Der Kapitalismus als sich selbst vernetzendes Netz

Eine Frage an Dich: Ist es Dir wichtiger, das System von Wirtschaft und Gesellschaft zu verstehen, oder wichtiger, die Strategien von Menschen und Klassen und großen Gruppen (wie „dem Proletariat“ als Protagonist der Geschichte und „der Bourgeoisie“ als Antagonist) zu verstehen? Ich glaube, es ist wichtiger, zuerst das System zu verstehen und danach die Akteure, die in seinem Rahmen agieren. Denn wer die Spielregeln eines Spiels nicht versteht, versteht auch nicht richtig, was die Spieler* auf dem Feld eigentlich genau machen und warum sie es tun. Zum Verständnis der Spielregeln des kapitalistischen Systems soll dieser Text einen Beitrag leisten.

Im Marxismus gibt es die klassische Formulierung, das Kapital sei ein „sich selbst verwertender Wert“. Ich habe darüber nachgedacht und mir eine Ergänzung dieses theoretischen Konzepts ausgedacht: Für die Gesellschaftsanalyse könnte es nützlich sein, den Kapitalismus als ein sich selbst vernetzendes Netz zu verstehen.

Wenn ich mir die klassische Definition vom „sich selbst verwertenden Wert“ genauer anschaue, steckt dahinter das Bild, der Kapitalismus als System habe im Zentrum diese fast mathematisch beschreibbare Funktion: Aus einem Wert (z.B. einem Kapital in Form des Eigentums an Maschinen) wird mithilfe der Arbeitskraft einer gegen Lohn angestellten Arbeiter*in ein Mehrwert erzeugt, der Gewinn daraus wird zu dem ursprünglichen Kapital addiert und ergibt dadurch einen zweiten Wert, nämlich das im ganzen Prozess um eine bestimmte Größe gewachsene Kapital. Mathematisch gesagt wird also ein Input – Wert (Kapital 1, auch „g“ genannt) durch eine bestimmte Funktion (Produktion und Verkauf einer Ware) auf einen durch diese Funktion genua bestimmten Output – Wert abgebildet (Kapital 1+ Gewinn = Kapital 2, auch g’ genannt).

Ein sich selbst vernetzendes Netz macht jetzt in meiner Metapher mehr als das: Ein Wert, der als Information in ein Netz von Funktionen statt in eine einzelne Funktion eingespeist wird, bildet sich, wenn er einen Netz-Knoten durchläuft, von dem mehrere andere Netzverbindungen zu anderen Knoten abgehen, gleichzeitig auf mehrere andere Werte ab (die Outputs, die jeweils spezifisch über die jeweilige Verbindung an die anderen Knoten weiterlaufen). Ein Impuls durchläuft das Netz so auf multiplen Funktions-Wegen und erzeugt multiple weitere Informationsflüsse (von Werten). Im konkreten Fall ist der Lohn der Arbeiter*in zum Beispiel ein solcher Wert, aber auch der Kredit, der von der Firma für den Kauf der Maschine bei einer Bank aufgenommen wurde, und die Information, die über den Markt beim Kauf der mit der Maschine produzierten Ware an eine Konkurrenzfirma weitergegeben wurde, weil das Produkt statt deren Konkurrenzprodukt gekauft wurde, was sich auf deren Gewinn auswirkt.

Mit Selbst-Vernetzung des Kapitalismus meine ich, dass ein konkretes „Kapital“ (wie das Eigentum an bestimmten Maschinen) einen Knoten im Netz des Kapitalismus bildet, das sich durch immer mehr neue Knoten (zum Beispiel Unternehmen, Konzerne, Privatvermögen, Geldinstitute und ökonomische Privilegien von Gruppen und Personen) ausdehnt, dabei immer mehr Verbindungen zwischen weit entfernten Elementen des Netzes bildet und die nah beieinander liegenden Knoten dichter verflechtet, wodurch der Impuls, den ein Wert als Input in das Netz gibt, über immer mehr gleichzeitig ablaufende Funktionen auf immer mehr andere Werte im Netz abgebildet wird.

Wer sich ein bisschen in der Kognitionsbiologie auskennt, hört sicher schon die Nachtigall trapsen: Meine Metapher ähnelt stark den kognitionsbiologischen Modellen von neuronalen Netzen. Lernen heißt dann in dieser Metapher für den Kapitalismus, dass dessen Netz auf Umwelteinflüsse (zum Beispiel Entscheidungen von Menschen, neue Gesetze in Staaten oder Überschwemmungen) reagiert, indem bestimmte Verbindungen zwischen bestimmten Knoten des Netzes verstärkt werden (der Input – Wert also schneller und leichter zu einem Output-Wert über die gestärkte Verbindung führt) und andere Verbindungen geschwächt oder abgebaut werden (diese Verbindungen also einen Input – Wert kaum oder gar nicht mehr weitergeben). Das können Pleiten oder das Schrumpfen von Firmen und Banken oder ein zahlungsunfähiger Staat sein.

Dass der Kapitalismus als Kommunikationsstruktur durch die Selbst-Vernetzung schneller lernt und Informationen global und regional schneller weitergegeben werden, wäre eigentlich ein hoffnungsvoller Befund – es ist nur so, dass dieses Lernen scheinbar primär dem Überleben und Wachsen des Kapitalismus selbst dient und nicht dem Überleben und dem guten Leben aller Menschen weltweit. Das Lernen und Selbst-Vernetzen des Kapitalismus verbessert unsere Gesellschaft deshalb nur, insoweit es für dessen eigenes Lernen und Wachsen notwendig und nützlich ist. Wenn andere Kommunikationsstrukturen, zum Beispiel die Machtprozesse in Demokratien, mit seinen Zielen in Konflikt kommen, lernt er als Netz von Funktionen durch seine Selbst-Vernetzung dann leider aber auch immer schneller, den Einfluss von Demokratie auf das menschliche Zusammenleben und die Natur zurückzudrängen. Das Ergebnis sind dann zum Beispiel Steuersenkungen für die Kapitaleigner und parallel dazu Schuldenbremsen, die die öffentliche Infrastruktur zum Beispiel in den Bereichen Wohnen, Verkehr, Bildung, Gesundheit, Verwaltung und Medien langsam erodieren, während gleichzeitig Menschen, nicht-menschliche Lebewesen und die Ökosysteme schutzlos dem Kapital zur Ausbeutung überlassen werden, indem zum Beispiel die Klimaziele ausgesetzt werden und das Tariftreuegesetz nicht zustandekommt.

Falls sich die vernünftigen Personen in der FDP jetzt einseitig marxistisch angegriffen fühlen: Ich möchte mit diesen Argumenten nicht für einen Angriff auf den Kapitalismus werben, sondern dafür, das Kommunikationsnetz des Kapitalismus davor zu schützen, dass es seine eigenen Existenzbedingungen zerstört. Denn es hat materielle und kommunikative Existenzbedingungen, die es nicht selber schaffen kann. Wenn Straßen und Datenkabel um eine Firma herum durch Überschwemmungen zerstört sind, kann das tollste Produkt ihr keinen Gewinn mehr bringen, weil sie es an niemanden verkaufen kann, nicht mal die Information darüber, dass es existiert, erreicht irgendjemanden. Wenn das Gesundheitssystem kaputt ist, wird es nicht genug Arbeitskraft geben, um die Maschinen und Rechner zu warten und zu bedienen, die zur Gewinnerwirtschaftung nötig sind, und die Funktionen werden gestoppt. Wenn das Bildungssystem kaputt ist, wird niemand mehr die Kommunikationen im Netz des Kapitalismus verstehen und es werden massenweise Fehlerimpulse eingespeist. Wenn die Demokratie nicht mehr funktioniert, oder auch nur viele Menschen glauben, dass sie nicht mehr funktioniert, wird es Aufstände geben, und Aufstände sind schlecht fürs Geschäft, außer natürlich für die Geschäftsmodelle Diebstahl und Raub. Das sind zwar auch Impulse, die ins Netz gegeben werden, aber sie führen zu einer Art informationellem Nullsummenspiel, bei dem ein Plus durch ein Minus eliminiert wird und am Ende gar keine Informationsverarbeitung mehr stattfindet. Das System hört dann auf, zu lernen. Und so kapitalismuskritisch ich auch denke: Wir haben im Moment keine alternative Kommunikationsstruktur, die das lernende Netz des Kapitalismus in seinen Funktionen für die Menschen weltweit adäquat ersetzen kann. Karl Marx möge mir verzeihen.

Angriff auf die Freiheit

Warum Geschlechtervielfalt für die Rechtsextremen so ein zentrales Problem ist

Die postfaschistische Regierung von Giorgia Meloni greift Aufklärung über Genderfragen in Schulen an. (Taz vom 12.-18.10.2014, Nr. 101; S.5) Die rechtsextreme AfD, rechtspopulistische und faschistische Organisationen sind sich einig, dass das bloße Wissen über Geschlechtervielfalt uns schon dem Weltuntergang näher bringt. Warum eigentlich? Es ist doch nur eine relativ kleine Minderheit von Menschen, die trans*, inter* oder nicht-binär sind oder eine andere nicht ins Mann-Frau Schema passende Geschlechtsidentität haben. Das einzige echte Ziel, was die Autoritären haben, die Macht, ließe sich in einer Mehrheitsdemokratie doch auch locker gegen diese kleine Gruppe und ihre Unterstützer*innen aus den liberalen, linken und progressiven Lagern erreichen.

Ich habe bisher gedacht, dass Genderwissen deshalb bekämpft wird, weil es den Rechtsextremen die Tür zu weiten Teilen der bürgerlichen Mitte öffnet: Auch viele Konservative haben starke Aversionen gegen Formen geschlechtergerechten Sprechens und reagieren empfindlich auf die Brüche tradierter Konventionen in der Geschlechterordnung. Ich habe bisher gedacht, dass die Rechtsextremen dies bloß strategisch ausnützen, um die konservative Mitte in ihre Bündnisse einzubinden.

Inzwischen denke ich, dass das zwar stimmt, aber nur die halbe Wahrheit ist: Die andere Hälfte ist, dass Geschlechterkonventionen nicht nur irgendwelche Konventionen unter anderen sind (zum Beispiel der Konventionen, höflich und respektvoll miteinander zu sprechen), sondern die wichtigsten Konventionen für zwischenmenschliche Beziehungen. Wie wir mit anderen in Beziehung gehen, welche Art Beziehung mit wem überhaupt möglich ist, wie diese Beziehung definierbar ist, all das wird von der Geschlechterordnung gerahmt.

Trans*- und nicht-binäre Menschen machen wahrnehmbar, dass wir viel mehr Möglichkeiten haben, diese Beziehungen zu gestalten, als die starre Ordnung uns zu denken erlaubte. Dies müssen die Autoritären bekämpfen, weil es ihre Denkstruktur zentral in Frage stellt, nämlich die Denkstruktur, dass Freiheit eine Gefahr ist und dass Macht, Zwang, Disziplin und Autorität nötig sind, um diese Gefahr zu bannen.

Nun haben die Autoritären in einem Punkt tatsächlich recht: Freiheit ist prinzipiell gefährlich. Mit den Worten von Niklas Luhmann: Mit mehr Freiheit steigert sich auch die doppelte Kontingenz von Begegnungen. Ich weiß nicht, was Du tun wirst und Du weißt nicht, was ich tun werde. Ich weiß auch, dass Du das alles weißt und vice versa, was den Verlauf und das Ergebnis der Interaktion hochkomplex und unberechenbar macht. Jede kennt das aus ihrem Alltag, du denkst, du kannst voraussehen, was die Mitbewohnerin mit dem Gartengrundstück macht, und dann kommst du aus dem Urlaub wieder und der von dir gepflanzte Estragon ist durch Salat ersetzt. Du wirst wütend, womit wieder deine Mitbewohnerin nicht gerechnet hat. Es stellt sich raus, dass gar nicht geklärt war, wer wie entscheidet, was in dem Beet gepflanzt wird. Doppelte Kontingenz nervt.

Klassischerweise lösen wir solche Probleme mit Kommunikation – und oft klappt das auch ganz gut. Wenn aber eine gemeinsame Sprachkonvention fehlt, klappt auch das nicht fehlerfrei, weil wir immer übersetzen müssen, und beim Übersetzen, dass weiß jede noch aus dem Englischunterricht, passieren noch leichter Fehler, als beim Reden in einer gemeinsamen Sprache sowieso schon. Deshalb werden gendergerechte Sprechweisen als so bedrohlich wahrgenommen, weil sie scheinbar der Kommunikation den Boden für die Bewältigung doppelter Kontingenz entziehen.

Übersetzungsfehler lassen sich aber erkennen und klären, das braucht nur Zeit. Ich denke, wir sollten unsere Kommunikation zuallererst entschleunigen und akzeptieren, dass es Zeit braucht, sich zu verstehen. Das ist sowieso immer so, und wenn wir freier werden und sich deshalb viele unterschiedliche Lebensweisen entwickeln, noch viel mehr. Wenn Konservative und Progressive sich ohne Zeitdruck in gegenseitiger Toleranz und Akzeptanz über Geschlechterfragen austauschen, können wir sicher die meisten Missverständnisse aufklären und zu einem gegenseitigen Verständnis finden, das uns zumindest erlaubt, sicher und ohne Angst in einer Gesellschaft zusammenzuleben.

Postpatriarchale Theoriebildung

Unsere Beziehungen sind durch die männliche Herrschaft massiv geschädigt, auch in meiner Generation, obwohl ich zu den Kindern der 2. Frauenbewegung gehöre, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts das Patriarchat glücklich sturmreif geschossen hatte. Das war die halbe Miete, und ich bin sehr dankbar dafür, aber stürmen müssen wir bis heute.

Ich glaube, dass wir in den feministischen Gemeinwesen von unseren Partner*innen insgeheim oft erwarten, dass sie die Verletzungen heilen, die uns in unseren patriarchal deformierten vorherigen Beziehungen, inklusive denen zu unseren Eltern, zugefügt wurden.

Das ist, glaube ich, eine in weiten Teilen unerfüllbare Erwartung, weil das Genesen vom Patriarchat nur ein gesamtgesellschaftlicher Heilungsprozess sein kann. In privaten Beziehungen ist das nur sehr begrenzt möglich, weil sie einen engen Rahmen haben, innerhalb dessen bloß relativ kleine Freiräume für gegenseitige Fürsorge und Akzeptanz möglich sind.

Die sturmreife, aber noch nicht gestürmte männliche Herrschaft erzeugt Chaos, nebeneinander stehende, miteinander konkurrierende soziale Ordnungen, die dann in unseren Beziehungen als Widersprüche im Fühlen, Denken und Handeln schmerzhaft wirken. Ich widerspreche mir selbst, und Du widersprichst Dir selbst, das ist eine komplexe und unberechenbare Situation, wir scheitern deshalb oft darin. Wir sind außerdem damit großteils alleingelassen, denn weder die Staaten, noch andere Institutionen unterstützen uns wirklich solide in dieser Aufgabe. Wir müssen uns selber helfen, aber das geht vermutlich nur in großen Gruppen und sozialen Bewegungen, weil nur die sich genug ermächtigen können, aber dabei zugleich eigene Dynamiken haben und die Komplexität oft nochmal steigern, was auch nicht gerade hilft.

Warum Rechtspopulismus zum Desaster führt – eine evolutionssoziologische Hypothese

Ich lese gerade nach einem Impuls einer befreundeten Meeresbiologin das Lehrbuch „Essentials of Ecology“ von Townsend et al. Das ist für einen Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler wie mich außerordentlich lehrreich, weil es meine Konzepte von Wissenschaft in Bewegung bringt. Da bin ich natürlich gar nicht besonders originell, sondern in ehrwürdiger Tradition: Niklas Luhmann hat zum Beispiel wesentliche Elemente seiner soziologischen Theorien den Naturwissenschaften entlehnt, sein Konzept der Autopoeisis (Selbsthervorbringung) von Systemen stammt aus der Kognitionsbiologie von Maturana und Varela. Ein weiteres naturwissenschaftlich inspiriertes Element seiner Soziologie ist die Hypothese, dass Gesellschaften sich durch Evolution und nicht durch Revolution entwickeln.

Ich will aus diesen Annahmen eine Erklärung herleiten, warum Rechtspopulismus eine zwar verstehbare, aber zugleich falsche und destruktive Reaktion auf die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte ist.

Zuerst will ich erklären, wieso Luhmann seine Hypothese der Evolution von Gesellschaften entwickelt hat. Nach Luhmann ist einer der wichtigsten evolutionären Schritte der Entwicklung von Gesellschaften der letzten 300 Jahre die Entwicklung von stratifikatorischen (absolutistischen) Gesellschaften zu funktional differenzierten Gesellschaften. Am Beispiel des Verhältnisses von Wirtschaft und Politik erklärt bedeutete dieser Evolutionsschritt: Vorher war die Wirtschaft und die Politik eines Landes auf das Zentrum des Königshauses hin organisiert. Im absoluten Herrscherhaus liefen sowohl die Fäden der Macht, als auch des Geldes zusammen und von diesem Zentrum aus wurden die ökonomischen und politischen Entscheidungen für die Gesellschaft organisiert. Im Absolutismus war also der König die Sonne und deren Strahlen organisierten die umliegende Gesellschaft politisch und wirtschaftlich (um mal ein bekanntes herrschaftsverbrämendes Bild zu zitieren).

Im Gegensatz zu anderen Gesellschaftswissenschaftlern sieht Luhmann es nicht so, dass 1789 durch die Revolution in Frankreich diese Gesellschaftsform willentlich und bewusst vom französischen Volk abgeschafft wurde, um eine neue, die bürgerliche Demokratie, an ihre Stelle zu setzen, sondern die Gesellschaft hat sich eigenlogisch so entwickelt, dass aus einem Zentralsystem einzelne, voneinander abgegrenzte Teilsysteme entstanden sind, die jeweils einzelne Funktionen für die Gesamtgesellschaft erfüllen. Das nennt Luhmann „funktionale Differenzierung“. Die Politik als Teilsystem der Gesellschaft habe nach diesem Entwicklungsschritt die Funktion übernommen, für die Gesellschaft kollektiv bindende Entscheidungen zu generieren. Die Wirtschaft als Teilsystem habe die Funktion übernommen, die Gesellschaft mit knappen Gütern zu versorgen, zum Beispiel mit Nahrungsmitteln (im Gegensatz zu relativ frei verfügbaren Gütern wie Luft, wofür die Gesellschaft erstmal kein System braucht). Die neue Gesellschaft hatte dann anstelle eines einzigen Systems parallel die demokratischen Institutionen und davon unabhängig den Markt und die Ökonomie.

Diese Funktionssysteme schließen sich nach Luhmann gegeneinander ab, indem sie ein jeweils eigenes Kommunikationsmedium für ihre Kommunikationen verwenden und einen jeweils eigenen Code. Das politische System kommuniziere im generalisierten Kommunikationsmedium Macht und im binären Code „Regierung-Opposition“. Alles, was keinen Einfluss auf die Machtverhältnisse habe (also dafür, wer regiert und wer opponiert), sei für das politische System nicht beobachtbar und kommunizierbar. Das Wirtschaftssystem dagegen kommuniziere im Medium Geld und mit dem Code „Zahlung-Nichtzahlung“. Es könne daher nur beobachten und kommunizieren, was in diesem Code beschreibbar sei. Um das an einem fiktiven Beispiel zu erklären: Wenn die Regierung der BRD beschlösse, dass ab jetzt im Straßenverkehr bei roten Ampeln gefahren würde und bei grünen Ampeln stehenzubleiben sei, dann wäre das für die Wirtschaft egal, weil es keinen im Medium Geld kommunizierbaren Unterschied machen würde. Die Ampeln könnten alle bleiben wie sie sind, der Staat müsste keine neuen installieren, es würde nichts kosten und auch keinen Gewinn bringen, deshalb würde das Wirtschaftssystem darauf gar nicht reagieren.

Die Bürger*innen würden allerdings furchtbar wütend werden, weil sie sich mühsam umgewöhnen müssten, und würden die Regierung wahrscheinlich abwählen, weil die Aktion nur Mühe und Gefahren und keinen Sinn machen würde. Also wäre das im Medium Macht relevante Information.

So funktioniert nach Luhmann funktionale Differenzierung. Ein weiteres gesellschaftliches Teilsystem neben Wirtschaft und Politik ist zum Beispiel Wissenschaft. Auch sie hat einen eigenen Code (wahr/falsch).

Jetzt habe ich mir die Frage gestellt, warum sich diese Gesellschaft von mehreren Funktionssystemen evolutionär gegen die stratifikatorische Gesellschaft mit einem Zentrum durchgesetzt hat. Wenn ich den Gedanken der Evolution ernst nehme, dann müssen die funktional differenzierten Gesellschaften ja Selektionsvorteile gegenüber zentralisierten Gesellschaften haben, sonst würden sie sich in der Evolution nicht durchsetzen.

Vielleicht hilft bei der Beantwortung dieser Frage wieder die Evolutionsbiologie. In dem Essentials Buch wird der Begriff „community“ für das verwendet, was ich früher noch als „Ökosystem“ gelernt habe: Als „community“ bezeichnen Evolutionsbiolog*innen eine Art Lebensgemeinschaft von Organismen verschiedener Spezies, die in einem bestimmten Raum zusammenleben und miteinander in Interaktion (Konkurrenz, Ergänzung oder gegenseitige Unterstützung) stehen. In diesem Sinne sind zum Beispiel alle Organismen, die in den Alpen leben, eine community. (Ich werde im Folgenden „community“ mit „Gemeinwesen“ übersetzen).

Jetzt kann ich mir die Frage stellen, welchen Evolutionsvorteil Gemeinwesen mit funktionaler Differenzierung gegenüber Gemeinwesen haben, die auf ein einziges Zentrum ausgerichtet sind, also in der Metapher eine zentrale Spezies, sagen wir: Die alpine Fichte. Offensichtlich ist ein Gemeinwesen, das auf eine einzige Spezies ausgerichtet ist, genauso stabil, wie es diese Spezies ist. Wenn sich Umweltbedingungen so ändern, dass diese Spezies nicht mehr gut überleben kann, ist das ganze Gemeinwesen in Gefahr, unterzugehen, sagen wir: Durch die Klimaerwärmung. Gibt es aber andere Spezies, ist das Gemeinwesen also differenziert und diversifiziert, im Bild: Gibt es Douglasien, Kiefern und Lärchen zusätzlich zur Fichte, können die anderen Spezies Ausfälle der Systemleistungen, die die Fichte erbracht hatte, kompensieren. Die Lärche würde sich nach meinem biologischen Laienwissen wahrscheinlich nicht durchsetzen, aber Douglasien und Kiefern könnten sich auf Standorte geschädigter Fichte-Populationen ausbreiten. Das Gemeinwesen ist dann stabiler gegenüber Stress durch sich verändernde Umweltbedingungen und kann sich besser an sie anpassen, als ein Gemeinwesen, in dem es nur die Fichte gibt. Dadurch setzen sich in der Evolution tendenziell funktional differenzierte, diversifizierte Gemeinwesen gegenüber solchen durch, die arm an Spezies und zentralisiert sind. Der entsprechende Lehrsatz der biologischen Ökologie ist: Je diversifizierter ein System ist, je mehr unterschiedliche Spezies es also enthält, desto anpassungsfähiger und deshalb stabiler ist es als ganzes.

Nun komme ich zum Kern meiner Hypothese: Um die Frage zu beantworten, ob die AfD und andere rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien in Europa und den USA die richtigen Antworten auf die Krisen der Gegenwart vorschlagen, können wir diese evolutionssoziologische Analyse verwenden.

Die wichtigste Veränderung der Umweltbedingungen für die Gemeinwesen ist aus meiner Sicht seit Jahrzehnten die Globalisierung. Was passiert ist, lässt sich mit Luhmanns Konzepten so beschreiben, dass sich die wirtschaftlichen Funktionssysteme einzelner Staaten zunehmend international miteinander verzahnt haben, also aus nationalen Subsystemen ein großes internationales Wirtschaftssystem geworden ist. In einer Art Koevolution ziehen die politischen Subsysteme nach, was sichtbar wird in der Suprastaatlichkeit der EU und in den G8 und G20 Gipfeln. Es zeigt sich hier meiner Hypothese nach, dass die Funktionssysteme wie Spezies in einer community sich nicht nur funktional ergänzen, sondern zugleich auch in Konkurrenzverhältnissen zueinander stehen und einander verdrängen können. Die internationale Verzahnung der Wirtschaftssysteme stellt einen Selektionsvorteil der Wirtschaftssysteme gegenüber den weniger international verzahnten politischen Systemen dar. Die Wirtschaftssysteme transformierten sich metaphorisch gesprochen von Subsystemen der nationalen Gemeinwesen zu Umweltbedingungen für diese nationalen Gemeinwesen. Das ist ziemlich ähnlich dem, was die Spezies Mensch spätestens in den letzten 500 Jahren im Bezug auf die ökologischen Spezies-Communities gemacht hat: Unsere Spezies und unsere Gesellschaft haben sich selbst von einem Teil der ökologischen Gemeinschaften zu einem Umweltfaktor für alle ökologischen Gemeinschaften global gemacht, Die Gesellschaft der Menschen gestaltet zu einem maßgeblichen Teil heute die Umwelt für die anderen Spezies und die communities, in denen sie leben. Ein Schlüssel für diesen evolutionären Erfolg der Spezies Mensch ist genau die Globalisierung und die Verzahnung der Wirtschaftssysteme miteinander. (Karl Marx schreibt schon 1848 im kommunistischen Manifest sinngemäß: „Der Kapitalismus hat die Weltwirtschaft faktisch verwirklicht.“).

Ich denke, dass wir an einer Art Kipppunkt der sozialen Evolution der Weltgesellschaft sind. Es könnte sein, dass sich die Weltwirtschaft als Zentrum einer auf einer neuen Ebene wieder stratifikatorisch organisierten Weltgesellschaft durchsetzt und die anderen Funktionssysteme auf sich ausrichtet. Es würde sich also als nächster Evolutionsschritt eine neue stratifikatorische, zentralisierte Ordnung entwickeln zwischen den nach wie vor differenzierten Funktionssystemen. Ganz im Sinne von Luhmanns deskriptivem soziologischen Ansatz kann ich das erstmal nüchtern als mögliche nächste Phase in einer historischen Entwicklung beschreiben. Möglicherweise ist die Tendenz dazu eine Folge der Krisen von Konkurrenz und Kriegen zwischen den Nationen und dem Scheitern von Imperien, die in einem anderen globalen Gesellschaftssystem evolutionär münden. Das würde dann aber gleichzeitig bedeuten, dass die Organisationen gemeinsamer Selbstbestimmung (also die Demokratien, die politische Systeme brauchen) durch das Wirtschaftssystem entmachtet oder sogar verdrängt werden könnten.

David Salomon hat mir erzählt, dass August Bebel gesagt hat: „Der Antisemitismus ist der Antikapitalismus der dummen Kerls.“ (Ich glaube nicht, dass er so etwas vergleichsweise Väterliches auch noch gesagt hätte, wenn er Zeuge der Shoa geworden wäre.)

Parallel dazu können wir heute sagen: „Der Rechtspopulismus ist die Globalisierungskritik der dummen Kerls.“ Die Rechtspopulisten verhalten sich so, als glaubten sie, dass wir eine neue stratifikatorische Weltordnung, in der die Weltwirtschaft das Zentrum der Funktionssysteme bildet, mit wiederhergestellter nationaler Souveränität der politischen Systeme kombinieren könnten. Bezogen auf die AfD erschließt sich daraus, warum deren Parteiprogramm fordert, Sozialleistungen zu kürzen und die Oberschicht steuerlich zu entlasten, zugleich die Grenzen zu schließen und aus der EU auszutreten. Die Utopie des AfD Programms ist eine souveränere Nation Deutschland, die Reichtum durch Kapitalismus generiert, ohne auf Menschen und Nationen außerhalb der Staatsgrenzen Rücksicht zu nehmen. Um in der globalen Konkurrenz unter der Hegemonie des Wirtschaftssystems erfolgreich sein zu können, müssen deshalb logischerweise die Arbeitskosten im Land minimiert werden (also niedrige Löhne und Sozialabgaben), das Kapital konzentriert werden (also niedrige Steuern) und zugleich die internationalen Verpflichtungen des politischen Systems reduziert werden (also Rückzug aus der EU und internationalen Abkommen).

In sich widersprüchlich ist diese Utopie deshalb, weil nationale Souveränität zwar pro forma gefordert, aber schon von vornherein ausgeschlossen ist: Souverän im eigentlichen Sinne des Wortes wäre in dieser Utopie keine Nation mehr, weil das Weltwirtschaftssystem die Umweltbedingungen setzen würde und es deshalb kaum noch Selbstbestimmung und Entscheidungsgewalt einzelner demokratischer Gemeinwesen mehr gäbe. Die Logik der ökonomischen Konkurrenz würde in einer solchen Zukunft die kollektiv bindenden Entscheidungen in jedem Nationalstaat bestimmen.

Das ist soweit klassische Globalisierungskritik, wie sie seit Jahrzehnten von attac und anderen Organisationen geübt wird. Sie argumentiert normativ, indem sie sich auf die Werte der französischen Revolution beruft: Freiheit, Gleichheit und Solidarität seien nur möglich, wenn demokratische Selbstbestimmung gegen die Logik der Ökonomie bestehen könne.

Was aber ergibt sich, wenn ich diese normative Setzung einklammere, und mit Hans Kelsen werterelativistisch davon ausgehe, dass der Wert der wirtschaftlichen Sicherheit genausogut als zentraler Wert an die Stelle von Freiheit gesetzt werden kann? (Vgl. Hans Kelsen: „Was ist Gerechtigkeit?“ Stuttart: Reclam.)

Evolutionssoziologisch problematisch ist vor allem eine wahrscheinliche Folge der oben skizzierten rechtspopulistischen Utopie: Die relative Instabilität des neuen globalen Gesellschaftssystems durch dessen stratifikatorische Ausrichtung auf die Wirtschaft als zentrale „Spezies“ des „ökologischen Gemeinwesens“. Denn diese würde die Fähigkeit der Weltgesellschaft verringern, sich an veränderte Umweltbedingungen anzupassen, weil alternative Funktionssysteme (wie die Politik, aber z.B. auch die Wissenschaft) geschwächt und in Peripherie und Dependenz verdrängt würden. Damit würden die Potentiale dieser Systeme verringert, bei starken Veränderungen der Umweltbedingungen Anpassungsprobleme der Weltwirtschaft auszugleichen.

Dialektischerweise erzeugt zusätzlich aktuell die Weltwirtschaft aber gleichzeitig, befeuert durch die zentralisierte Position der Ökonomie, genau solche schnellen und radikalen Veränderungen der Umweltbedingungen: Die Klimaerwärmung, das Artensterben und die großflächige Umgestaltung von Habitaten auf dem Land und in den Meeren sind Beispiele dafür. Die Utopie der Rechtspopulisten läuft also darauf hinaus, das Gesellschaftssystem unflexibler und weniger anpassungsfähig zu machen und zeitgleich seine Umweltbedingungen radikal und schnell zu verändern. Das ist offensichtlich eine Garantie für Desaster.

Also komme ich auch dann, wenn ich die Werte der französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Solidarität“ als normative Kriterien aus der Beurteilung ausklammere und stattdessen wirtschaftliche Sicherheit als zentralen Wert annehme, mit den Mitteln einer evolutionssoziologischen Beschreibung der Situation zu dem Ergebnis, dass das Programm des Rechtspopulismus, sollte es hegemonial werden, die Krisen der Gegenwart desaströs verschlimmern würde, statt sie zu lösen.

Mein Streik gegen die Revolution

Warum exportiert die spanische Wirtschaft Wasser in Form von Obst und Gemüse, wenn Wasser dort immer knapper wird? Nach der klassischen ökonomischen Theorie der komparativen Kostenvorteile von David Ricardo dürfte das unter Freihandelsbedingungen gar nicht passieren. Produziert werden müsste in Spanien nach dieser Theorie das, was dort am kostengünstigsten herstellbar ist – und Knappheit bedeutet normalerweise Kostensteigerungen.

Gleichzeitig fallen in Deutschland überall Massen von Äpfeln und Birnen von Obstbäumen und verfaulen auf dem Boden – während in deutschen Supermärkten ebenso massenweise Äpfel und Birnen gekauft werden, die aus Neuseeland quer über den Globus transportiert wurden. Was läuft falsch in den ökonomischen Systemen, so dass sie sich solche Ressourcenverschwendung leisten?

Ich könnte jetzt sehr leicht auf den Kapitalismus und seinen Wahnsinn schimpfen, aber ich bin dessen müde, weil eh die meisten Menschen nicht mehr zuhören, wenn wir Linken das tun. Deshalb versuche ich eine andere Erklärung des Problems.

Ich verwende dafür eine Kernidee der Systemtheorie des konservativen Soziologen Niklas Luhmanns. Danach ist das Wirtschaftssystem ein Funktionssystem der Gesellschaft, das autopoeitisch und selbstreferentiell ist. Das bedeutet, dass es sich von seiner Umwelt abgrenzt und sich nach außen schließt, indem es zur Kommunikation einen Code verwendet, der allen Informationsfluss von außen unterbricht, der für die Funktionsweise des Systems egal ist. Dieser Code unterscheidet nur Zahlung und Nichtzahlung. Alles, was nicht in diesem Code im Medium Geld kommuniziert werden kann, ist für das Wirtschaftssystem irrelevant und hat erstmal keine Effekte auf seine Prozesse.

Im konkreten Beispiel bedeutet das, dass es für die Firmen in Spanien nicht beobachtbar ist, ob die Wasserressourcen übernutzt werden, solange Wasser nicht wesentlich teurer wird. In Deutschland passiert dasselbe: Die Verbraucher*innen in der deutschen Ökonomie können in ihrer Rolle als Konsument*innen die Sinnlosigkeit davon nicht wahrnehmen, dass die Äpfel von den deutschen Bäumen vergammeln, solange es teurer ist, Arbeitszeit zum Äpfelsammeln zu verwenden, als aus Neuseeland herangeschiffte Äpfel im Supermarkt zu kaufen.

Das Wirtschaftssystem ist also so selbstbezogen und nach außen geschlossen, dass es zu seiner Umwelt, den Ökosystemen der Welt, keine direkten Kommunikationsbeziehungen mehr haben kann. Nach Luhmann muss es sich aber an die Umwelt anpassen, um sich zu erhalten. Dazu verwendet es strukturelle Kopplungen. Das bedeutet, irgendwie muss es, wenn die Informationen über Wasserknappheit schon nicht in den Preisen rechtzeitig und deutlich genug ausgedrückt werden, so dass es seine Strukturen dementsprechend verändern kann, trotzdem die Umweltinformationen verarbeiten.

Ich glaube, dass wissenschaftliche Organisationen wie der IPCC gerade genau das versuchen: Sie versuchen, das Wirtschaftssystem strukturell mit den Ökosystemen zu koppeln, indem sie die Ökonomie sensibel für die Knappheiten macht, die gerade entstehen, ohne dass sich das schnell genug in Kostensteigerungen und Preisen zum Beispiel für Wasser bemerkbar macht. Zu langsam ist dies, weil die globale Ökonomie der Menschen einen historisch einmaligen Grad an Macht über die Ökosysteme aufgebaut hat, gleichzeitig aber eine solche Trägheit in ihren Grundstrukturen, zum Beispiel der fossilen Energieinfrastruktur, dass sie Zerstörungen der Ökosysteme nicht rechtzeitig aufhält, bevor sie zu irreversiblen Knappheiten von Wasser und anderen Gütern führen.

Wenn die Wissenschaft planetare Belastungsgrenzen berechnet (die zum Beispiel bei der Umnutzung von Land und der Biodiversität schon weit überschritten sind), dann versucht es, Informationen in das geschlossene Wirtschaftssystem einzuschleusen, damit es sich an die Umwelt anpassen kann, so dass Wasser als grundlegende Ressource auch weiter zur Verfügung steht und das System sich nicht selbst zerstört. Das nennt Luhmann dann strukturelle Kopplung.

Auch das politische System versucht, in das Wirtschaftssystem solche Kopplungen einzubauen, zum Beispiel durch den Handel mit Emissionszertifikaten. Der Ausstoß von CO2 ist nämlich erstmal für die Wirtschaft gar nicht beobachtbar gewesen, weil er nichts gekostet hat: Die Atomsphäre konnte jahrhundertelang als Senke für die Abgase der Wirtschaft fast kostenlos genutzt werden, sie war eine Allmende – ein Gemeingut. Jetzt versucht die Politik, die Wirtschaft ausreichend darüber zu informieren, dass diese Allmende schon lange übernutzt ist. Sie versucht durch die Zertifikate die Schäden, die die Übernutzung verursacht, in den Code Zahlung-Nichtzahlung zu übersetzen, so dass das Wirtschaftssystem sie auch beobachten und darauf reagieren kann.

Organisationen, die von innen aus dem ökonomischen System selbst heraus ähnliche Kopplungen aufbauen, sind die großen Rückversicherungskonzerne wie die Münchener Rück, die schon seit Jahren warnen, weil die mit der Klimakrise verbunden ökonomischen Risiken etwa durch Dürren, Überschwemmungen und Stürme zu unberechenbar werden, um sich dagegen noch solide und zu einem akzeptablen Preis versichern zu können.

Leider gibt es daneben andere strukturelle Kopplungen des Wirtschaftssystems, die diese Versuche der Krisenbewältigung torpedieren, indem sie in genau die entgegengesetzte Richtung zielen: Das Wirtschaftssystem ist nach Luhmanns Theorie nicht nur umgeben von der Umwelt der planetaren Ökosysteme, sondern wir Menschen sind für das ökonomische System auch Umwelt. Luhmann interpretiert uns Menschen als „psychische Systeme“, und als solche sind wir Umwelt für das Wirtschaftssystem.

Das Wirtschaftssystem arbeitet nun schon lange und sehr erfolgreich daran, uns als psychische Systeme strukturell mit ihm zu koppeln, zum Beispiel mithilfe von Werbung, Arbeit und Mythen. Ein aktueller Mythos ist der Mythos von der Elektromoblität. Der Mythos sagt: Wir können mit Hilfe von E-Autos weiter so unbegrenzt mobil sein wie bisher, ohne unsere Lebensgrundlagen zu zerstören. Wir können unsere Lebensgewohnheiten einfach beibehalten, ohne die Krise der Knappheit zu verschärfen. Ein Mythos ist das deshalb, weil diese Erzählung wichtige Aspekte der Wirklichkeit ausblendet: Klimaerhitzung durch Treibhausgase stößt nur an eine der vielen planetaren Belastungsgrenzen. Elektromoblität bedeutet weitere Umnutzung von Land durch Lithiumabbau, Energieverbrauch und Emissionen durch Produktion neuer Autos und E-Bikes und weitere Straßen und Versiegelung von Boden und Erzeugung von giftigem Müll. Das sind alles Gründe für das Artensterben, eine Krise, die genauso bedrohlich für unser Überleben als Zivilisation ist, wie die Erderhitzung.

Soviel zum Mythos der Elektromobilität, der auch Menschen frisch mit dem Wirtschaftssystem koppelt, die schon Zweifel bekommen hatten, ob das alles so gut läuft. Was aber ist gefährlich an der Art, wie wir Arbeit definieren, und wie koppelt sie uns mit dem ökonomischen System? In Deutschland ist Arbeit, eingeengt verstanden als Erwerbsarbeit, mit der im Gegensatz zur häuslichen Sorge-Arbeit Geld verdient wird, ein so integraler Bestandteil des Selbstbildes, der sozialen Wertschätzung und der Selbstdefinition von Personen, dass die meisten Menschen durch ihre Arbeit fest an das Wirtschaftssystem gekoppelt sind.

Als ich beim letzten Klimastreik auf der Raddemo über die Marburger Stadtautobahn fuhr, brüllte uns jemand aus einem vorbeirasenden Auto von der Gegenfahrbahn aus zu: „Geht arbeiten!“. Das war in meinem Fall einigermaßen absurd, weil ich an dem Freitag aus einer vollen Arbeitswoche kam und an meinem ersten freien Nachmittag versucht habe, das Wirtschaftssystem mit der natürlichen Umwelt strukturell zu koppeln. Vor mir fuhr ein weißhaariger Mann auf der Raddemo und sagte dazu: Ich habe Jahrzehnte gearbeitet, ich habe meinen Teil getan.

Die Szene ist leider ein guter Indikator dafür, dass bei dem brüllenden Autofahrer die Kopplung seines psychischen Systems mit dem Wirtschaftssystem so fest ist, dass er Forderungen nach Veränderungen des Wirtschaftssystems, in diesem Fall der Mobilität, als Forderungen nach Veränderung seiner eigenen Psyche erlebt: Eine Kritik an der Autoökonomie erscheint ihm deshalb als Angriff auf seine eigene Integrität als Person. Das Auto, das er fährt, ist so gesehen viel mehr als ein Gegenstand, den er als Instrument seiner Mobilität verwendet: Es ist eine weitere Kopplung (neben seiner Erwerbsarbeit), die sein Körper und seine Psyche mit dem Wirtschaftssystem eingegangen sind. Erwerbsarbeit und Autobesitz sind außerdem zwei Kopplungen, die ineinander verschränkt sind: Viele brauchen ihr Auto, um zur Arbeit zu kommen, und brauchen umgekehrt das Erwerbseinkommen, um sich ein Auto leisten zu können.

Wieso finde ich diese Struktur absurd? Das sind doch erstmal Notwendigkeiten der Lebensrealität. Ich finde sie absurd, weil wir Menschen alle auch Lebewesen und durch unsere Körper Teil der Ökosysteme dieser Welt sind. Wir sind zum Beispiel durch Atmung und Ernährung mit allen anderen Lebewesen auf dem Planeten strukturell gekoppelt. Die strukturellen Kopplungen mit dem Wirtschaftssystem, die sich durch Mythen, Erwerbsarbeit und Autobesitz bilden, scheinen bei vielen Menschen aber so stark zu sein, dass sie nicht mehr wahrnehmen, dass Atmen, Trinken und Essen für ihre psychische und körperliche Integrität und diejenige ihrer Kinder und Enkel wichtiger sind als ihr Auto und der Benzinpreis. Die CDU plakatiert hier in Marburg: „Autofahren verbieten verboten“ gegen die sehr gute rot-grün-grüne Verkehrsreform Move 35. Die Marburger CDU ist damit nicht mehr konservativ, sondern eine revolutionäre Partei, weil sie mit Macht daran arbeitet, die Verbindung der Menschen mit der Biosphäre, die uns hervorgebracht hat und am Leben erhält, durch Kopplungen der Menschen mit einem Wirtschaftssystem zu ersetzen, das alle planetaren Grenzen zu sprengen und alle Verhältnisse, in denen die Menschen noch atmende, fühlende und in ihre Welt eingebettete Wesen sind, umzustoßen droht.

Das bedeutet: Um die Dürre in Spanien und die Verschwendung von gutem Essen in Deutschland zu stoppen, müssen wir nicht nur das Wirtschaftssystem mit der natürlichen Umwelt durch Klimaberichte und Emissionszertifikate strukturell koppeln, sondern wir müssen auch unsere psychischen Systeme vom Wirtschaftssystem aktiv entkoppeln. Ich versuche das, indem ich in Teilzeit arbeite, so auf Einkommen verzichte und Zeit gewinne, um auf Raddemos für die Verkehrswende zu fahren und mit meinem M-Bike (ich fahre eines dieser altmodischen Räder ohne Elektromotor) in meinen Radtaschen Äpfel und Birnen hier im Marburger Umland zu sammeln und dann zu verschenken. Entkopplung ist machbar, Herr Nachbar!

Geistige Verwüstung

Ich war vor zwei Wochen im aktuellen James Bond – der ist tatsächlich so uninteressant, dass ich Deine Zeit nicht damit vergeuden will, darüber zu lesen – aber es lief eine fantastische Werbung vorher: Da sah ich einen Audi-Elektro-Flitzer über leere Straßen fahren. Fassungslos saß ich da und konnte den Blick nicht abwenden: Die Landschaft war eine wunderschöne Wüste mit Dünen und am Horizont sah ich eine Skyline in Glas und Stahl, auf die das Hightech-Gefährt zusteuerte.

So also, dachte ich mir, stellen sich die deutschen Autokonzerne die Welt der Zukunft vor. Was fehlte in dem Bild sind nur die Devices, die das CO2 unserer Atemluft in Sauerstoff umwandeln werden, damit wir, wenn wir aus dem Audi E-Auto aussteigen und versuchen, in einen der Glastürme zu gehen, um im 42. Stock mal eben in unseren mit Solarkollektoren angenehm erwärmten Pool mit Blick über die Stadt (und die weite Wüste) zu hüpfen, nicht ersticken, bevor wir den Irisscan unserer Hochsicherheitstür abwarten können, die so sicher sein muss, weil 90 % der Erdbevölkerung durch die multiple Krise von Klimakatastrophe, Wirtschaftszusammenbruch, Kriegen und Bürgerkriegen und die kulturelle und ethische Totalverwahrlosung der Oberschicht so arm, traumatisiert und verzweifelt geworden sein werden, dass nur ein technologisch hochgerüsteter Sicherheitsapparat die 10% Audi-E-Auto-Fahrer*innen davor schützen kann, die berechtigten Ansprüche der 90 anderen Prozent der Menschheit auf einen Teil vom lebenswerten Leben abzuwehren.

Vielleicht hat sich die Technik-Entwicklungsabteilung von Audi schon einen Apparat überlegt, der das Sauerstoffproblem löst, wenn die Bäume alle tot und die Ozeane tote Tümpel sein werden. Vielleicht gibt es auch schon ein Rundum-Sorglospaket von Audi, in dem auch die Klimatisierung der Glastürme bei 50 Grad Außentemparatur eines Wüstenplaneten, und Heizungen, die die harte Kälte nachts in Wüsten ausgleichen können, eingeplant sind.

Vielleicht richtet sich die Werbung auch nur an Leute, die nach Dubai auswandern wollen, wo die Welt schon annähernd so ist, wie es in der Werbung aussieht, oder die Werbespezis von Audi haben nur schnell eine Lösung dafür finden müssen, dass sie bisher immer grüne Landschaften und einsame Straßen gezeigt hatten, das aber die Konkurrenz genauso macht und man damit keine Aufmerksamkeit mehr erzeugen kann, und die leeren Straßen wollten sie nicht ändern, weil die zwar weit von der Realität entfernt sind, aber der Wunschtraum jedes Autofahrers, so dass man auf dieses Element nicht verzichten könnte, selbst wenn man wollte, und deshalb haben sie einfach in die Wiesen und Wälder eine Wüste eingepastet, schon war die neue Kampagne fertig und beruhigenderweise bleibt dann in der Zukunft ja das wichtigste auch beim Alten: Auto, Straße, Hochhausturm, der Rest ist ja eh irgendwie nur die Kulisse, in der die wichtigen Dinge irgendwie stehen müssen, also warum nicht eine Wüste, die ist auch nicht so naß und man hat weniger Probleme mit Rost am neuen E-Auto, denn seien wir doch mal ehrlich, Natur, das sind nur Marder, die die Kabel zum Lithium-Ionen-Akku durchbeißen und man kommt dann zu spät zur Arbeit und schafft es nicht rechtzeitig, die ganze Wüste in den Spot reinzupasten, wo vorher die Wälder und Felder waren, und dann kriegt man wieder einen Rüffel vom CEO und kann sich die lange geplante Passage auf dem Spaceship in den Orbit wieder abschminken, weil der Bonus ausfällt, also was solls.

Gut, dass die Filmindustrie Dune mit hohem technischen Aufwand unter Einsatz hoffentlich von Ökostrom noch einmal neu gedreht hat, das war bitter nötig, weil die Wüstenwürmer irgendwie nie so richtig echt ausgesehen haben, ich würde jetzt vielleicht mal reingehen, um zu sehen, ob es auf dem Wüstenplaneten am Ende wie in dem David Lynch Original dann auch regnet, weil der Auserwählte Atreides die Welt gerettet hat. Mich würde auch interessieren, ob Audi den Spot vor Dune zeigt, oder ob es Grenzen des Zynismus gibt, die selbst Audi nicht überschreitet.

Für die Firma, die die Defender-Geländewagen produziert, kann man das schon mal beantworten: Die Verfolgungsjagd mit den Defendern sieht man zurerst in der Werbung vor dem Film und dann im Bond ein zweites Mal. Die Defender fahren im Film die Bösen – es scheint irgendwie für den Werbeerfolg egal zu sein, was gut und was böse ist.

Geist raus – Film rein. Da solche Filme relativ wenig Platz in dem freigeräumten Gehirn brauchen, weil sie eh immer nach dem selben Schema gestrickt sind und nur leichte Variationen abgespeichert werden müssen, oder Remakes sind, wo wir uns nur die Optik neu merken müssen, weil wir den Plot schon drauf haben, ist dann auch reichlich Platz für die ganzen Produktinformationen in der halben Stunde Werbung vorher.

Zum Glück war der erste Film, den ich nach dem Lockdown im Kino gesehen habe, nicht Bond, sondern Nomadland, das war jede Minute wert und gibt mir den Glauben an die Kultur zurück. Nur, dass Bond ausverkauft war und Nomadland nicht und außerdem schnell wieder aus dem Programm, weckt leise Zweifel, wie es in Zukunft mit uns allen wohl weiter geht.

Hambi bleibt!

Am Samstag war ich einer von 50000 Leuten, die keine Lust auf Braunkohlebagger, aber Lust auf schönen Wald hatten.  Das Wetter war grandios, strahlender Sonnenschein und echt warm, das einzig Irritierende daran war, dass das Wetter nicht so richtig in den Oktober passte, es fühlte sich eher an wie Juli. Sollte es da einen Zusammenhang mit den CO2-Massen geben, die die vom Hambacher Forst aus am Horizont  sichtbaren Braunkohlekraftwerke in die Atmosphäre blasen? Nein, das ist natürlich die typische Panikmache von Ökofanatikern.

Es staubte dann und wann prächtig, wenn der Wind in die total ausgetrockneten Felder fuhr.  Es waren einige Bauern aus der Gegend mit ihren Traktoren zur Demo gekommen, die irgendetwas gegen die Klimaerwärmung zu haben scheinen, vielleicht, weil irgendein Problem für die Pflanzen bei Trockenheit entsteht. Was für Sensibelchen! Lasst die größte Landschaftsvernichtungsmaschine Westeuropas ruhig weiterlaufen, das mit der Dürre gibt sich schon.

Die Kundgebung war schön,  es kamen immer mehr Menschen und noch mehr Menschen über die Feldwege von mehreren Seiten auf den Platz. Wir haben an die inhaftierten Aktivist*innen gedacht, und alle haben sich über das Gerichtsurteil über den Rodungsstop gefreut.

(Die hier abgebildeten Aussagen geben nicht unbedingt die Meinung des Autors wieder. Ich wende mich zum Beispiel klar gegen den Einsatz von Laserschwertern zu politischen Zwecken, allein schon wegen des Energieverbrauchs. May the Forst be with you! )

Die Polizei hat nur da gestanden ohne Helme und Kontrollen, als sich irgendwann hunderte von Menschen auf den Weg in den Wald gemacht haben. Ein Polizist hat im Wald sogar „Hambi-bleibt“ mitgerufen.  Er hat dabei allerdings sehr belustigt ausgesehen, ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll. Der Hambi ist wunderschön, alte Buchen und Eichen stehen dort, mehrere hundert Jahre alt.  Die Menschen, die die Baumhausdörfer noch kannten, waren traurig und haben von den Räumungen erzählt.

RWE hat richtig gewütet und es waren große Plätze gerodet worden und Trassen in den Wald geschlagen, wahrscheinlich, um mit den Räumungsgeräten durchzukommen.

Bei der Stelle, wo Steffen abgestürzt und gestorben ist in Beechtown, war ich auch. Da waren alle sehr still und es standen viele Kerzen dort und ein Bild von Steffen erinnerte an ihn.

Und dann stand ich vor der Grube, das ist unfassbar: Ich musste nur die Augen aufmachen und wusste, was gut und was böse ist. Wann hast du das schon mal, dass das so eindeutig ist? Die Grube ist ein riesiger Krater, eine Wüstenlandschaft aus Sand und Steinen, in der sich gespenstisch die riesigen Bagger abzeichnen, super tief und bis zum Horizont lebt da nichts mehr, eine Wunde in der Erde.  Und dann schaust Du nach links  und siehst den Waldrand vom Hambi, da stehen die alten Bäume und Du denkst an Lorien und denkst nur:  Das gilt es zu verteidigen.

Und dann sind wir wieder gegangen und ich habe irgendwie viel mehr Kraft gehabt als vorher, die Kraft kam von den Liedern, die wir im Wald gesungen haben – „power to the people – the people have the power – getting stronger every hour“- und aus den vielen lächelnden Gesichtern der Menschen, die still im Wald waren, und aus dem Wald selbst und aus den Kinderstimmen, die „Hambi Hambi Hambi – bleibt-bleibt-bleibt“ gerufen haben.

Ich hoffe nur, die Bechsteinfledermäuse waren von den vielen Menschen nicht zu geschockt, die da durch ihren Wald gelatscht sind, denn diesen geflügelten Gefährt*innen haben wir zu einem Gutteil das Gerichtsurteil mit dem Rodungsstop zu verdanken.  Wie fühlt es sich wohl an, eine Fledermaus zu sein, unter deren Wohnung hunderte völlig entrückte Ökos wie ich  langspazieren?  Ich werde es nie wissen.  Hambi bleibt! Und die Rätsel auch.

 

 

 

Reziproke Resonanz: Zu einem postkapitalistischen Narrativ der Liebe

Ich lese gerade „Gefühle in Zeiten des Kapitalismus“ von Eva Illouz. Illouz analysiert darin, wie der Feminismus und der therapeutische Diskurs der Psychologie die Gefühle, insbesondere die in Liebesbeziehungen, verändert haben. Illouz zufolge wurden beide Strömungen unter anderem insofern einflussreich, dass sie durchsetzten, dass Liebesbeziehungen heute auch Orte von Verhandlungen sind, Verhandlungen zwischen gleichberechtigten Partner*innen über die Werte, die in der Beziehung gelten und beachtet werden sollen. Paradoxerweise hat der Feminismus als ein eigentlich kritischer Diskurs so Praxisformen und Diskursformen des Kapitalismus (die Idee, dass alle Werte auf Märkten durch Verhandlungen erzeugt werden, ist kapitalistischen Ursprungs) ) auf die Liebesbeziehungen und die Gefühle ausgedehnt.

Ich habe mit einer Freundin, die mir das Buch empfohlen hatte, über diese Thesen diskutiert und wir sind beide der Meinung, dass das 1. stimmt, aber 2. nicht aus lauter Antikapitalismus jetzt feministisch aufgeklärte Liebesbeziehungen abgelehnt werden dürfen, sondern wir brauchen 3. ein neues Narrativ, dass die Fortschritte, die in dem Verhandlungsmodell der Liebesbeziehung stecken, erhält, und so transformiert, dass die Beziehung zwar gleichberechtigt bleibt, aber keine absolute Marktbeziehung mit einer ausschließlich ökonomischen Struktur wird.

Ich habe jetzt die Idee, dass dieses neue Narrativ um die Idee von reziproker Resonanz als Fundament von Liebesbeziehungen gruppiert werden kann. Damit meine ich, dass die Liebesbeziehung zwar wie eine Marktbeziehung eine Art wechselseitiger, freiwillig eingegangener Vertrag ist, der in Verhandlungen entsteht. Gleichzeitig sollten diese Verhandlungen aber nicht illusorischerweise auf objektiv gedachte Werte, die sozusagen die Verhandlungsmasse und die Substanz des Vertragsergebnisses darstellen, gerichtet sein. Stattdessen kann eine Liebesbeziehung als eine Beziehung gesehen werden, in der die beteiligten Personen eine sich reziprok verstärkende Resonanz von Gedanken, Äußerungen, Gefühlen und Praxisformen erleben können. Resonanz verwende ich hier als Metapher, die ich so verstehe: Menschen sind leiblich-emotional-geistige Wesen, diese Ebenen erzeugen einen komplexen Resonanzraum, wie der Korpus eines Musikinstruments kann dieser Raum Schwingungen bestimmter Tonhöhe, die die andere Person aussendet, aufnehmen und verstärken, wobei sich auch der Charakter der Schwingungen vermittelt durch die individuelle Resonanz verändert. Liebe erscheint mir also als die Kunst, die komplexe Resonanzfähigkeit von zwei oder mehr Menschen so zu harmonisieren, dass die Schwingungen reziprok hin- und hergespielt werden und dabei etwas neues entsteht.

Die Resonanzmetapher verhindert, dass wir Liebe verdinglichen, wie es die rein kapitalistische Metapher der Marktbeziehung tut. Weder erzeugt Resonanz Liebe, die dann wie ein Gegenstand zwischen den Verhandlungspartnern steht und per Vertrag gerecht aufgeteilt wird, noch hat Liebe eine Dauer, die irgendwie von der Resonanzpraxis und den Resonanzerlebnissen unabhängig und trennbar wäre, noch lässt sich Liebe, die wir fundiert auf reziproke Resonanz denken, auf zwei Personen isolieren, weil sie immer ein wenig ausstrahlt. Gleichzeitig gibt uns die Metapher auch ein Bild dafür, dass die Reziprozität einer solchen Beziehung nie perfekt symmetrisch sein wird, wie es das Ideal einer Marktbeziehung suggeriert, weil ein Mensch auf leiblicher, emotionaler und geistiger Ebene immer ein einzigartiges Mitschwingen erzeugen wird, dass nie symmetrisch gespiegelt werden kann, weil die Resonanz die Schwingung auf je eigene Art verändern wird. Und gerade diese Unfähigkeit zu Symmetrie bedroht einerseits die Dauerhaftigkeit der Beziehung und ermöglicht andererseits überhaupt das Spiel der Resonanzen.

Du, ich und unser Leben jenseits des Tauschprinzips

Adornos wortmächtige Kritik am Äquivalenzprinzip geleitet in diesem Sinn mein Beziehungsleben immer: Dass es nicht sein  soll, soziale Beziehungen nach dem Schema eines Tausches zu entstellen, hat viele Gespräche und Interaktionen gerettet, in denen ich sonst der Kälte des kapitalistischen Konventionalismus erlegen wäre.

Jetzt ist mir etwas klar geworden: Nämlich,  dass die Idee, man müsse jedes Geschenk eines Mitmenschen mit etwas gleichwertigen vergelten, wie eben in einem Tauschgeschäft, schon deshalb nicht zu verwirklichen ist, weil das Leben so vielfältig ist und auf so vielen Ebenen und in einem so reichen Spektrum sich abspielt, dass ein kognitiv begrenztes Wesen wie ich es gar nicht leisten könnte, zu berechnen, wann ich etwa ein gutes Gespräch mit einem Freund mit etwas Gleichwertigem wie einem Buchgeschenk für ihn ersetzt hätte. Damit zwei Menschen wirklich eine äquivalente Beziehung nach dem Tauschprinzip organisieren könnten, müssten sie eine gigantische Kalkulationsaufgabe bewältigen: Wie um alles in der Welt sollte ich Wechselkurse zwischen der Zärtlichkeit und dem Geistigen, der Solidarität und der praktischen Lebenshilfe und all den anderen Aspekten der Beziehung berechnen?

Ein gutes Argument gegen ein Leben gemäß des Tauschprinzips ist also unsere kognitive Beschränktheit, deren Reflexion uns zeigt, dass das falsche Ideal des Äquivalenzprinzip von endlichen, unvollkommenen Wesen wie uns Menschen einfach nicht zu verwirklichen ist (ganz abgesehen davon, dass es auch böse wäre, das zu versuchen).

Das heißt nicht, dass wir nicht versuchen sollten, Gerechtigkeit in unseren Beziehungen anzustreben, gerade in distanzierteren Beziehungen mit Menschen, die ich nicht gut kenne, sind die Ebenen weniger und die Berechnung weniger komplex und Gerechtigkeit kann dort teilweise die Form von gerechtem Tausch annehmen. Je näher, intimer und langlebiger eine Freundschaft oder Liebesbeziehung aber wird, desto weniger können und sollen wir sie meiner Meinung nach an Tauschprinzipien orientieren.