahnen enden, an der Haut oder an den Organen.
Wie man merkt, bin ich nicht medizinisch gebildet, keine Ahnung, ob das annähernd stimmt. Aber ich hatte dann eine philosophische idee im Anschluss daran, und da bin ich ziemlich sicher, dass sie stimmt:
Wenn ich diese Schmerzbesonderheit mit der Schmerzspirale als Metapher nehme für das Verhältnis von Gefühlen und Denken, wobei die Nervenenden für die Gefühle und die Nervenbahnen für das Denken stehen, dann bedeutet das: Ohne Gefühle kann mein Denken sich nicht selbst signalisieren, was mit ihm passiert. Nicht nur sind Begriffe ohne Anschauung leer – das begriffliche Denken kann sich auch selbst nicht begreifen ohne Gefühle.
Das heißt: Denken ist ein leiblicher Vorgang, kein rein geistiger. Leiblich heißt: Ich denke immer als ganzer Mensch, als Körper-Sprache-Verstand-Beziehungs-Handlungs-Empfindungs-Gewohnheits-Gefühls-Geist-Wesen. Mentale Prozesse kann man vielleicht analytisch, zu bestimmten Zwecken, so beschreiben, als ob sie rein kognitiv wären, aber das ist eine Abstraktion, die in der Regel, und ohne ihren Reduktionismus zu reflektieren immer, zu mehr Problemen führt, als sie löst.
Als mir das einfiel, hatte ich sofort weniger Schmerzen. Jetzt fangen sie wieder ein bisschen an, ich hab zu lange gesessen und geschrieben. Bis dann.
Ein Problem der Selbst-Sorge
Im Gefolge von Foucault ist die Selbst-Sorge stärker in den Blick gerückt. Die emanzipatorische Idee dahinter ist nach meinem Verständnis, dass nur Individuen mit einem effektiven Repertoire von „Technologien des Selbst“ die Kraft haben, sozialen Herrschaftsprozessen stand zu halten und sich zu befreien. Ich sehe in der Figur der Selbst-Sorge aber ein Problem angelegt, das ich im Folgenden entfalten werde.
Von Beatrice Müller habe ich auf der AKG Tagung in Marburg gestern gelernt, dass Care (was ich hier mit Sorge übersetze) als soziale Beziehung nur gelingen kann in einer Wechselseitigkeit zwischen dem sorgenden und dem umsorgten Menschen, weil gelingende Sorge keine Subjekt (Sorgender) – Objekt (Umsorgter) – Beziehung sein kann, wie es in einem Prozess der Reparatur von einem Ding der Fall ist. Ich glaube, dass die Unmöglichkeit, die zu umsorgende Person erfolgreich zu reparieren wie ein Ding, darin begründet liegt, dass das Sorgen immer von den Bedürfnissen der zu umsorgenden Person initiiert wird. Wenn ich beispielsweise Rückenschmerzen habe, wie die ganzen letzten Wochen, dann besorge ich mir die Sorge anderer (in diesem Fall meines Arztes und meiner Physiotherapeutin) aus meinem Bedürfnis nach einem schmerzfreien Leben heraus.
Ohne diese Initiierung und deren Verstetigung im Sorgeprozess, in dem ich immer wieder Sorgehandlungen der anderen erbitte und annehme, kann ich nicht umsorgt werden. Das liegt auch daran, dass sich Bedürfnisse und Gefühle ändern, chaotisch und vielfältig sind, sich überlagern und widersprechen (um mit Beatrice Müller und Kristeva zu schreiben – „nicht strukturiert“ sind), und deshalb ständig ein neuer Anfang in der Sorge gemacht werden muss, um auf veränderte Gefühle, Empfindungen und Bedürfnisse eingehen zu können. Und dieser Anfang muss in wechselseitigen Beziehungen entstehen, da die umsorgende Person die notwendige Sensibilität für Empfindungen und Bedürfnisse anderer nur dann entwickeln kann, wenn sie eine mitmenschliche Beziehung eingeht. Denn sie kann Bedürfnisse nur dann wahrnehmen, deuten und verstehen, wenn sie die zu umsorgende Person berührt, ihre Mimik deutet, ihre Gefühle mitfühlt und dies auch in Resonanzen spürbar für die umsorgte Person macht.
Aus diesen Gründen sehe ich ein fundamentales Problem in der Figur der „Sorge um sich“: Meines Erachtens sprechen wir mit solchen Wendungen über Selbstverhältnisse, als ob sie soziale Beziehungen zwischen Menschen wären. Im Falle des Versuches, mich selbst zu umsorgen, fehlt mir aber ein anderer Mensch, dessen inkommensurable, „nicht-strukturierte“ Facettenvielfalt meiner ähnelt. Sich ähnlich fühlen heißt aber, sich geborgen zu fühlen, ohne zu verschwinden.
Ich habe im Zivildienst ein 6jähriges Mädchen umsorgt, das nicht sprechen konnte und fast blind war. Sina hat mit ihrer Stimme Beziehungen aufgebaut, zum Beispiel hat sie, wenn ich mit ihr sprach, immer so tiefe Töne gemacht, wie sie mit ihrer Stimme machen konnte. Sie hat also mimetisch nachgeahmt, wie ich ihr erschien. Dabei war ihr das Vergnügen anzumerken, das ihr das Produzieren der tiefen Töne machte, ich glaube heute, weil sie es lustig fand, mich nachzumachen und zu merken, dass es halt nicht ganz original klingt, weil sie nicht so tiefe Töne machen konnte, wie ich, aber ihre Stimme eben doch hörbar anders klang, als wie sie sonst klang, wenn sie sich nicht anstrengte, wie ich zu klingen.
Ich glaube, dass in Care-Beziehungen immer wieder, etwa in der Mimesis, die Freude an der eigenen Vielfalt und den eigenen Grenzen und deren Fruchtbarkeit für soziale Beziehungen aufscheint und dass deshalb soziale Care-Beziehungen Normalisierung und Herrschaft immer etwas unterlaufen.
„Selbst-Sorge“ jedoch kann keine mimetischen Elemente enthalten. Wer sich selbst nachzuahmen versucht, versucht seine Entfremdung zu überspielen, statt sie zu unterlaufen. Der Versuch wird in der Regel tragisch enden. Deshalb fehlt der „Selbst-Sorge“ mindestens in dieser Hinsicht der subversive, emanzipatorische Charakter, der sozialen Sorgebeziehungen oft innewohnt.
Die Utopie, der Unsinn der Geschichte und wir
Ich glaube, dass aller Sinn, alle Gerechtigkeit und alle Bedeutung, die in dieser Welt existieren, von uns Menschen geschaffen wurden. Sie sind das Ergebnis von viel harter Arbeit, Sorge, Achtsamkeit, gutem Willen, Nachdenken, Mut und gutem Herzen, die wir Menschen aufbringen und mit denen wir versuchen, das Beste aus Situationen zu machen.
Wenn wir über die zukünftige Gesellschaft reden, die Utopie, die wir anstreben, dann sollten wir das meiner Meinung nach in dem Bewusstsein tun, dass auch die vergangenen Gesellschaften nie wirklich sinnvoll geordnete, kohärente Zustände waren. Sondern sie waren das Ergebnis von allen Handlungen, mit denen Menschen versucht haben, das Beste aus Situationen zu machen. Dabei ist immer eine riesige Menge an chaotischen, sich widersprechenden und unzusammenhängenden Handlungen, Traditionen, Ideen und Praxisformen herausgekommen, die wir heute in den Geschichtsbüchern als die Gesellschaft der jeweiligen historischen Epoche beschrieben finden.
Ich glaube, dass jede zukünftige Gesellschaft, solange Menschen leben, genau so eine riesige Menge an Versuchen bleiben wird, dem Leben und der Welt einen Sinn abzuringen.
Und genau für den Mut, in all unserer Unvollkommenheit immer neu zu versuchen, das Beste aus Situationen zu machen, liebe ich uns Menschen. Auch für die ganzen Irrtümer, das unglaubliche Tohuwabohu, das dabei entsteht und in dem wir dann versuchen, uns trotz unserer Verwirrung und unserer Wut einigermaßen zurechtzufinden. Und die ganzen Fehler und Dummheiten, die wir dabei machen, will ich erstmal als das Ergebnis unseres Bemühens ansehen, in völlig undurchschaubaren Situationen das Gute zu tun.
Heidegger, Hämmer und die Praxis der Politik
„When all you got is a hammer, everything looks like nails.“
Kate Tempest
Heideggers Konzept der vorgängigen Eingebundenheit in praktische Zusammenhänge wird oft prototypisch anhand des Hammer-Beispiels erläutert. Ein Hammer ist nach Heidegger „zuhanden“, was bedeutet, dass ich, wenn mir als Mensch das erste Mal ein Hammer begegnet, in ein historisch gewachsenes praktisches Vollzugskonzept eingebunden bin, der Hammer gibt mir sozusagen die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten seiner Verwendung vor, ohne dass ich bewusst beurteile, welches diese Möglichkeiten und Unmöglichkeiten sind. Ich kann den Hammer nur so benutzen, wie dieses Vollzugskonzept es mir vorgibt. Ich bin also mit dem Hammer in eine Form von Praxis integriert, deren Sinn historisch konstituiert ist durch die Kultur, in die der Hammer eingebettet ist.
Nun ist unsere Kultur unglaublich vielfältig, es gibt nicht nur Hämmer, sondern Millionen von unterschiedlichsten Dingen, wie Büroklammern, Bücher, den hermeneutischen Zirkel, Partytröten, Plattenspieler, Fagotte, Pluderhosen, Bulldozer und Atomkraftwerke in eingeschaltetem und ausgeschaltetem Zustand. Und was an dem Hammer-Beispiel nicht deutlich wird, ist, dass alle diese Gegenstände in ganz unterschiedliche Kontexte eingebettet sind und deshalb auch unterschiedliche Rahmen für die menschliche Praxis vorgeben. Wenn mir in meinem Elternhaus nur ein Hammer begegnet oder nur ein Fagott, werde ich in unterschiedliche Lebensweisen hineinsozialisiert und werde auch unterschiedliche Konzepte von Sinn internalisieren.
Die Lebenswelt ist aber nicht nur vielfältig, sondern auch widersprüchlich, weil die verschiedenen Praxisformen ganz unterschiedliche Sinnkonzepte vorgeben: Es ist sehr schwierig, mittels eines Fagotts eine Hütte zu bauen, und die musikalischen Möglichkeiten eines Hammers sind, trotz der Einstürzenden Neubauten, dann doch recht begrenzt. Und die Sinnzusammenhänge des Hüttenbauens und des Musizierens sind grundverschieden. Bauen ist materialbezogen und auf Haltbarkeit orientiert (von der geplanten Obsoleszenz großer Betonsiedlungen einmal abgesehen), während Musik sich auf ästhetisches Erleben und vergängliche Sinneseindrücke richtet.
Das wäre alles unproblematisch, wenn die Praxisformen einfach nur Praxisformen wären. Aber zugleich prägen sie unser Denken, und wenn etwas, in Heideggers Begriffe gefasst, vom Zuhandenen zum Vorhandenen wird, weil es nicht funktioniert, und wir beginnen, nachzudenken, zu erklären und zu beurteilen, um die Funktionsfähigkeit herzustellen, dann tun wir das vor dem Hintergrund der Horizonte, die uns die Erfahrungen mit Zuhandenem vorher mitgegeben haben. Wir können diese Horizonte gemäß Husserls epoche einzuklammern versuchen, können uns von den Begrenzungen, die sie unserem Denken, Wahrnehmen und Erkennen auferlegen, zeitweise und teilweise freimachen. Aber es wird immer ein Rest eingeschränkter Sicht bleiben, weil wir sonst gar nicht denken und damit auch nicht erklären und urteilen könnten.
Wenn ich aber einen Horizont habe, der praktisch eingeschränkt ist dadurch, dass ich zum Beispiel nur technische Werkzeuge benutzen kann, kein Buch lesen, kein Musikinstrument spielen und auch keine wissenschaftliche Theorie anwenden kann, dann werde ich auch in der Situation der Reflexion aus meinem Praxishorizont heraus erklären und kritisieren, wie ich es eben kann. Und wenn mein Praxishorizont nur technisch-instrumentell ist, weil ich nur das Konzept des Werkzeugs kenne, dann werde ich tendenziell immer in technisch-instrumentelle Erklärungen gleiten, Erklärungen, die eher materialistisch und instrumentalistisch sind. Wenn ich musikalische Erfahrungen als zentrale Bezugspunkte habe, werde ich Gefühle, Nuancenwahrnehmungen, Flüchtigkeit und die Erlebnisdimension menschlichen Lebens fokussieren und werde in subjektivistische, sensualistische Reflexionen gleiten.
Das ist wirklich erst einmal kein Problem. Es wird zum Problem, sobald der Gegenstand, der nicht mehr funktioniert, politisch ist. Politik ist die Praxis, mit der wir gemeinsam unserer Lebenswelt und ihren Praxisformen eine integrierende Ordnung geben. Und dies ist nicht einfach eine Praxis unter vielen in der Lebenswelt, sondern sie hat die zentrale Aufgabe, die Widersprüche und Konflikte, die die unterschiedlichen Praxisformen und die daraus entstehenden divergierenden Denkweisen im Verhältnis zueinander erzeugen, so zu ordnen, dass die Lebenswelt ein Ort guten Lebens für alle ist. Daher müssen wir die Partikularität einzelner Praxisformen und das damit verbundene eingeschränkte Denken und Wahrnehmen im Politischen überschreiten.
Selbstverwirklichung, Pause machen
Ich saß vor einiger Zeit mit meinem guten Freund und Mitphilosophen Daniel in einem philosophischen Vortrag, in dem es unter anderem um Selbstverwirklichung ging. Ich habe Daniel, um den Vortragenden nicht zu stören, auf meinen Zettel geschrieben: „Wieso Selbstverwirklichung? Ich bin doch schon wirklich.“ Daniel schrieb mir eine lange Antwort und verteidigte das Konzept der Selbstverwirklichung. Das ist jetzt in doppelter Weise interessant: 1., weil man daran sieht, dass sich auch erwachsene Philosophen manchmal wie 16jährige Schüler verhalten, und 2. weil Daniel und ich oft einer Meinung sind, und dass wir beim Thema Selbstverwirklichung nicht übereinstimmen, weist darauf hin, dass es sich um ein interessantes philosophisches Problem handelt.
Deshalb denke ich jetzt auch schon seit einigen Jahren darüber nach, und jetzt ist mir etwas aufgefallen: Ich glaube, mein Problem mit dem Begriff Selbstverwirklichung ist nicht so sehr das, was Axel Honneth und andere Philosoph*innen und Soziolog*innen an dem Konzept und seiner sozialen Realität kritisieren, dass wir nämlich in Zeiten bloß scheinbarer Selbstverwirklichung leben: Viele Menschen arbeiten auf „Projektsstellen“ oder in eigenen Start-Up-Mini-Firmen im neoliberalen Kapitalismus, was ihnen scheinbar kreative Freiräume bietet, leider aber real Ausbeutung und Fremdbestimmung und Unsicherheit bedeutet. Diese „Flexibilisierung“ ist ein Weg, eine ganze Klasse von Menschen, die eigentlich von Fremdbestimmung die Schnauze voll haben, zu integrieren und auszunutzen. Mein Problem mit dem Konzept ist auch nicht in erster Linie, dass es unter dem Deckmantel scheinbarer Freiheit Leute zwingt, sich selbst ständig zu verbessern, eben Selbstoptimierung zu betreiben und sich so selbst der schlimmste Disziplinierer sein zu müssen, vor dem es kein Entrinnen gibt.
Mein Problem ist, dass Selbstverwirklichung ein sehr reduziertes Konzept menschlicher Freiheit ist, und andere Formen menschlicher Freiheit darüber vergessen werden. Das Konzept lässt sich so zusammenfassen: Ich habe Wünsche, wer und wie ich sein will und was ich in der Welt erreichen will, ob das jetzt ist, als hipper Grafikdesigner die IT-Welt zu revolutionieren oder als Ärztin in Nigeria unter Lebensgefahr Leute vor dem Malariatod zu retten. Und diese Wünsche will ich in die Wirklichkeit umsetzen. Das nenne ich dann: „Ich habe mich selbst verwirklicht.“ Das ist sozusagen ein kreatives Verhältnis zur eigenen Identität: Ich habe eine Idee von mir, und die will ich umsetzen. Das ist vergleichbar mit Sartres existenzialistischem Konzept, demzufolge wir Menschen „zur Freiheit verurteilt“ sind. Wir müssen uns selbst definieren, einen „Entwurf“ von uns machen und den dann zur Orientierung in unserem Leben benutzen.
Das ist auch alles schön und gut. Das Problem ist aber, dass ich ja schon längst jemand war, bevor ich mir einen Entwurf gemacht habe, wer ich sein will. Ich bin in einer bestimmten Familie zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten gesellschaftlichen und politischen Situation geboren, und das ist Teil meiner Identität, ohne dass ich auch nur einen Mucks dazu zu sagen hatte, ob ich diese Identität haben wollte oder nicht. Und nur exzessiver und anhaltender Drogengebrauch, eine Wahrnehmungsstörung oder eine Massenpsychose können mich dauerhaft darüber hinwegtäuschen, dass ich eben nicht alle meine Eigenschaften kreativ verändern, ablegen und mir auch nicht beliebig viele neu aneignen kann.
Das wäre jetzt für die Selbstverwirklichung etwa im Sinne von Peter Bieris Handwerk der Freiheit kein Problem, weil es in seinem Konzept reicht, wenn ich mich ein bisschen selbst gestalten kann, darin liegt dann eben die begrenzte Freiheit, die wir haben.
Aber ich denke, dass auch dies ein ausgesprochen reduktionistisches Verständnis von Freiheit ist, weil für mich Freiheit eben auch und in erster Linie bedeutet, das ich all das ausleben kann, was ich mir zwar nicht bewusst selbst ausgesucht habe, was aber trotzdem Teil meiner Identität ist. Ich habe eine Reihe von Gefühlen, Gedanken, Bedürfnissen und Wünschen, die habe ich mir nicht ausgedacht und mir auch nicht gewünscht, zum Beispiel das Bedürfnis, mich dann und wann ordentlich zu besaufen. Und den tiefempfundenen Wunsch, mein Leben lang faul zu sein, und trotzdem reich. Ich weiß selbst, dass das einem Ethiklehrer nicht gut zu Gesicht steht. Aber wenn ich nicht solche Wünsche wenigstens manchmal ausleben kann, dann fühle ich mich wie im Knast, und da hilft mir auch die ganze vielgepriesene Selbstverwirklichung nicht, weil Freiheit eben auch und vor allem darin besteht, dass ich wenigstens zeitweise ich selbst sein kann, wie ich bin, und Punkt. Und dass mein soziales Umfeld das akzeptiert, auch wenn es manchmal nervt.
Peter Bieri würde mich in solchen Momenten dann vermutlich mit Harry Frankfurt einen „Wanten“ nennen, ein Wesen, das seinen eigenen Wünschen willenlos ausgeliefert ist. Und ich denke ja auch, dass es überlebenswichtig für mich ist, dass ich meinen Wunsch, faul zu sein, mit meinem Willen kontrollieren kann, damit ich nicht irgendwann meinen Job verliere und auf dem Schrottplatz ackern muss.
Trotzdem gehört zu meiner Freiheit nicht nur, dass ich mich bewusst selbst kontrollieren kann, sondern auch, dass ich manchmal tue, was ich mir gerade wünsche und mich so im Einklang mit mir fühlen kann, und zwar egal, ob das meinem Ideal von mir entspricht, oder nicht, und auch egal, ob das jetzt eigentlich gut für meine persönliche Entwicklung und meine Lebensziele und die Person ist, die ich in 20 Jahren sein werde. Denn eins steht fest: Wenn ich dauernd mit meiner eigenen Selbstverwirklichung beschäftigt bin, werde ich in 20 Jahren eine Art innere Zwangsjacke tragen und mich gar nicht mehr erinnern, wie es war, sich frei zu fühlen. Da tröstet es dann wenig, wenn ich durch ständiges Feilen und Polieren an meiner Identität ein facettenreiches Juwel in der Galerie menschlicher Persönlichkeiten geworden sein sollte. Ich glaube, ich mach erstmal Pause, das war jetzt alles so anstrengend.
Über den Genuss daran, von Musik überwältigt zu werden
Ich habe vor einigen Tagen das Konzert D-Dur Nr. 77 von Johannes Brahms in der Interpretation von Yehudi Menuhin gehört. Ich hatte schon lange keine klassische Musik mehr gehört, weil mir das immer zu anstrengend war mit den vielen Instrumenten im Orchester und der unglaublichen Fülle und Wucht dieser sinfonischen Werke. Außerdem gibts da keine klare Struktur von Strophe, Refrain und Bridge wie in der Pop-Musik und ich blicke nie durch, wie das Thema entwickelt wird und erkenne keine Strukturen und bin ehrlich gesagt auch zu faul dazu, mir die nötige Kultur anzueignen, um zu verstehen, was Beethoven, Brahms und Bruckner da eigentlich genau machen in ihren Kompositionen.
Aber nun hatte mir mein Vater diese Menuhin-CD geschenkt und in einer ruhigen Minute habe ich mich der Musik überlassen. Und war überwältigt. Und das hat sich gut angefühlt.
Jetzt bin ich ziemlich verdutzt, weil ich keine Ahnung habe, wieso ich das manchmal genieße, wenn mich etwas überwältigt. Konkret sah das bei Brahms so aus, dass ich auf meinem Sofa saß und geweint habe, weil ich gleichzeitig Trauer, Sehnsucht, Freude und Erleichterung empfunden habe. Das ist auch verrückt, weil das Emotionen sind, die normalerweise nacheinander auftreten. Und sich scheinbar auch gegenseitig widersprechen. Die Erleichterung ist am einfachsten zu erklären: Es war unglaublich entlastend, mich nicht mehr selbst kontrollieren zu müssen. Die ganzen Emotionen, die Brahms, Menuhin und die anderen Musiker*innen in mir hervorgerufen haben, haben nämlich die Wächter in meinem Geist, die Rationalität, die Reflexivität und den bewussten Willen, einfach weggespült. Gleichzeitig haben mir die Rhythmen, Harmonien und die Strukturen der Musik einen orientierenden Rahmen gegeben, und dadurch hat mir der Kontrollverlust keine Angst gemacht (was mir Kontrollverlust normalerweise ziemlich sicher macht).
Das ist wohl eine Erfahrung, die Herbert Marcuse als eine spielerische Andeutung nicht-entfremdeten Lebens gesehen hätte. Daher kommt, denke ich, das Gefühl der Sehnsucht, der Freude und der Trauer: Die Musik gab mir eine Idee, wie das Leben in einer zukünftigen Gesellschaft sein könnte, in der sehr viele unterschiedliche Menschen mit Eigenheiten trotzdem harmonisch zusammen leben und gemeinsam etwas Schönes schaffen. Und die Trauer und die Sehnsucht kommen aus dem Bewusstsein, dass ich in dieser Gesellschaft noch nicht lebe, und dass das oft schmerzt.
Die Frage ist nur: Kommen wir zu einer solchen besseren Gesellschaft, wenn wir dauernd Lust dabei empfinden, uns überwältigen zu lassen? Das kommt nämlich ziemlich oft vor, öfter, als man denkt. Einige Beispiele aus meiner eigenen Erfahrung: wenn ich die Szene in „Last Samurai“ mit Tom Cruise anschaue, wo das Heer der Samurai, die sich den Traditionen des alten Japan verschrieben haben, von den Maschinengewehren der japanischen kaiserlichen Armee niedergeschossen wird. Wenn ich auf Demonstrationen in Sprechchöre einstimme, wo wir alle das gleiche brüllen, wie zum Beispiel „This is what democracy looks like“. Wenn ich beim Karate die Anweisungen meines Lehrers genauestens befolge. Wenn ich auf der Arbeit meine Rolle als Lehrer vollkommen korrekt ausfülle, wenn ich auf einem Konzert von den Hellacopters poge. Wenn ich total verliebt bin mit Haut und Haaren. Wenn ich am Meer den Sonnenuntergang sehe. Das sind alles Momente, in denen ich von etwas überwältigt bin, was irgendwie größer und mächtiger ist als ich, und obwohl ich meine Freiheit liebe, finde ich diese Überwältigung schön. Das ist doch irgendwie seltsam.
Bei anderen Leuten nimmt dieselbe Lust andere Formen an: Eine Freundin hat mir kürzlich erzählt, dass Christen einen Stand in Marburg gemacht haben, und in einer Anleitung zum Beten, die sie da verteilt haben, stand die Gebetsvorlage „Lieber Gott, verzeih mir, dass ich mein Leben selbst bestimmt habe.“ Ich stelle mir vor, dass es vielen Menschen irgendwie dieselben Gefühle der Freude, Erleichterung, Trauer und Sehnsucht macht, so zu beten, die es mir macht, Brahms zu hören. Der Unterschied ist nur, dass ich da kein Lebensprogramm draus mache und nicht von mir verlange, dass ich dauernd in Demut alles akzeptiere, was das Leben so mit sich bringt. Brahms würde das sicher auch nicht von mir fordern, ich denke, für Brahms wäre es ok, wenn ich stinksauer bin, weil zu wenig Geld in die Schulen fließt und ich in schadhafter Infrastruktur zu große Oberstufenkurse unterrichten muss, während Hedgefondmanager ihre gigantischen Profite nicht versteuern müssen.
Aber eins ist auch klar: Diese Idee, die Welt, die Natur, die anderen Menschen und unsere Gefühle und unsere Körper seien mit der richtigen Technik und Strategie komplett kontrollierbar und verfügbar, die uns manchmal leitet, wenn wir an einem besseren Leben arbeiten, die ist auch einseitig und illusorisch. Das heißt, die Lust an meiner eigenen Überwältigung kann die Lust an einer Wahrheit sein, die ich manchmal vergesse: Dass ich es sehr oft nicht in der Hand habe, wie mein Leben verläuft. Ich kann meine Oberstufenkurse nicht auf 15 Leute verkleinern. Und ich kann die Hedgefondmanager nicht besteuern.
Deshalb werde ich jetzt bestimmt nicht um Verzeihung dafür bitten, dass ich die Freiheit, die mir dieses Leben gibt, so nutze, wie ich das für richtig halte. Ich werde bestimmt nicht Demut an die Stelle von Autonomie setzen, um dann am Ende in einer Art innerem Mittelalter zu landen und mich mit Freude für meine Sünden geißeln zu lassen. Nein, vielen Dank. Aber die Wahrheit, die in meinem Brahmserlebnis steckt, ist für meine Freiheit keine Gefahr, sondern eine Chance. Denn sie hilft mir, mich nicht zu verschätzen, was meine Macht und meine Selbstbestimmungsfähigkeit angeht. Danke, Johannes Brahms, Danke, Yehudi Menuhin. Wenn ich einen Hedgefondmanager kennen würde, würde ich ihm die CD mal schicken.