Warum Rechtspopulismus zum Desaster führt – eine evolutionssoziologische Hypothese

Ich lese gerade nach einem Impuls einer befreundeten Meeresbiologin das Lehrbuch „Essentials of Ecology“ von Townsend et al. Das ist für einen Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler wie mich außerordentlich lehrreich, weil es meine Konzepte von Wissenschaft in Bewegung bringt. Da bin ich natürlich gar nicht besonders originell, sondern in ehrwürdiger Tradition: Niklas Luhmann hat zum Beispiel wesentliche Elemente seiner soziologischen Theorien den Naturwissenschaften entlehnt, sein Konzept der Autopoeisis (Selbsthervorbringung) von Systemen stammt aus der Kognitionsbiologie von Maturana und Varela. Ein weiteres naturwissenschaftlich inspiriertes Element seiner Soziologie ist die Hypothese, dass Gesellschaften sich durch Evolution und nicht durch Revolution entwickeln.

Ich will aus diesen Annahmen eine Erklärung herleiten, warum Rechtspopulismus eine zwar verstehbare, aber zugleich falsche und destruktive Reaktion auf die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte ist.

Zuerst will ich erklären, wieso Luhmann seine Hypothese der Evolution von Gesellschaften entwickelt hat. Nach Luhmann ist einer der wichtigsten evolutionären Schritte der Entwicklung von Gesellschaften der letzten 300 Jahre die Entwicklung von stratifikatorischen (absolutistischen) Gesellschaften zu funktional differenzierten Gesellschaften. Am Beispiel des Verhältnisses von Wirtschaft und Politik erklärt bedeutete dieser Evolutionsschritt: Vorher war die Wirtschaft und die Politik eines Landes auf das Zentrum des Königshauses hin organisiert. Im absoluten Herrscherhaus liefen sowohl die Fäden der Macht, als auch des Geldes zusammen und von diesem Zentrum aus wurden die ökonomischen und politischen Entscheidungen für die Gesellschaft organisiert. Im Absolutismus war also der König die Sonne und deren Strahlen organisierten die umliegende Gesellschaft politisch und wirtschaftlich (um mal ein bekanntes herrschaftsverbrämendes Bild zu zitieren).

Im Gegensatz zu anderen Gesellschaftswissenschaftlern sieht Luhmann es nicht so, dass 1789 durch die Revolution in Frankreich diese Gesellschaftsform willentlich und bewusst vom französischen Volk abgeschafft wurde, um eine neue, die bürgerliche Demokratie, an ihre Stelle zu setzen, sondern die Gesellschaft hat sich eigenlogisch so entwickelt, dass aus einem Zentralsystem einzelne, voneinander abgegrenzte Teilsysteme entstanden sind, die jeweils einzelne Funktionen für die Gesamtgesellschaft erfüllen. Das nennt Luhmann „funktionale Differenzierung“. Die Politik als Teilsystem der Gesellschaft habe nach diesem Entwicklungsschritt die Funktion übernommen, für die Gesellschaft kollektiv bindende Entscheidungen zu generieren. Die Wirtschaft als Teilsystem habe die Funktion übernommen, die Gesellschaft mit knappen Gütern zu versorgen, zum Beispiel mit Nahrungsmitteln (im Gegensatz zu relativ frei verfügbaren Gütern wie Luft, wofür die Gesellschaft erstmal kein System braucht). Die neue Gesellschaft hatte dann anstelle eines einzigen Systems parallel die demokratischen Institutionen und davon unabhängig den Markt und die Ökonomie.

Diese Funktionssysteme schließen sich nach Luhmann gegeneinander ab, indem sie ein jeweils eigenes Kommunikationsmedium für ihre Kommunikationen verwenden und einen jeweils eigenen Code. Das politische System kommuniziere im generalisierten Kommunikationsmedium Macht und im binären Code „Regierung-Opposition“. Alles, was keinen Einfluss auf die Machtverhältnisse habe (also dafür, wer regiert und wer opponiert), sei für das politische System nicht beobachtbar und kommunizierbar. Das Wirtschaftssystem dagegen kommuniziere im Medium Geld und mit dem Code „Zahlung-Nichtzahlung“. Es könne daher nur beobachten und kommunizieren, was in diesem Code beschreibbar sei. Um das an einem fiktiven Beispiel zu erklären: Wenn die Regierung der BRD beschlösse, dass ab jetzt im Straßenverkehr bei roten Ampeln gefahren würde und bei grünen Ampeln stehenzubleiben sei, dann wäre das für die Wirtschaft egal, weil es keinen im Medium Geld kommunizierbaren Unterschied machen würde. Die Ampeln könnten alle bleiben wie sie sind, der Staat müsste keine neuen installieren, es würde nichts kosten und auch keinen Gewinn bringen, deshalb würde das Wirtschaftssystem darauf gar nicht reagieren.

Die Bürger*innen würden allerdings furchtbar wütend werden, weil sie sich mühsam umgewöhnen müssten, und würden die Regierung wahrscheinlich abwählen, weil die Aktion nur Mühe und Gefahren und keinen Sinn machen würde. Also wäre das im Medium Macht relevante Information.

So funktioniert nach Luhmann funktionale Differenzierung. Ein weiteres gesellschaftliches Teilsystem neben Wirtschaft und Politik ist zum Beispiel Wissenschaft. Auch sie hat einen eigenen Code (wahr/falsch).

Jetzt habe ich mir die Frage gestellt, warum sich diese Gesellschaft von mehreren Funktionssystemen evolutionär gegen die stratifikatorische Gesellschaft mit einem Zentrum durchgesetzt hat. Wenn ich den Gedanken der Evolution ernst nehme, dann müssen die funktional differenzierten Gesellschaften ja Selektionsvorteile gegenüber zentralisierten Gesellschaften haben, sonst würden sie sich in der Evolution nicht durchsetzen.

Vielleicht hilft bei der Beantwortung dieser Frage wieder die Evolutionsbiologie. In dem Essentials Buch wird der Begriff „community“ für das verwendet, was ich früher noch als „Ökosystem“ gelernt habe: Als „community“ bezeichnen Evolutionsbiolog*innen eine Art Lebensgemeinschaft von Organismen verschiedener Spezies, die in einem bestimmten Raum zusammenleben und miteinander in Interaktion (Konkurrenz, Ergänzung oder gegenseitige Unterstützung) stehen. In diesem Sinne sind zum Beispiel alle Organismen, die in den Alpen leben, eine community. (Ich werde im Folgenden „community“ mit „Gemeinwesen“ übersetzen).

Jetzt kann ich mir die Frage stellen, welchen Evolutionsvorteil Gemeinwesen mit funktionaler Differenzierung gegenüber Gemeinwesen haben, die auf ein einziges Zentrum ausgerichtet sind, also in der Metapher eine zentrale Spezies, sagen wir: Die alpine Fichte. Offensichtlich ist ein Gemeinwesen, das auf eine einzige Spezies ausgerichtet ist, genauso stabil, wie es diese Spezies ist. Wenn sich Umweltbedingungen so ändern, dass diese Spezies nicht mehr gut überleben kann, ist das ganze Gemeinwesen in Gefahr, unterzugehen, sagen wir: Durch die Klimaerwärmung. Gibt es aber andere Spezies, ist das Gemeinwesen also differenziert und diversifiziert, im Bild: Gibt es Douglasien, Kiefern und Lärchen zusätzlich zur Fichte, können die anderen Spezies Ausfälle der Systemleistungen, die die Fichte erbracht hatte, kompensieren. Die Lärche würde sich nach meinem biologischen Laienwissen wahrscheinlich nicht durchsetzen, aber Douglasien und Kiefern könnten sich auf Standorte geschädigter Fichte-Populationen ausbreiten. Das Gemeinwesen ist dann stabiler gegenüber Stress durch sich verändernde Umweltbedingungen und kann sich besser an sie anpassen, als ein Gemeinwesen, in dem es nur die Fichte gibt. Dadurch setzen sich in der Evolution tendenziell funktional differenzierte, diversifizierte Gemeinwesen gegenüber solchen durch, die arm an Spezies und zentralisiert sind. Der entsprechende Lehrsatz der biologischen Ökologie ist: Je diversifizierter ein System ist, je mehr unterschiedliche Spezies es also enthält, desto anpassungsfähiger und deshalb stabiler ist es als ganzes.

Nun komme ich zum Kern meiner Hypothese: Um die Frage zu beantworten, ob die AfD und andere rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien in Europa und den USA die richtigen Antworten auf die Krisen der Gegenwart vorschlagen, können wir diese evolutionssoziologische Analyse verwenden.

Die wichtigste Veränderung der Umweltbedingungen für die Gemeinwesen ist aus meiner Sicht seit Jahrzehnten die Globalisierung. Was passiert ist, lässt sich mit Luhmanns Konzepten so beschreiben, dass sich die wirtschaftlichen Funktionssysteme einzelner Staaten zunehmend international miteinander verzahnt haben, also aus nationalen Subsystemen ein großes internationales Wirtschaftssystem geworden ist. In einer Art Koevolution ziehen die politischen Subsysteme nach, was sichtbar wird in der Suprastaatlichkeit der EU und in den G8 und G20 Gipfeln. Es zeigt sich hier meiner Hypothese nach, dass die Funktionssysteme wie Spezies in einer community sich nicht nur funktional ergänzen, sondern zugleich auch in Konkurrenzverhältnissen zueinander stehen und einander verdrängen können. Die internationale Verzahnung der Wirtschaftssysteme stellt einen Selektionsvorteil der Wirtschaftssysteme gegenüber den weniger international verzahnten politischen Systemen dar. Die Wirtschaftssysteme transformierten sich metaphorisch gesprochen von Subsystemen der nationalen Gemeinwesen zu Umweltbedingungen für diese nationalen Gemeinwesen. Das ist ziemlich ähnlich dem, was die Spezies Mensch spätestens in den letzten 500 Jahren im Bezug auf die ökologischen Spezies-Communities gemacht hat: Unsere Spezies und unsere Gesellschaft haben sich selbst von einem Teil der ökologischen Gemeinschaften zu einem Umweltfaktor für alle ökologischen Gemeinschaften global gemacht, Die Gesellschaft der Menschen gestaltet zu einem maßgeblichen Teil heute die Umwelt für die anderen Spezies und die communities, in denen sie leben. Ein Schlüssel für diesen evolutionären Erfolg der Spezies Mensch ist genau die Globalisierung und die Verzahnung der Wirtschaftssysteme miteinander. (Karl Marx schreibt schon 1848 im kommunistischen Manifest sinngemäß: „Der Kapitalismus hat die Weltwirtschaft faktisch verwirklicht.“).

Ich denke, dass wir an einer Art Kipppunkt der sozialen Evolution der Weltgesellschaft sind. Es könnte sein, dass sich die Weltwirtschaft als Zentrum einer auf einer neuen Ebene wieder stratifikatorisch organisierten Weltgesellschaft durchsetzt und die anderen Funktionssysteme auf sich ausrichtet. Es würde sich also als nächster Evolutionsschritt eine neue stratifikatorische, zentralisierte Ordnung entwickeln zwischen den nach wie vor differenzierten Funktionssystemen. Ganz im Sinne von Luhmanns deskriptivem soziologischen Ansatz kann ich das erstmal nüchtern als mögliche nächste Phase in einer historischen Entwicklung beschreiben. Möglicherweise ist die Tendenz dazu eine Folge der Krisen von Konkurrenz und Kriegen zwischen den Nationen und dem Scheitern von Imperien, die in einem anderen globalen Gesellschaftssystem evolutionär münden. Das würde dann aber gleichzeitig bedeuten, dass die Organisationen gemeinsamer Selbstbestimmung (also die Demokratien, die politische Systeme brauchen) durch das Wirtschaftssystem entmachtet oder sogar verdrängt werden könnten.

David Salomon hat mir erzählt, dass August Bebel gesagt hat: „Der Antisemitismus ist der Antikapitalismus der dummen Kerls.“ (Ich glaube nicht, dass er so etwas vergleichsweise Väterliches auch noch gesagt hätte, wenn er Zeuge der Shoa geworden wäre.)

Parallel dazu können wir heute sagen: „Der Rechtspopulismus ist die Globalisierungskritik der dummen Kerls.“ Die Rechtspopulisten verhalten sich so, als glaubten sie, dass wir eine neue stratifikatorische Weltordnung, in der die Weltwirtschaft das Zentrum der Funktionssysteme bildet, mit wiederhergestellter nationaler Souveränität der politischen Systeme kombinieren könnten. Bezogen auf die AfD erschließt sich daraus, warum deren Parteiprogramm fordert, Sozialleistungen zu kürzen und die Oberschicht steuerlich zu entlasten, zugleich die Grenzen zu schließen und aus der EU auszutreten. Die Utopie des AfD Programms ist eine souveränere Nation Deutschland, die Reichtum durch Kapitalismus generiert, ohne auf Menschen und Nationen außerhalb der Staatsgrenzen Rücksicht zu nehmen. Um in der globalen Konkurrenz unter der Hegemonie des Wirtschaftssystems erfolgreich sein zu können, müssen deshalb logischerweise die Arbeitskosten im Land minimiert werden (also niedrige Löhne und Sozialabgaben), das Kapital konzentriert werden (also niedrige Steuern) und zugleich die internationalen Verpflichtungen des politischen Systems reduziert werden (also Rückzug aus der EU und internationalen Abkommen).

In sich widersprüchlich ist diese Utopie deshalb, weil nationale Souveränität zwar pro forma gefordert, aber schon von vornherein ausgeschlossen ist: Souverän im eigentlichen Sinne des Wortes wäre in dieser Utopie keine Nation mehr, weil das Weltwirtschaftssystem die Umweltbedingungen setzen würde und es deshalb kaum noch Selbstbestimmung und Entscheidungsgewalt einzelner demokratischer Gemeinwesen mehr gäbe. Die Logik der ökonomischen Konkurrenz würde in einer solchen Zukunft die kollektiv bindenden Entscheidungen in jedem Nationalstaat bestimmen.

Das ist soweit klassische Globalisierungskritik, wie sie seit Jahrzehnten von attac und anderen Organisationen geübt wird. Sie argumentiert normativ, indem sie sich auf die Werte der französischen Revolution beruft: Freiheit, Gleichheit und Solidarität seien nur möglich, wenn demokratische Selbstbestimmung gegen die Logik der Ökonomie bestehen könne.

Was aber ergibt sich, wenn ich diese normative Setzung einklammere, und mit Hans Kelsen werterelativistisch davon ausgehe, dass der Wert der wirtschaftlichen Sicherheit genausogut als zentraler Wert an die Stelle von Freiheit gesetzt werden kann? (Vgl. Hans Kelsen: „Was ist Gerechtigkeit?“ Stuttart: Reclam.)

Evolutionssoziologisch problematisch ist vor allem eine wahrscheinliche Folge der oben skizzierten rechtspopulistischen Utopie: Die relative Instabilität des neuen globalen Gesellschaftssystems durch dessen stratifikatorische Ausrichtung auf die Wirtschaft als zentrale „Spezies“ des „ökologischen Gemeinwesens“. Denn diese würde die Fähigkeit der Weltgesellschaft verringern, sich an veränderte Umweltbedingungen anzupassen, weil alternative Funktionssysteme (wie die Politik, aber z.B. auch die Wissenschaft) geschwächt und in Peripherie und Dependenz verdrängt würden. Damit würden die Potentiale dieser Systeme verringert, bei starken Veränderungen der Umweltbedingungen Anpassungsprobleme der Weltwirtschaft auszugleichen.

Dialektischerweise erzeugt zusätzlich aktuell die Weltwirtschaft aber gleichzeitig, befeuert durch die zentralisierte Position der Ökonomie, genau solche schnellen und radikalen Veränderungen der Umweltbedingungen: Die Klimaerwärmung, das Artensterben und die großflächige Umgestaltung von Habitaten auf dem Land und in den Meeren sind Beispiele dafür. Die Utopie der Rechtspopulisten läuft also darauf hinaus, das Gesellschaftssystem unflexibler und weniger anpassungsfähig zu machen und zeitgleich seine Umweltbedingungen radikal und schnell zu verändern. Das ist offensichtlich eine Garantie für Desaster.

Also komme ich auch dann, wenn ich die Werte der französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Solidarität“ als normative Kriterien aus der Beurteilung ausklammere und stattdessen wirtschaftliche Sicherheit als zentralen Wert annehme, mit den Mitteln einer evolutionssoziologischen Beschreibung der Situation zu dem Ergebnis, dass das Programm des Rechtspopulismus, sollte es hegemonial werden, die Krisen der Gegenwart desaströs verschlimmern würde, statt sie zu lösen.

Mein Streik gegen die Revolution

Warum exportiert die spanische Wirtschaft Wasser in Form von Obst und Gemüse, wenn Wasser dort immer knapper wird? Nach der klassischen ökonomischen Theorie der komparativen Kostenvorteile von David Ricardo dürfte das unter Freihandelsbedingungen gar nicht passieren. Produziert werden müsste in Spanien nach dieser Theorie das, was dort am kostengünstigsten herstellbar ist – und Knappheit bedeutet normalerweise Kostensteigerungen.

Gleichzeitig fallen in Deutschland überall Massen von Äpfeln und Birnen von Obstbäumen und verfaulen auf dem Boden – während in deutschen Supermärkten ebenso massenweise Äpfel und Birnen gekauft werden, die aus Neuseeland quer über den Globus transportiert wurden. Was läuft falsch in den ökonomischen Systemen, so dass sie sich solche Ressourcenverschwendung leisten?

Ich könnte jetzt sehr leicht auf den Kapitalismus und seinen Wahnsinn schimpfen, aber ich bin dessen müde, weil eh die meisten Menschen nicht mehr zuhören, wenn wir Linken das tun. Deshalb versuche ich eine andere Erklärung des Problems.

Ich verwende dafür eine Kernidee der Systemtheorie des konservativen Soziologen Niklas Luhmanns. Danach ist das Wirtschaftssystem ein Funktionssystem der Gesellschaft, das autopoeitisch und selbstreferentiell ist. Das bedeutet, dass es sich von seiner Umwelt abgrenzt und sich nach außen schließt, indem es zur Kommunikation einen Code verwendet, der allen Informationsfluss von außen unterbricht, der für die Funktionsweise des Systems egal ist. Dieser Code unterscheidet nur Zahlung und Nichtzahlung. Alles, was nicht in diesem Code im Medium Geld kommuniziert werden kann, ist für das Wirtschaftssystem irrelevant und hat erstmal keine Effekte auf seine Prozesse.

Im konkreten Beispiel bedeutet das, dass es für die Firmen in Spanien nicht beobachtbar ist, ob die Wasserressourcen übernutzt werden, solange Wasser nicht wesentlich teurer wird. In Deutschland passiert dasselbe: Die Verbraucher*innen in der deutschen Ökonomie können in ihrer Rolle als Konsument*innen die Sinnlosigkeit davon nicht wahrnehmen, dass die Äpfel von den deutschen Bäumen vergammeln, solange es teurer ist, Arbeitszeit zum Äpfelsammeln zu verwenden, als aus Neuseeland herangeschiffte Äpfel im Supermarkt zu kaufen.

Das Wirtschaftssystem ist also so selbstbezogen und nach außen geschlossen, dass es zu seiner Umwelt, den Ökosystemen der Welt, keine direkten Kommunikationsbeziehungen mehr haben kann. Nach Luhmann muss es sich aber an die Umwelt anpassen, um sich zu erhalten. Dazu verwendet es strukturelle Kopplungen. Das bedeutet, irgendwie muss es, wenn die Informationen über Wasserknappheit schon nicht in den Preisen rechtzeitig und deutlich genug ausgedrückt werden, so dass es seine Strukturen dementsprechend verändern kann, trotzdem die Umweltinformationen verarbeiten.

Ich glaube, dass wissenschaftliche Organisationen wie der IPCC gerade genau das versuchen: Sie versuchen, das Wirtschaftssystem strukturell mit den Ökosystemen zu koppeln, indem sie die Ökonomie sensibel für die Knappheiten macht, die gerade entstehen, ohne dass sich das schnell genug in Kostensteigerungen und Preisen zum Beispiel für Wasser bemerkbar macht. Zu langsam ist dies, weil die globale Ökonomie der Menschen einen historisch einmaligen Grad an Macht über die Ökosysteme aufgebaut hat, gleichzeitig aber eine solche Trägheit in ihren Grundstrukturen, zum Beispiel der fossilen Energieinfrastruktur, dass sie Zerstörungen der Ökosysteme nicht rechtzeitig aufhält, bevor sie zu irreversiblen Knappheiten von Wasser und anderen Gütern führen.

Wenn die Wissenschaft planetare Belastungsgrenzen berechnet (die zum Beispiel bei der Umnutzung von Land und der Biodiversität schon weit überschritten sind), dann versucht es, Informationen in das geschlossene Wirtschaftssystem einzuschleusen, damit es sich an die Umwelt anpassen kann, so dass Wasser als grundlegende Ressource auch weiter zur Verfügung steht und das System sich nicht selbst zerstört. Das nennt Luhmann dann strukturelle Kopplung.

Auch das politische System versucht, in das Wirtschaftssystem solche Kopplungen einzubauen, zum Beispiel durch den Handel mit Emissionszertifikaten. Der Ausstoß von CO2 ist nämlich erstmal für die Wirtschaft gar nicht beobachtbar gewesen, weil er nichts gekostet hat: Die Atomsphäre konnte jahrhundertelang als Senke für die Abgase der Wirtschaft fast kostenlos genutzt werden, sie war eine Allmende – ein Gemeingut. Jetzt versucht die Politik, die Wirtschaft ausreichend darüber zu informieren, dass diese Allmende schon lange übernutzt ist. Sie versucht durch die Zertifikate die Schäden, die die Übernutzung verursacht, in den Code Zahlung-Nichtzahlung zu übersetzen, so dass das Wirtschaftssystem sie auch beobachten und darauf reagieren kann.

Organisationen, die von innen aus dem ökonomischen System selbst heraus ähnliche Kopplungen aufbauen, sind die großen Rückversicherungskonzerne wie die Münchener Rück, die schon seit Jahren warnen, weil die mit der Klimakrise verbunden ökonomischen Risiken etwa durch Dürren, Überschwemmungen und Stürme zu unberechenbar werden, um sich dagegen noch solide und zu einem akzeptablen Preis versichern zu können.

Leider gibt es daneben andere strukturelle Kopplungen des Wirtschaftssystems, die diese Versuche der Krisenbewältigung torpedieren, indem sie in genau die entgegengesetzte Richtung zielen: Das Wirtschaftssystem ist nach Luhmanns Theorie nicht nur umgeben von der Umwelt der planetaren Ökosysteme, sondern wir Menschen sind für das ökonomische System auch Umwelt. Luhmann interpretiert uns Menschen als „psychische Systeme“, und als solche sind wir Umwelt für das Wirtschaftssystem.

Das Wirtschaftssystem arbeitet nun schon lange und sehr erfolgreich daran, uns als psychische Systeme strukturell mit ihm zu koppeln, zum Beispiel mithilfe von Werbung, Arbeit und Mythen. Ein aktueller Mythos ist der Mythos von der Elektromoblität. Der Mythos sagt: Wir können mit Hilfe von E-Autos weiter so unbegrenzt mobil sein wie bisher, ohne unsere Lebensgrundlagen zu zerstören. Wir können unsere Lebensgewohnheiten einfach beibehalten, ohne die Krise der Knappheit zu verschärfen. Ein Mythos ist das deshalb, weil diese Erzählung wichtige Aspekte der Wirklichkeit ausblendet: Klimaerhitzung durch Treibhausgase stößt nur an eine der vielen planetaren Belastungsgrenzen. Elektromoblität bedeutet weitere Umnutzung von Land durch Lithiumabbau, Energieverbrauch und Emissionen durch Produktion neuer Autos und E-Bikes und weitere Straßen und Versiegelung von Boden und Erzeugung von giftigem Müll. Das sind alles Gründe für das Artensterben, eine Krise, die genauso bedrohlich für unser Überleben als Zivilisation ist, wie die Erderhitzung.

Soviel zum Mythos der Elektromobilität, der auch Menschen frisch mit dem Wirtschaftssystem koppelt, die schon Zweifel bekommen hatten, ob das alles so gut läuft. Was aber ist gefährlich an der Art, wie wir Arbeit definieren, und wie koppelt sie uns mit dem ökonomischen System? In Deutschland ist Arbeit, eingeengt verstanden als Erwerbsarbeit, mit der im Gegensatz zur häuslichen Sorge-Arbeit Geld verdient wird, ein so integraler Bestandteil des Selbstbildes, der sozialen Wertschätzung und der Selbstdefinition von Personen, dass die meisten Menschen durch ihre Arbeit fest an das Wirtschaftssystem gekoppelt sind.

Als ich beim letzten Klimastreik auf der Raddemo über die Marburger Stadtautobahn fuhr, brüllte uns jemand aus einem vorbeirasenden Auto von der Gegenfahrbahn aus zu: „Geht arbeiten!“. Das war in meinem Fall einigermaßen absurd, weil ich an dem Freitag aus einer vollen Arbeitswoche kam und an meinem ersten freien Nachmittag versucht habe, das Wirtschaftssystem mit der natürlichen Umwelt strukturell zu koppeln. Vor mir fuhr ein weißhaariger Mann auf der Raddemo und sagte dazu: Ich habe Jahrzehnte gearbeitet, ich habe meinen Teil getan.

Die Szene ist leider ein guter Indikator dafür, dass bei dem brüllenden Autofahrer die Kopplung seines psychischen Systems mit dem Wirtschaftssystem so fest ist, dass er Forderungen nach Veränderungen des Wirtschaftssystems, in diesem Fall der Mobilität, als Forderungen nach Veränderung seiner eigenen Psyche erlebt: Eine Kritik an der Autoökonomie erscheint ihm deshalb als Angriff auf seine eigene Integrität als Person. Das Auto, das er fährt, ist so gesehen viel mehr als ein Gegenstand, den er als Instrument seiner Mobilität verwendet: Es ist eine weitere Kopplung (neben seiner Erwerbsarbeit), die sein Körper und seine Psyche mit dem Wirtschaftssystem eingegangen sind. Erwerbsarbeit und Autobesitz sind außerdem zwei Kopplungen, die ineinander verschränkt sind: Viele brauchen ihr Auto, um zur Arbeit zu kommen, und brauchen umgekehrt das Erwerbseinkommen, um sich ein Auto leisten zu können.

Wieso finde ich diese Struktur absurd? Das sind doch erstmal Notwendigkeiten der Lebensrealität. Ich finde sie absurd, weil wir Menschen alle auch Lebewesen und durch unsere Körper Teil der Ökosysteme dieser Welt sind. Wir sind zum Beispiel durch Atmung und Ernährung mit allen anderen Lebewesen auf dem Planeten strukturell gekoppelt. Die strukturellen Kopplungen mit dem Wirtschaftssystem, die sich durch Mythen, Erwerbsarbeit und Autobesitz bilden, scheinen bei vielen Menschen aber so stark zu sein, dass sie nicht mehr wahrnehmen, dass Atmen, Trinken und Essen für ihre psychische und körperliche Integrität und diejenige ihrer Kinder und Enkel wichtiger sind als ihr Auto und der Benzinpreis. Die CDU plakatiert hier in Marburg: „Autofahren verbieten verboten“ gegen die sehr gute rot-grün-grüne Verkehrsreform Move 35. Die Marburger CDU ist damit nicht mehr konservativ, sondern eine revolutionäre Partei, weil sie mit Macht daran arbeitet, die Verbindung der Menschen mit der Biosphäre, die uns hervorgebracht hat und am Leben erhält, durch Kopplungen der Menschen mit einem Wirtschaftssystem zu ersetzen, das alle planetaren Grenzen zu sprengen und alle Verhältnisse, in denen die Menschen noch atmende, fühlende und in ihre Welt eingebettete Wesen sind, umzustoßen droht.

Das bedeutet: Um die Dürre in Spanien und die Verschwendung von gutem Essen in Deutschland zu stoppen, müssen wir nicht nur das Wirtschaftssystem mit der natürlichen Umwelt durch Klimaberichte und Emissionszertifikate strukturell koppeln, sondern wir müssen auch unsere psychischen Systeme vom Wirtschaftssystem aktiv entkoppeln. Ich versuche das, indem ich in Teilzeit arbeite, so auf Einkommen verzichte und Zeit gewinne, um auf Raddemos für die Verkehrswende zu fahren und mit meinem M-Bike (ich fahre eines dieser altmodischen Räder ohne Elektromotor) in meinen Radtaschen Äpfel und Birnen hier im Marburger Umland zu sammeln und dann zu verschenken. Entkopplung ist machbar, Herr Nachbar!

Geistige Verwüstung

Ich war vor zwei Wochen im aktuellen James Bond – der ist tatsächlich so uninteressant, dass ich Deine Zeit nicht damit vergeuden will, darüber zu lesen – aber es lief eine fantastische Werbung vorher: Da sah ich einen Audi-Elektro-Flitzer über leere Straßen fahren. Fassungslos saß ich da und konnte den Blick nicht abwenden: Die Landschaft war eine wunderschöne Wüste mit Dünen und am Horizont sah ich eine Skyline in Glas und Stahl, auf die das Hightech-Gefährt zusteuerte.

So also, dachte ich mir, stellen sich die deutschen Autokonzerne die Welt der Zukunft vor. Was fehlte in dem Bild sind nur die Devices, die das CO2 unserer Atemluft in Sauerstoff umwandeln werden, damit wir, wenn wir aus dem Audi E-Auto aussteigen und versuchen, in einen der Glastürme zu gehen, um im 42. Stock mal eben in unseren mit Solarkollektoren angenehm erwärmten Pool mit Blick über die Stadt (und die weite Wüste) zu hüpfen, nicht ersticken, bevor wir den Irisscan unserer Hochsicherheitstür abwarten können, die so sicher sein muss, weil 90 % der Erdbevölkerung durch die multiple Krise von Klimakatastrophe, Wirtschaftszusammenbruch, Kriegen und Bürgerkriegen und die kulturelle und ethische Totalverwahrlosung der Oberschicht so arm, traumatisiert und verzweifelt geworden sein werden, dass nur ein technologisch hochgerüsteter Sicherheitsapparat die 10% Audi-E-Auto-Fahrer*innen davor schützen kann, die berechtigten Ansprüche der 90 anderen Prozent der Menschheit auf einen Teil vom lebenswerten Leben abzuwehren.

Vielleicht hat sich die Technik-Entwicklungsabteilung von Audi schon einen Apparat überlegt, der das Sauerstoffproblem löst, wenn die Bäume alle tot und die Ozeane tote Tümpel sein werden. Vielleicht gibt es auch schon ein Rundum-Sorglospaket von Audi, in dem auch die Klimatisierung der Glastürme bei 50 Grad Außentemparatur eines Wüstenplaneten, und Heizungen, die die harte Kälte nachts in Wüsten ausgleichen können, eingeplant sind.

Vielleicht richtet sich die Werbung auch nur an Leute, die nach Dubai auswandern wollen, wo die Welt schon annähernd so ist, wie es in der Werbung aussieht, oder die Werbespezis von Audi haben nur schnell eine Lösung dafür finden müssen, dass sie bisher immer grüne Landschaften und einsame Straßen gezeigt hatten, das aber die Konkurrenz genauso macht und man damit keine Aufmerksamkeit mehr erzeugen kann, und die leeren Straßen wollten sie nicht ändern, weil die zwar weit von der Realität entfernt sind, aber der Wunschtraum jedes Autofahrers, so dass man auf dieses Element nicht verzichten könnte, selbst wenn man wollte, und deshalb haben sie einfach in die Wiesen und Wälder eine Wüste eingepastet, schon war die neue Kampagne fertig und beruhigenderweise bleibt dann in der Zukunft ja das wichtigste auch beim Alten: Auto, Straße, Hochhausturm, der Rest ist ja eh irgendwie nur die Kulisse, in der die wichtigen Dinge irgendwie stehen müssen, also warum nicht eine Wüste, die ist auch nicht so naß und man hat weniger Probleme mit Rost am neuen E-Auto, denn seien wir doch mal ehrlich, Natur, das sind nur Marder, die die Kabel zum Lithium-Ionen-Akku durchbeißen und man kommt dann zu spät zur Arbeit und schafft es nicht rechtzeitig, die ganze Wüste in den Spot reinzupasten, wo vorher die Wälder und Felder waren, und dann kriegt man wieder einen Rüffel vom CEO und kann sich die lange geplante Passage auf dem Spaceship in den Orbit wieder abschminken, weil der Bonus ausfällt, also was solls.

Gut, dass die Filmindustrie Dune mit hohem technischen Aufwand unter Einsatz hoffentlich von Ökostrom noch einmal neu gedreht hat, das war bitter nötig, weil die Wüstenwürmer irgendwie nie so richtig echt ausgesehen haben, ich würde jetzt vielleicht mal reingehen, um zu sehen, ob es auf dem Wüstenplaneten am Ende wie in dem David Lynch Original dann auch regnet, weil der Auserwählte Atreides die Welt gerettet hat. Mich würde auch interessieren, ob Audi den Spot vor Dune zeigt, oder ob es Grenzen des Zynismus gibt, die selbst Audi nicht überschreitet.

Für die Firma, die die Defender-Geländewagen produziert, kann man das schon mal beantworten: Die Verfolgungsjagd mit den Defendern sieht man zurerst in der Werbung vor dem Film und dann im Bond ein zweites Mal. Die Defender fahren im Film die Bösen – es scheint irgendwie für den Werbeerfolg egal zu sein, was gut und was böse ist.

Geist raus – Film rein. Da solche Filme relativ wenig Platz in dem freigeräumten Gehirn brauchen, weil sie eh immer nach dem selben Schema gestrickt sind und nur leichte Variationen abgespeichert werden müssen, oder Remakes sind, wo wir uns nur die Optik neu merken müssen, weil wir den Plot schon drauf haben, ist dann auch reichlich Platz für die ganzen Produktinformationen in der halben Stunde Werbung vorher.

Zum Glück war der erste Film, den ich nach dem Lockdown im Kino gesehen habe, nicht Bond, sondern Nomadland, das war jede Minute wert und gibt mir den Glauben an die Kultur zurück. Nur, dass Bond ausverkauft war und Nomadland nicht und außerdem schnell wieder aus dem Programm, weckt leise Zweifel, wie es in Zukunft mit uns allen wohl weiter geht.

Hambi bleibt!

Am Samstag war ich einer von 50000 Leuten, die keine Lust auf Braunkohlebagger, aber Lust auf schönen Wald hatten.  Das Wetter war grandios, strahlender Sonnenschein und echt warm, das einzig Irritierende daran war, dass das Wetter nicht so richtig in den Oktober passte, es fühlte sich eher an wie Juli. Sollte es da einen Zusammenhang mit den CO2-Massen geben, die die vom Hambacher Forst aus am Horizont  sichtbaren Braunkohlekraftwerke in die Atmosphäre blasen? Nein, das ist natürlich die typische Panikmache von Ökofanatikern.

Es staubte dann und wann prächtig, wenn der Wind in die total ausgetrockneten Felder fuhr.  Es waren einige Bauern aus der Gegend mit ihren Traktoren zur Demo gekommen, die irgendetwas gegen die Klimaerwärmung zu haben scheinen, vielleicht, weil irgendein Problem für die Pflanzen bei Trockenheit entsteht. Was für Sensibelchen! Lasst die größte Landschaftsvernichtungsmaschine Westeuropas ruhig weiterlaufen, das mit der Dürre gibt sich schon.

Die Kundgebung war schön,  es kamen immer mehr Menschen und noch mehr Menschen über die Feldwege von mehreren Seiten auf den Platz. Wir haben an die inhaftierten Aktivist*innen gedacht, und alle haben sich über das Gerichtsurteil über den Rodungsstop gefreut.

(Die hier abgebildeten Aussagen geben nicht unbedingt die Meinung des Autors wieder. Ich wende mich zum Beispiel klar gegen den Einsatz von Laserschwertern zu politischen Zwecken, allein schon wegen des Energieverbrauchs. May the Forst be with you! )

Die Polizei hat nur da gestanden ohne Helme und Kontrollen, als sich irgendwann hunderte von Menschen auf den Weg in den Wald gemacht haben. Ein Polizist hat im Wald sogar „Hambi-bleibt“ mitgerufen.  Er hat dabei allerdings sehr belustigt ausgesehen, ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll. Der Hambi ist wunderschön, alte Buchen und Eichen stehen dort, mehrere hundert Jahre alt.  Die Menschen, die die Baumhausdörfer noch kannten, waren traurig und haben von den Räumungen erzählt.

RWE hat richtig gewütet und es waren große Plätze gerodet worden und Trassen in den Wald geschlagen, wahrscheinlich, um mit den Räumungsgeräten durchzukommen.

Bei der Stelle, wo Steffen abgestürzt und gestorben ist in Beechtown, war ich auch. Da waren alle sehr still und es standen viele Kerzen dort und ein Bild von Steffen erinnerte an ihn.

Und dann stand ich vor der Grube, das ist unfassbar: Ich musste nur die Augen aufmachen und wusste, was gut und was böse ist. Wann hast du das schon mal, dass das so eindeutig ist? Die Grube ist ein riesiger Krater, eine Wüstenlandschaft aus Sand und Steinen, in der sich gespenstisch die riesigen Bagger abzeichnen, super tief und bis zum Horizont lebt da nichts mehr, eine Wunde in der Erde.  Und dann schaust Du nach links  und siehst den Waldrand vom Hambi, da stehen die alten Bäume und Du denkst an Lorien und denkst nur:  Das gilt es zu verteidigen.

Und dann sind wir wieder gegangen und ich habe irgendwie viel mehr Kraft gehabt als vorher, die Kraft kam von den Liedern, die wir im Wald gesungen haben – „power to the people – the people have the power – getting stronger every hour“- und aus den vielen lächelnden Gesichtern der Menschen, die still im Wald waren, und aus dem Wald selbst und aus den Kinderstimmen, die „Hambi Hambi Hambi – bleibt-bleibt-bleibt“ gerufen haben.

Ich hoffe nur, die Bechsteinfledermäuse waren von den vielen Menschen nicht zu geschockt, die da durch ihren Wald gelatscht sind, denn diesen geflügelten Gefährt*innen haben wir zu einem Gutteil das Gerichtsurteil mit dem Rodungsstop zu verdanken.  Wie fühlt es sich wohl an, eine Fledermaus zu sein, unter deren Wohnung hunderte völlig entrückte Ökos wie ich  langspazieren?  Ich werde es nie wissen.  Hambi bleibt! Und die Rätsel auch.

 

 

 

Reziproke Resonanz: Zu einem postkapitalistischen Narrativ der Liebe

Ich lese gerade „Gefühle in Zeiten des Kapitalismus“ von Eva Illouz. Illouz analysiert darin, wie der Feminismus und der therapeutische Diskurs der Psychologie die Gefühle, insbesondere die in Liebesbeziehungen, verändert haben. Illouz zufolge wurden beide Strömungen unter anderem insofern einflussreich, dass sie durchsetzten, dass Liebesbeziehungen heute auch Orte von Verhandlungen sind, Verhandlungen zwischen gleichberechtigten Partner*innen über die Werte, die in der Beziehung gelten und beachtet werden sollen. Paradoxerweise hat der Feminismus als ein eigentlich kritischer Diskurs so Praxisformen und Diskursformen des Kapitalismus (die Idee, dass alle Werte auf Märkten durch Verhandlungen erzeugt werden, ist kapitalistischen Ursprungs) ) auf die Liebesbeziehungen und die Gefühle ausgedehnt.

Ich habe mit einer Freundin, die mir das Buch empfohlen hatte, über diese Thesen diskutiert und wir sind beide der Meinung, dass das 1. stimmt, aber 2. nicht aus lauter Antikapitalismus jetzt feministisch aufgeklärte Liebesbeziehungen abgelehnt werden dürfen, sondern wir brauchen 3. ein neues Narrativ, dass die Fortschritte, die in dem Verhandlungsmodell der Liebesbeziehung stecken, erhält, und so transformiert, dass die Beziehung zwar gleichberechtigt bleibt, aber keine absolute Marktbeziehung mit einer ausschließlich ökonomischen Struktur wird.

Ich habe jetzt die Idee, dass dieses neue Narrativ um die Idee von reziproker Resonanz als Fundament von Liebesbeziehungen gruppiert werden kann. Damit meine ich, dass die Liebesbeziehung zwar wie eine Marktbeziehung eine Art wechselseitiger, freiwillig eingegangener Vertrag ist, der in Verhandlungen entsteht. Gleichzeitig sollten diese Verhandlungen aber nicht illusorischerweise auf objektiv gedachte Werte, die sozusagen die Verhandlungsmasse und die Substanz des Vertragsergebnisses darstellen, gerichtet sein. Stattdessen kann eine Liebesbeziehung als eine Beziehung gesehen werden, in der die beteiligten Personen eine sich reziprok verstärkende Resonanz von Gedanken, Äußerungen, Gefühlen und Praxisformen erleben können. Resonanz verwende ich hier als Metapher, die ich so verstehe: Menschen sind leiblich-emotional-geistige Wesen, diese Ebenen erzeugen einen komplexen Resonanzraum, wie der Korpus eines Musikinstruments kann dieser Raum Schwingungen bestimmter Tonhöhe, die die andere Person aussendet, aufnehmen und verstärken, wobei sich auch der Charakter der Schwingungen vermittelt durch die individuelle Resonanz verändert. Liebe erscheint mir also als die Kunst, die komplexe Resonanzfähigkeit von zwei oder mehr Menschen so zu harmonisieren, dass die Schwingungen reziprok hin- und hergespielt werden und dabei etwas neues entsteht.

Die Resonanzmetapher verhindert, dass wir Liebe verdinglichen, wie es die rein kapitalistische Metapher der Marktbeziehung tut. Weder erzeugt Resonanz Liebe, die dann wie ein Gegenstand zwischen den Verhandlungspartnern steht und per Vertrag gerecht aufgeteilt wird, noch hat Liebe eine Dauer, die irgendwie von der Resonanzpraxis und den Resonanzerlebnissen unabhängig und trennbar wäre, noch lässt sich Liebe, die wir fundiert auf reziproke Resonanz denken, auf zwei Personen isolieren, weil sie immer ein wenig ausstrahlt. Gleichzeitig gibt uns die Metapher auch ein Bild dafür, dass die Reziprozität einer solchen Beziehung nie perfekt symmetrisch sein wird, wie es das Ideal einer Marktbeziehung suggeriert, weil ein Mensch auf leiblicher, emotionaler und geistiger Ebene immer ein einzigartiges Mitschwingen erzeugen wird, dass nie symmetrisch gespiegelt werden kann, weil die Resonanz die Schwingung auf je eigene Art verändern wird. Und gerade diese Unfähigkeit zu Symmetrie bedroht einerseits die Dauerhaftigkeit der Beziehung und ermöglicht andererseits überhaupt das Spiel der Resonanzen.

Du, ich und unser Leben jenseits des Tauschprinzips

Adornos wortmächtige Kritik am Äquivalenzprinzip geleitet in diesem Sinn mein Beziehungsleben immer: Dass es nicht sein  soll, soziale Beziehungen nach dem Schema eines Tausches zu entstellen, hat viele Gespräche und Interaktionen gerettet, in denen ich sonst der Kälte des kapitalistischen Konventionalismus erlegen wäre.

Jetzt ist mir etwas klar geworden: Nämlich,  dass die Idee, man müsse jedes Geschenk eines Mitmenschen mit etwas gleichwertigen vergelten, wie eben in einem Tauschgeschäft, schon deshalb nicht zu verwirklichen ist, weil das Leben so vielfältig ist und auf so vielen Ebenen und in einem so reichen Spektrum sich abspielt, dass ein kognitiv begrenztes Wesen wie ich es gar nicht leisten könnte, zu berechnen, wann ich etwa ein gutes Gespräch mit einem Freund mit etwas Gleichwertigem wie einem Buchgeschenk für ihn ersetzt hätte. Damit zwei Menschen wirklich eine äquivalente Beziehung nach dem Tauschprinzip organisieren könnten, müssten sie eine gigantische Kalkulationsaufgabe bewältigen: Wie um alles in der Welt sollte ich Wechselkurse zwischen der Zärtlichkeit und dem Geistigen, der Solidarität und der praktischen Lebenshilfe und all den anderen Aspekten der Beziehung berechnen?

Ein gutes Argument gegen ein Leben gemäß des Tauschprinzips ist also unsere kognitive Beschränktheit, deren Reflexion uns zeigt, dass das falsche Ideal des Äquivalenzprinzip von endlichen, unvollkommenen Wesen wie uns Menschen einfach nicht zu verwirklichen ist (ganz abgesehen davon, dass es auch böse wäre, das zu versuchen).

Das heißt nicht, dass wir nicht versuchen sollten, Gerechtigkeit in unseren Beziehungen anzustreben, gerade in distanzierteren Beziehungen mit Menschen, die ich nicht gut kenne, sind die Ebenen weniger und die Berechnung weniger komplex und Gerechtigkeit kann dort teilweise die Form von gerechtem Tausch annehmen. Je näher, intimer und langlebiger eine Freundschaft oder Liebesbeziehung aber wird, desto weniger können und sollen wir sie meiner Meinung nach an Tauschprinzipien orientieren.

Mein Alltag im Spätkapitalismus, die SUVs und eine gute Freundin

Ich hab mir von einer Freundin eine Taktik abgeschaut, um mit meiner Wut klarzukommen, und sie aber leicht variiert, und zwar mache ich folgendes: Wenn ich mal wieder mit meinem Fahrrad in der Stadt fahre, und total genervt bin, weil alle Leute sich komisch verhalten, oder einfach, weil ich mal wieder Bauchschmerzen, Rückenschmerzen oder Seelenschmerzen habe, dann denke ich „Scheiß Autofahrergesellschaft!“ Manchmal sage ich es auch halblaut vor mich hin, und wenn die Karren total laut sind, sage ich es auch laut, in der Hoffnung, dass niemand denkt, dass ich bescheuert bin. Egal.

Zu der Autofahrerei habe ich einen Song angefangen, dessen Fragment ich hier mal präsentiere:

We kill the trees and the feelings

it’s hard to feel while we drive in our cars

loving feels like stealing

and we pour our freedom from our jars.

 

Say No, this ain’t living

Say No, this ain’t life

Say I’ll never give in

Say No this ain’t life

Also: An allem ist die Scheiß Autofahrergesellschaft schuld! Ozonloch, Kriege, Bauchmerzen, Gestank, nervöse Leute, Hass in den Köpfen, alles die Scheiß Autofahrerei! Pfui! Und ich mit meinem Fahrrad mitten drin. Da soll mal einer klarkommen.

Das einzig blöde ist, dass ich jetzt gestern und vorgestern insgesamt etwa 300 km mit dem Auto meiner Eltern gefahren bin, davon 140 Kilometer einfach nur, weil ich abends in meinen Lieblingstanzclub in Marburg gehen wollte, und am nächsten Tag in Köln beim 1. Geburtstag meiner kleinen Nichte sein wollte, und weil unsere Familie in fünf Städten verteilt wohnt, könnten wir uns ohne Auto kaum treffen. was mache ich nun mit meinem Hassmantra? Drauf verzichten kann ich nicht, weil ich halt oft Hass und Wut fühle und es auch nicht richtig klappt, mir einzureden, das schon alles irgendwie in Ordnung ist, so wie es ist.

Am schlimmsten sind diese Privatpanzer, die sie „SUV“ nennen. Das ist das kapitalistische Symbol im Moment. Die SUV Besitzer können 100000 Tacken für so einen Scheiß Privatpanzer ausgeben, und ich kann mir als verbeamteter Lehrer mit halber Stelle noch nicht mal ein gebrauchtes Mountainbike kaufen, seit mein altes geklaut worden ist! OK, ich hab es auch nicht abgeschlossen, sonst wäre es mir nicht geklaut worden, aber ein bisschen Glaube an die moralische Integrität meiner Mitmenschen ist mir trotz der etwa 15 Räder, die mir in meinem Leben schon geklaut worden sind, abgeschlossene und unabgeschlossene,halt trotzdem geblieben.

Wenn es bei mir als verbeamtetem Lehrer schon finanziell so knapp ist, wie soll es erst einer alleinerziehenden Hartz-IV-Bezieherin gehen? Die würde sicher mit einem Auto wesentlich besser ihren Alltag bewältigen können, kann sich aber keins leisten, weil die SUV Besitzer einen Wagen im Wert von 10 normalen Wägen besitzen und damit die Straßen unsicher machen.

Wenn ich so drüber nachdenke, dann fällt mir auf, dass ein Auto nicht immer was schlechtes ist. Ich war echt glücklich beim Tanzen und auf dem Geburtstag meiner Nichte, und verdammt nochmal, ein Alltag als Alleinerziehende ist hart genug, wenn ein Auto gebraucht wird, dann her damit! Vielleicht können wir eine Steuer auf SUVs erheben, die sich so richtig gewaschen hat, und das zu den Hartz-IV Geldern umverteilen. So lange, wie die Politiker*innen das nicht gebacken kriege, sage ich weiter leise und auch laut:

Scheiß Kapitalismus!

 

Ich werde fortschreitend konservativer

„Das Progressive lebt von Bewahrung des Erreichten.“ (Peter Sloterdijk, zitiert nach: Unfried, Peter: „Vom Ich zum Wir“ Berlin: Taz vom 1.12.2015, S. 5.)

Offensichtlich handelt es sich, mit Sloterdijks eigenen Worten, bei diesem Satz des großen Spontisophen um eine „konstruktive (…) Paradoxie (…) in Lernprozessen“. Dann will ich mal versuchen, zu lernen.

Als man das noch „Dialektik“ nannte, da hat man den Studierenden beigebracht, dass das Ziel des dialektischen Prozesses die „Aufhebung“ des Widerspruchs sei, im dreifachen Sinne von „Aufheben“ sollte der Widerspruch „aufgelöst“, dabei „bewahrt“ und „auf die nächste Stufe gehoben“ werden. Das muss ich also schaffen, um mein von Sloterdijk vorgegebenes Lernziel zu erreichen. Mal sehen, was ich machen kann.

Zuerst muss ich den Widerspruch entfalten. Was mich an dem Satz so aufregt, ist wahrscheinlich, dass ich mich als progressiv einordnen würde, um genau zu sein gehöre ich zu den von „Animositäten“ durchdrungenen „Altlinken“ (Sloterdijk, Ebd.), die irgendwie unverbesserlich daran festhalten, dass der Kapitalismus Scheiße ist und dass wir eine Gesellschaft der Zukunft schaffen sollten, in der alle Menschen frei, gleich und solidarisch sind. Deshalb sehe ich mich als progressiv an: Ich will eine Zukunft, die nicht so ist wie die Gegenwart. Und ich will eben nicht konservativ das Alte bewahren, weil es auf Ungerechtigkeit, Ungleichheit, Zwang und Konkurrenzkampf basiert, und das macht unglücklich. Also entweder ist man progressiv, oder konservativ, tertium non datur.

Aber mal genau überlegt: Zugleich ist meine Definition der besseren Zukunft offensichtlich total alt: Sie stammt nämlich aus der französischen Revolution, hieß da: „Liberté, Egalité, Fraternité“ und ist über 200 Jahre alt. Insofern lebt also auch mein progressives Denken vom Bewahren des Alten. Ich will sozusagen eine alte Zukunft. Mir sind auch diese neuen Zukünfte, die hier so produziert werden, irgendwie suspekt, zum Beispiel stellen sich viele Grüne wie Kretschmann die Gesellschaft der Zukunft anscheinend vor wie so eine Art Ritterburg mit Warp-Antrieb: Da ist man zugleich sicher und geborgen und kann sich trotzdem total schnell fortbewegen, wenn der Captain „Energize“ sagt.

Jetzt habe ich den Widerspruch konkretisiert. Aufgelöst ist er aber noch lange nicht. Vielleicht kann man das so machen: Meine Idee einer besseren Gesellschaft ist alt, aber sie ist halt auch noch nie in die Wirklichkeit umgesetzt worden, also kann man genausogut sagen, sie ist neu, weil sie noch nie so richtig abgenutzt worden ist. Es ist so, als würde man eine Uhr aus dem 18. Jahrhundert auf dem Dachboden finden, die in einer luftdichten Schachtel unter Vakuum aufbewahrt worden ist und nie von jemand benutzt worden ist, und jetzt besteht die Progression darin, dass wir die Schachtel aufmachen und das Ding aufziehen, in Gang setzen und mal sehen, wie gut es läuft.

Alte Ideen zum ersten Mal verwirklichen kann also sehr progressiv sein.

Was aber ist konservativ? Angela Merkel zum Beispiel. Sie hat durchgesetzt, dass dieses Jahr eine Million Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Das ist konservativ und zugleich progressiv: Angela Merkel hat das christliche Gebot „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ auf die heutige Zeit angewandt und daraus politische Schlussfolgerungen gezogen. Die uralte christliche Tradition ist damit durch Erneuerung bewahrt worden. Ist also die CDU heute die eigentlich progressive Partei?

Angela Merkel und Jean-Claude Juncker machen nicht nur Migrationspolitik. Sie zwingen gleichzeitig Griechenland zum Sparen, obwohl dort viele Menschen unter Armut leiden. Und die beiden Konservativen setzen das TTIP durch, obwohl dadurch in Zukunft die Demokratie und die Rechte der Menschen geschwächt werden. Es wird mehr Arme geben und die Reichen werden noch reicher. Das ist rückschrittlich, es richtet sich gegen das Erreichte: Die soziale Marktwirtschaft.

Wenn ich diesen Blogeintrag so Revue passieren lassen, muss ich zu meiner eigenen Überraschung feststellen, dass ich scheinbar ziemlich konservativ bin: Ich will nicht nur den christlichen Wert der Nächstenliebe, sondern auch die Demokratie des deutschen Grundgesetzes von 1948 und die Idee der sozialen Marktwirtschaft sowie die Ideale der französischen Revolution bewahren.

Hat Sloterdijk recht, und ich bin wegen meines Konservatismus progressiv? Ich glaube nicht. Ich glaube, ich bin progressiv und das sieht nur konservativ aus, weil es in der Vergangenheit Leute und Ideen gab, die auch heute noch progressiv sind, zum Beispiel Jesus („Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.“ ca. Anno Domini 30) Abraham Lincoln („Democracy is government of the people, by the people, for the people“, 1859) die Autor*innen des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland („Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit“, 1948) und Karl Valentin („Die Zukunft war früher auch besser!“ ca. 1930).

1Peter Sloterdijk, zitiert nach: Unfried, Peter: „Vom Ich zum Wir“ Berlin: Taz vom 1.12.2015, S. 5.

2Ebd.

Wie ich als Attac-Mitglied trotzdem für TTIP sein könnte

Ich bin jetzt seit langer Zeit gegen das TTIP („Transatlantic Trade and Investment Partnership“, „Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft“) aktiv. Ich habe die europäische Bürgerinitiative gegen TTIP und CETA unterschrieben. Ich habe in Fußgängerzonen mit den anderen Marburger Attac-Leuten im Rahmen der europäischen Bürgerinitiative gegen TTIP einige der über 2 Millionen Unterschriften gegen das TTIP eingeworben, die wir europaweit gesammelt haben. Ich habe an Anti-TTIP Flashmobs teilgenommen. Ich habe für die Anti-TTIP Demonstration am 10.10. in Berlin Geld gespendet, und ich habe Menschen über die Nachteile des Freihandelsabkommens informiert.

Dabei bin ich gar nicht per se gegen Freihandel. Ich finde Freihandel in bestimmten Grenzen und unter bestimmten Bedingungen okay. Nur nicht unter denen, die der EU-Kommission und Jean-Claude Juncker so vorschweben.

Meine Vorstellung von einem vernünftigen Freihandel zwischen Kanada, den USA und der EU sieht so aus: Der Freihandel muss so organisiert sein, dass die Demokratie und die Menschenrechte für alle Menschen gestärkt werden.

Dies ist meiner Meinung nach unter drei Bedingungen der Fall:

1. Das Abkommen darf kein „Living Agreement“ sein und es darf keinen regulatorischen Rat („Regulatory Coordination Council“) geben.

(Living Agreement heißt, dass die Parlamente nur einmal über das Abkommen abstimmen. Dabei stimmen sie dann einem Passus im Abkommen zu, der vorschreibt, dass ein Gremium geschaffen wird, das den Vertrag ohne Zustimmung der Parlamente „weiterentwickeln“ kann. In diesem Gremium, das regulatorischer Rat, Regulatory Coordination Council, heißt, sollen Wirtschaftslobbyisten sitzen.)

Es darf keine Entdemokratisierung durch Selbstentmachtung der Parlamente beiderseits des Atlantik geben.

2. Die internationalen Schiedsgerichte, die über Verstöße gegen das TTIP urteilen, müssen ordentliche Handelsgerichtshöfe mit demokratischer Legitimation sein.

(Im Moment sind die internationalen Schiedsgerichte, die es im Rahmen anderer Freihandelsabkommen schon gibt, zusammengesetzt aus drei Anwälten für internationales Handelsrecht, einer vertritt den Kläger, zum Beispiel einen Konzern oder Investor, einer den beklagten Staat und die beiden wählen einen dritten Anwalt aus, der dadurch Richter wird. In diesem lukrativen Rahmen können private Kläger Staaten auf Milliarden Schadensersatz verklagen, wenn diese ihre Gesetze ändern, wie zum Beispiel beim deutschen Atomausstieg, wegen dem Vattenfall gerade die BRD auf mehrere Milliarden Euro Schadensersatz verklagt hat.)

Weil internationale Handelsgerichtshöfe die Handlungsfähigkeit der Demokratie durch finanziellen Druck massiv einschränken können, müssen diese Gerichtshöfe demokratisch kontrolliert sein. Das bedeutet: Die Richterinnen und Richter müssen einen Senat mit mindestens 15 Personen bilden, und sie müssen im Fall des TTIP vom Europäischen Parlament, vom  Rat der Europäischen Union, vom Europäischen Rat und vom amerikanischen Kongress und Senat eingesetzt und von den beteiligten Staaten auch bezahlt werden. So ist eine unabhängige Justiz im Sinne der Bürgerinnen und Bürger möglich. In Anbetracht der Milliardenbeträge, um die es bei den Klagen geht, sind die Ausgaben dafür zu verschmerzen.

Außerdem muss es vertraglich geregelte Verfahren und Revisionsmöglichkeiten geben, also auch mehrere Instanzen. Das sind rechtsstaatliche Grundstandards.

Nachdem ich den Modell-Investitionsschutzvertrag von Markus Krajewsky gelesen habe, bin ich zudem der Meinung, dass Konzerne oder andere Investoren, die Staaten verklagen, zuerst vor nationalen Gerichten klagen müssen, und erst in späteren Berufungsverfahren letztendlich dann vor dem internationalen Handelsgerichtshof klagen dürfen. Ich kann nicht ganz einsehen, warum ich als Bürger den ganzen Instanzenweg beschreiten muss, bis ich vor dem Europäischen Gerichtshof klagen darf, Konzernen und Investoren aber diese juristische Ochsentour erspart bleiben soll.

3. Es darf keine Absenkung von Standards geben, die den Menschen dienen, etwa im Arbeitsrecht und der Wirtschaftsdemokratie, beim Verbraucherschutz, bei den Sozial- und Umweltstandards und den Regeln für den Finanzsektor. Und zwar weder in den USA, noch in der EU, noch in Kanada.

So. Ich bin bereit, eine Partei zu wählen, die unter genau diesen Bedingungen für das TTIP eintritt. Und zwar, obwohl ich attac-Mitglied bin. Ich fürchte nur, die Responsivität der EU-Regierung und der Regierung Deutschlands ist so defizitär, dass sie  auf einen vernünftigen Kompromissvorschlag nicht eingehen werden, einfach, weil die Lobby für das TTIP so mächtig ist. Damit will ich sagen: Die Regierungen hören im Bezug auf ihre neoliberale Deregulationspolitik den Menschen nicht zu und sie handeln in diesem Kontext auch nicht im Interesse der Zivilgesellschaft. Schade, Scheiße, um mit Fanny Van Dannen zu sprechen.

Über den Genuss daran, von Musik überwältigt zu werden

Ich habe vor einigen Tagen das Konzert D-Dur Nr. 77 von Johannes Brahms in der Interpretation von Yehudi Menuhin gehört. Ich hatte schon lange keine klassische Musik mehr gehört, weil mir das immer zu anstrengend war mit den vielen Instrumenten im Orchester und der unglaublichen Fülle und Wucht dieser sinfonischen Werke. Außerdem gibts da keine klare Struktur von Strophe, Refrain und Bridge wie in der Pop-Musik und ich blicke nie durch, wie das Thema entwickelt wird und erkenne keine Strukturen und bin ehrlich gesagt auch zu faul dazu, mir die nötige Kultur anzueignen, um zu verstehen, was Beethoven, Brahms und Bruckner da eigentlich genau machen in ihren Kompositionen.

Aber nun hatte mir mein Vater diese Menuhin-CD geschenkt und in einer ruhigen Minute habe ich mich der Musik überlassen. Und war überwältigt. Und das hat sich gut angefühlt.

Jetzt bin ich ziemlich verdutzt, weil ich keine Ahnung habe, wieso ich das manchmal genieße, wenn mich etwas überwältigt. Konkret sah das bei Brahms so aus, dass ich auf meinem Sofa saß und geweint habe, weil ich gleichzeitig Trauer, Sehnsucht, Freude und Erleichterung empfunden habe. Das ist auch verrückt, weil das Emotionen sind, die normalerweise nacheinander auftreten. Und sich scheinbar auch gegenseitig widersprechen. Die Erleichterung ist am einfachsten zu erklären: Es war unglaublich entlastend, mich nicht mehr selbst kontrollieren zu müssen. Die ganzen Emotionen, die Brahms, Menuhin und die anderen Musiker*innen in mir hervorgerufen haben, haben nämlich die Wächter in meinem Geist, die Rationalität, die Reflexivität und den bewussten Willen, einfach weggespült. Gleichzeitig haben mir die Rhythmen, Harmonien und die Strukturen der Musik einen orientierenden Rahmen gegeben, und dadurch hat mir der Kontrollverlust keine Angst gemacht (was mir Kontrollverlust normalerweise ziemlich sicher macht).

Das ist wohl eine Erfahrung, die Herbert Marcuse als eine spielerische Andeutung nicht-entfremdeten Lebens gesehen hätte. Daher kommt, denke ich, das Gefühl der Sehnsucht, der Freude und der Trauer: Die Musik gab mir eine Idee, wie das Leben in einer zukünftigen Gesellschaft sein könnte, in der sehr viele unterschiedliche Menschen mit Eigenheiten trotzdem harmonisch zusammen leben und gemeinsam etwas Schönes schaffen. Und die Trauer und die Sehnsucht kommen aus dem Bewusstsein, dass ich in dieser Gesellschaft noch nicht lebe, und dass das oft schmerzt.

Die Frage ist nur: Kommen wir zu einer solchen besseren Gesellschaft, wenn wir dauernd Lust dabei empfinden, uns überwältigen zu lassen? Das kommt nämlich ziemlich oft vor, öfter, als man denkt. Einige Beispiele aus meiner eigenen Erfahrung: wenn ich die Szene in „Last Samurai“ mit Tom Cruise anschaue, wo das Heer der Samurai, die sich den Traditionen des alten Japan verschrieben haben, von den Maschinengewehren der japanischen kaiserlichen Armee niedergeschossen wird. Wenn ich auf Demonstrationen in Sprechchöre einstimme, wo wir alle das gleiche brüllen, wie zum Beispiel „This is what democracy looks like“. Wenn ich beim Karate die Anweisungen meines Lehrers genauestens befolge.  Wenn ich auf der Arbeit meine Rolle als Lehrer vollkommen korrekt ausfülle, wenn ich auf einem Konzert von den Hellacopters poge. Wenn ich total verliebt bin mit Haut und Haaren. Wenn ich am Meer den Sonnenuntergang sehe. Das sind alles Momente, in denen ich von etwas überwältigt bin, was irgendwie größer und mächtiger ist als ich, und obwohl ich meine Freiheit liebe, finde ich diese Überwältigung schön. Das ist doch irgendwie seltsam.

Bei anderen Leuten nimmt dieselbe Lust andere Formen an: Eine Freundin hat mir kürzlich erzählt, dass Christen einen Stand in Marburg gemacht haben, und in einer Anleitung zum Beten, die sie da verteilt haben, stand die Gebetsvorlage „Lieber Gott, verzeih mir, dass ich mein Leben selbst bestimmt habe.“ Ich stelle mir vor, dass es vielen Menschen irgendwie dieselben Gefühle der Freude, Erleichterung, Trauer und Sehnsucht macht, so zu beten, die es mir macht, Brahms zu hören. Der Unterschied ist nur, dass ich da kein Lebensprogramm draus mache und nicht von mir verlange, dass ich dauernd in Demut alles akzeptiere, was das Leben so mit sich bringt. Brahms würde das sicher auch nicht von mir fordern, ich denke, für Brahms wäre es ok, wenn ich stinksauer bin, weil zu wenig Geld in die Schulen fließt und ich in schadhafter Infrastruktur zu große Oberstufenkurse unterrichten muss, während Hedgefondmanager ihre gigantischen Profite nicht versteuern müssen.

Aber eins ist auch klar: Diese Idee, die Welt, die Natur, die anderen Menschen und unsere Gefühle und unsere Körper seien mit der richtigen Technik und Strategie komplett kontrollierbar und verfügbar, die uns manchmal leitet, wenn wir an einem besseren Leben arbeiten, die ist auch einseitig und illusorisch. Das heißt, die Lust an meiner eigenen Überwältigung kann die Lust an einer Wahrheit sein, die ich manchmal vergesse: Dass ich es sehr oft nicht in der Hand habe, wie mein Leben verläuft. Ich kann meine Oberstufenkurse nicht auf 15 Leute verkleinern. Und ich kann die Hedgefondmanager nicht besteuern.

Deshalb werde ich jetzt bestimmt nicht um Verzeihung dafür bitten, dass ich die Freiheit, die mir dieses Leben gibt, so nutze, wie ich das für richtig halte. Ich werde bestimmt nicht Demut an die Stelle von Autonomie setzen, um dann am Ende in einer Art innerem Mittelalter zu landen und mich mit Freude für meine Sünden geißeln zu lassen. Nein, vielen Dank. Aber die Wahrheit, die in meinem Brahmserlebnis steckt, ist für meine Freiheit keine Gefahr, sondern eine Chance. Denn sie hilft mir, mich nicht zu verschätzen, was meine Macht und meine Selbstbestimmungsfähigkeit angeht. Danke, Johannes Brahms, Danke, Yehudi Menuhin. Wenn ich einen Hedgefondmanager kennen würde, würde ich ihm die CD mal schicken.