Herz statt Merz – auf der Marburger Demo gegen die CDU-Migrationspolitik

Ich war nicht so sicher, ob ich gestern um 18:00 zur Demo gegen die CDU-Gesetzespläne gegen Migration, denen auch die AfD zugestimmt hat, gehen sollte. Ich bin für Gespräche und gegen Fronten in der Gesellschaft. Aber ich habe dann gelesen, dass Merz das Asylrecht faktisch so einschränken will, dass es kaum noch jemand in Anspruch nehmen könnte. Also bin ich trotzdem hingegangen, weil das ein Kern-Grundrecht im Grundgesetz ist.

Wir liefen ganz am Schluss der Demo durch die Frankfurter Straße, als uns drei kleine Jungen ansprachen, ich schätze, sie waren 11 oder 12 Jahre alt. Einer fragte uns: „Worum geht es denn hier?“ Ich antwortete: „Wir protestieren gegen die MIgrationspolitik der CDU.“ Da sie das nicht genau verstanden, erklärte Ihnen meine Freundin, was das heißt. Der Junge bekam große Augen: „Dann geht es darum, dass ich hierbleiben kann?“ Sein einer Freund sagte: „Wir kommen aus einem anderen Land!“ Der dritte Junge in der Mitte darauf freudig: „Ich habe einen deutschen Pass!“, der erste: „Echt? Cool!“ und zu mir: „Also geht es gegen die AfD?“ Ich: „Ja!“ Er darauf: “ Dann ist das ja eine gute Parade! Dürfen wir mitlaufen?“ Ich (um Fassung ringend): „Ja klar! Aus welchem Land kommt ihr denn?“ Der erste antwortete: „Aus Russland!“, der zweite mit dem deutschen Pass: „Aus Kirgistan.“ Sie liefen eine Weile mit. Später kamen sie uns entgegen, die Demo verlassend, und ich rief ihnen zu: „Tschüss!“ Der erste Junge aus Russland grüßte und rief: „Tschüss! Danke, dass ich hierbleiben darf!“

Von dem Moment an hatte ich keinen Zweifel mehr, dass es richtig war, auf der Demo mitzulaufen.

Auf dem Schild steht „Ornithologische Aktion“ – Marburg, Demo gegen die Zusammenarbeit der CDU mit der AfD am 31.1.2025, Frankfurter Straße.

Der Kapitalismus als sich selbst vernetzendes Netz

Eine Frage an Dich: Ist es Dir wichtiger, das System von Wirtschaft und Gesellschaft zu verstehen, oder wichtiger, die Strategien von Menschen und Klassen und großen Gruppen (wie „dem Proletariat“ als Protagonist der Geschichte und „der Bourgeoisie“ als Antagonist) zu verstehen? Ich glaube, es ist wichtiger, zuerst das System zu verstehen und danach die Akteure, die in seinem Rahmen agieren. Denn wer die Spielregeln eines Spiels nicht versteht, versteht auch nicht richtig, was die Spieler* auf dem Feld eigentlich genau machen und warum sie es tun. Zum Verständnis der Spielregeln des kapitalistischen Systems soll dieser Text einen Beitrag leisten.

Im Marxismus gibt es die klassische Formulierung, das Kapital sei ein „sich selbst verwertender Wert“. Ich habe darüber nachgedacht und mir eine Ergänzung dieses theoretischen Konzepts ausgedacht: Für die Gesellschaftsanalyse könnte es nützlich sein, den Kapitalismus als ein sich selbst vernetzendes Netz zu verstehen.

Wenn ich mir die klassische Definition vom „sich selbst verwertenden Wert“ genauer anschaue, steckt dahinter das Bild, der Kapitalismus als System habe im Zentrum diese fast mathematisch beschreibbare Funktion: Aus einem Wert (z.B. einem Kapital in Form des Eigentums an Maschinen) wird mithilfe der Arbeitskraft einer gegen Lohn angestellten Arbeiter*in ein Mehrwert erzeugt, der Gewinn daraus wird zu dem ursprünglichen Kapital addiert und ergibt dadurch einen zweiten Wert, nämlich das im ganzen Prozess um eine bestimmte Größe gewachsene Kapital. Mathematisch gesagt wird also ein Input – Wert (Kapital 1, auch „g“ genannt) durch eine bestimmte Funktion (Produktion und Verkauf einer Ware) auf einen durch diese Funktion genua bestimmten Output – Wert abgebildet (Kapital 1+ Gewinn = Kapital 2, auch g’ genannt).

Ein sich selbst vernetzendes Netz macht jetzt in meiner Metapher mehr als das: Ein Wert, der als Information in ein Netz von Funktionen statt in eine einzelne Funktion eingespeist wird, bildet sich, wenn er einen Netz-Knoten durchläuft, von dem mehrere andere Netzverbindungen zu anderen Knoten abgehen, gleichzeitig auf mehrere andere Werte ab (die Outputs, die jeweils spezifisch über die jeweilige Verbindung an die anderen Knoten weiterlaufen). Ein Impuls durchläuft das Netz so auf multiplen Funktions-Wegen und erzeugt multiple weitere Informationsflüsse (von Werten). Im konkreten Fall ist der Lohn der Arbeiter*in zum Beispiel ein solcher Wert, aber auch der Kredit, der von der Firma für den Kauf der Maschine bei einer Bank aufgenommen wurde, und die Information, die über den Markt beim Kauf der mit der Maschine produzierten Ware an eine Konkurrenzfirma weitergegeben wurde, weil das Produkt statt deren Konkurrenzprodukt gekauft wurde, was sich auf deren Gewinn auswirkt.

Mit Selbst-Vernetzung des Kapitalismus meine ich, dass ein konkretes „Kapital“ (wie das Eigentum an bestimmten Maschinen) einen Knoten im Netz des Kapitalismus bildet, das sich durch immer mehr neue Knoten (zum Beispiel Unternehmen, Konzerne, Privatvermögen, Geldinstitute und ökonomische Privilegien von Gruppen und Personen) ausdehnt, dabei immer mehr Verbindungen zwischen weit entfernten Elementen des Netzes bildet und die nah beieinander liegenden Knoten dichter verflechtet, wodurch der Impuls, den ein Wert als Input in das Netz gibt, über immer mehr gleichzeitig ablaufende Funktionen auf immer mehr andere Werte im Netz abgebildet wird.

Wer sich ein bisschen in der Kognitionsbiologie auskennt, hört sicher schon die Nachtigall trapsen: Meine Metapher ähnelt stark den kognitionsbiologischen Modellen von neuronalen Netzen. Lernen heißt dann in dieser Metapher für den Kapitalismus, dass dessen Netz auf Umwelteinflüsse (zum Beispiel Entscheidungen von Menschen, neue Gesetze in Staaten oder Überschwemmungen) reagiert, indem bestimmte Verbindungen zwischen bestimmten Knoten des Netzes verstärkt werden (der Input – Wert also schneller und leichter zu einem Output-Wert über die gestärkte Verbindung führt) und andere Verbindungen geschwächt oder abgebaut werden (diese Verbindungen also einen Input – Wert kaum oder gar nicht mehr weitergeben). Das können Pleiten oder das Schrumpfen von Firmen und Banken oder ein zahlungsunfähiger Staat sein.

Dass der Kapitalismus als Kommunikationsstruktur durch die Selbst-Vernetzung schneller lernt und Informationen global und regional schneller weitergegeben werden, wäre eigentlich ein hoffnungsvoller Befund – es ist nur so, dass dieses Lernen scheinbar primär dem Überleben und Wachsen des Kapitalismus selbst dient und nicht dem Überleben und dem guten Leben aller Menschen weltweit. Das Lernen und Selbst-Vernetzen des Kapitalismus verbessert unsere Gesellschaft deshalb nur, insoweit es für dessen eigenes Lernen und Wachsen notwendig und nützlich ist. Wenn andere Kommunikationsstrukturen, zum Beispiel die Machtprozesse in Demokratien, mit seinen Zielen in Konflikt kommen, lernt er als Netz von Funktionen durch seine Selbst-Vernetzung dann leider aber auch immer schneller, den Einfluss von Demokratie auf das menschliche Zusammenleben und die Natur zurückzudrängen. Das Ergebnis sind dann zum Beispiel Steuersenkungen für die Kapitaleigner und parallel dazu Schuldenbremsen, die die öffentliche Infrastruktur zum Beispiel in den Bereichen Wohnen, Verkehr, Bildung, Gesundheit, Verwaltung und Medien langsam erodieren, während gleichzeitig Menschen, nicht-menschliche Lebewesen und die Ökosysteme schutzlos dem Kapital zur Ausbeutung überlassen werden, indem zum Beispiel die Klimaziele ausgesetzt werden und das Tariftreuegesetz nicht zustandekommt.

Falls sich die vernünftigen Personen in der FDP jetzt einseitig marxistisch angegriffen fühlen: Ich möchte mit diesen Argumenten nicht für einen Angriff auf den Kapitalismus werben, sondern dafür, das Kommunikationsnetz des Kapitalismus davor zu schützen, dass es seine eigenen Existenzbedingungen zerstört. Denn es hat materielle und kommunikative Existenzbedingungen, die es nicht selber schaffen kann. Wenn Straßen und Datenkabel um eine Firma herum durch Überschwemmungen zerstört sind, kann das tollste Produkt ihr keinen Gewinn mehr bringen, weil sie es an niemanden verkaufen kann, nicht mal die Information darüber, dass es existiert, erreicht irgendjemanden. Wenn das Gesundheitssystem kaputt ist, wird es nicht genug Arbeitskraft geben, um die Maschinen und Rechner zu warten und zu bedienen, die zur Gewinnerwirtschaftung nötig sind, und die Funktionen werden gestoppt. Wenn das Bildungssystem kaputt ist, wird niemand mehr die Kommunikationen im Netz des Kapitalismus verstehen und es werden massenweise Fehlerimpulse eingespeist. Wenn die Demokratie nicht mehr funktioniert, oder auch nur viele Menschen glauben, dass sie nicht mehr funktioniert, wird es Aufstände geben, und Aufstände sind schlecht fürs Geschäft, außer natürlich für die Geschäftsmodelle Diebstahl und Raub. Das sind zwar auch Impulse, die ins Netz gegeben werden, aber sie führen zu einer Art informationellem Nullsummenspiel, bei dem ein Plus durch ein Minus eliminiert wird und am Ende gar keine Informationsverarbeitung mehr stattfindet. Das System hört dann auf, zu lernen. Und so kapitalismuskritisch ich auch denke: Wir haben im Moment keine alternative Kommunikationsstruktur, die das lernende Netz des Kapitalismus in seinen Funktionen für die Menschen weltweit adäquat ersetzen kann. Karl Marx möge mir verzeihen.

Angriff auf die Freiheit

Warum Geschlechtervielfalt für die Rechtsextremen so ein zentrales Problem ist

Die postfaschistische Regierung von Giorgia Meloni greift Aufklärung über Genderfragen in Schulen an. (Taz vom 12.-18.10.2014, Nr. 101; S.5) Die rechtsextreme AfD, rechtspopulistische und faschistische Organisationen sind sich einig, dass das bloße Wissen über Geschlechtervielfalt uns schon dem Weltuntergang näher bringt. Warum eigentlich? Es ist doch nur eine relativ kleine Minderheit von Menschen, die trans*, inter* oder nicht-binär sind oder eine andere nicht ins Mann-Frau Schema passende Geschlechtsidentität haben. Das einzige echte Ziel, was die Autoritären haben, die Macht, ließe sich in einer Mehrheitsdemokratie doch auch locker gegen diese kleine Gruppe und ihre Unterstützer*innen aus den liberalen, linken und progressiven Lagern erreichen.

Ich habe bisher gedacht, dass Genderwissen deshalb bekämpft wird, weil es den Rechtsextremen die Tür zu weiten Teilen der bürgerlichen Mitte öffnet: Auch viele Konservative haben starke Aversionen gegen Formen geschlechtergerechten Sprechens und reagieren empfindlich auf die Brüche tradierter Konventionen in der Geschlechterordnung. Ich habe bisher gedacht, dass die Rechtsextremen dies bloß strategisch ausnützen, um die konservative Mitte in ihre Bündnisse einzubinden.

Inzwischen denke ich, dass das zwar stimmt, aber nur die halbe Wahrheit ist: Die andere Hälfte ist, dass Geschlechterkonventionen nicht nur irgendwelche Konventionen unter anderen sind (zum Beispiel der Konventionen, höflich und respektvoll miteinander zu sprechen), sondern die wichtigsten Konventionen für zwischenmenschliche Beziehungen. Wie wir mit anderen in Beziehung gehen, welche Art Beziehung mit wem überhaupt möglich ist, wie diese Beziehung definierbar ist, all das wird von der Geschlechterordnung gerahmt.

Trans*- und nicht-binäre Menschen machen wahrnehmbar, dass wir viel mehr Möglichkeiten haben, diese Beziehungen zu gestalten, als die starre Ordnung uns zu denken erlaubte. Dies müssen die Autoritären bekämpfen, weil es ihre Denkstruktur zentral in Frage stellt, nämlich die Denkstruktur, dass Freiheit eine Gefahr ist und dass Macht, Zwang, Disziplin und Autorität nötig sind, um diese Gefahr zu bannen.

Nun haben die Autoritären in einem Punkt tatsächlich recht: Freiheit ist prinzipiell gefährlich. Mit den Worten von Niklas Luhmann: Mit mehr Freiheit steigert sich auch die doppelte Kontingenz von Begegnungen. Ich weiß nicht, was Du tun wirst und Du weißt nicht, was ich tun werde. Ich weiß auch, dass Du das alles weißt und vice versa, was den Verlauf und das Ergebnis der Interaktion hochkomplex und unberechenbar macht. Jede kennt das aus ihrem Alltag, du denkst, du kannst voraussehen, was die Mitbewohnerin mit dem Gartengrundstück macht, und dann kommst du aus dem Urlaub wieder und der von dir gepflanzte Estragon ist durch Salat ersetzt. Du wirst wütend, womit wieder deine Mitbewohnerin nicht gerechnet hat. Es stellt sich raus, dass gar nicht geklärt war, wer wie entscheidet, was in dem Beet gepflanzt wird. Doppelte Kontingenz nervt.

Klassischerweise lösen wir solche Probleme mit Kommunikation – und oft klappt das auch ganz gut. Wenn aber eine gemeinsame Sprachkonvention fehlt, klappt auch das nicht fehlerfrei, weil wir immer übersetzen müssen, und beim Übersetzen, dass weiß jede noch aus dem Englischunterricht, passieren noch leichter Fehler, als beim Reden in einer gemeinsamen Sprache sowieso schon. Deshalb werden gendergerechte Sprechweisen als so bedrohlich wahrgenommen, weil sie scheinbar der Kommunikation den Boden für die Bewältigung doppelter Kontingenz entziehen.

Übersetzungsfehler lassen sich aber erkennen und klären, das braucht nur Zeit. Ich denke, wir sollten unsere Kommunikation zuallererst entschleunigen und akzeptieren, dass es Zeit braucht, sich zu verstehen. Das ist sowieso immer so, und wenn wir freier werden und sich deshalb viele unterschiedliche Lebensweisen entwickeln, noch viel mehr. Wenn Konservative und Progressive sich ohne Zeitdruck in gegenseitiger Toleranz und Akzeptanz über Geschlechterfragen austauschen, können wir sicher die meisten Missverständnisse aufklären und zu einem gegenseitigen Verständnis finden, das uns zumindest erlaubt, sicher und ohne Angst in einer Gesellschaft zusammenzuleben.

Wie sich als deutscher Linker zum Gaza Krieg positionieren?

Lange Zeit habe ich innerlich meine Position zum Krieg in Gaza so bestimmt: Die Regierung Netanjahu ist rechtsreaktionär bis rechtsextrem und zusammen mit der terroristischen fundamentalistisch-islamistischen Hamas-Führung schuld an dem Leid der Menschen in Israel, Gaza und im Westjordanland.

Dann habe ich mich aber gefragt, warum Benjamin Netanjahu diese Politik macht, und den Wikipedia-Artikel über ihn gelesen. Dabei bin ich auf folgende Informationen über seinen Bruder, Yonatan Netanyahu, gestoßen:

Yonatan Netanyahu wurde am 4.7.1976 in Entebbe, Uganda, getötet.

„Als Oberstleutnant war er Kommandeur der Spezialeinheit Sajeret Matkal, die von Israel zur Befreiung der zum größten Teil israelischen Geiseln palästinensischer Terroristen der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) und zweier deutscher Terroristen der Revolutionären Zellen entsandt wurde. Während dieser Operation in Entebbe, Uganda, wurde er als einziger israelischer Militärangehöriger während der Befreiungsaktion getötet.“ (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Jonathan_Netanjahu; abgerufen am 21.8.2024)

„Die Operation Entebbe, Operation Thunderbolt oder Operation Yonatan (Mivtsa Yonatan) war eine militärische Befreiungsaktion in der Nacht zum 4. Juli 1976 auf dem Flughafen von Entebbe in Uganda, mit der israelische Sicherheitskräfte die einwöchige Entführung eines Passagierflugzeugs der Air France durch palästinensische und deutsche Terroristen beendeten.

Die israelischen Elitesoldaten wurden unerkannt nach Entebbe eingeflogen, wo sie sich insgesamt nur 90 Minuten aufhielten. 102 überwiegend israelische Geiseln, einschließlich der Air-France-Besatzung, wurden schließlich mit einem Zwischenstopp in Kenia nach Israel ausgeflogen. Bei der Befreiungsaktion wurden alle sieben anwesenden Geiselnehmer getötet. Drei der zuletzt noch 105 Geiseln, etwa 20 ugandische Soldaten sowie der Oberstleutnant Jonathan Netanjahu der israelischen Einsatzkräfte kamen bei Feuergefechten ums Leben. Die in einem Krankenhaus der nahen Hauptstadt Kampala verbliebene Geisel Dora Bloch wurde später von ugandischen Offiziellen entführt und ermordet.“ (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Entebbe; abgerufen am 21.8.2024)

Ich habe in den letzten Monaten viele Gespräche über den Krieg in Gaza mit Freund*innen mit palästinensichen Wurzeln und auch mit linken deutschen Freund*innen geführt. Die deutsche Linke ist, nicht nur in ihren radikalen Teilen, mit dem Israel-Palästina-Konflikt auf eine Weise verwoben, die uns eine gerechte Haltung zum Krieg historisch fast unmöglich macht. Joschka Fischer zum Beispiel war in den 60er Jahren Mitglied des „Revolutionären Kampfes“, in dem auch spätere Mitglieder der „Revolutionären Zellen“ waren. Er nahm 1969 an einer Konferenz zur Unterstützung der PLO in Algier teil. (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Joschka_Fischer#Politische_Militanz, abgerufen am 21.8.2024).

Nachdem Joschka Fischer die Grünen von ihrem Grundsatz der Gewaltfreiheit wegbewegt und die Bundeswehr im Kosovokrieg und im Afghanistankrieg zum Einsatz gebracht hat, hat er schließlich eine politisch richtige Entscheidung getroffen: „I must say, I am not convinced.“ sagte er 2003 im Weltsicherheitsrat, als US-Außenminister Colin Powell falsch behauptete, der Irak habe Massenvernichtungswaffen, um den militärischen Angriff auf den Irak zu rechtfertigen. (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Irakkrieg#Politische_Entscheidungen, abgerufen am 21.8.2024)

Personen in Führungspositionen haben auch biographische Gründe, die Entscheidungen zu treffen, die sie treffen. Und diese biographischen Gründe sind mit meinen eigenen in einer Weise verwoben, die „Neutralität“ für mich zu einer unmöglichen Aufgabe machen. Meine politische Sozialisation wurde von meinen 68er-Eltern und den jungen Grünen in den 1990er Jahren geprägt.

Ich kenne Menschen in Israel und Menschen, die Verwandte in Palästina haben. Die einzige Position, die ich wirklich klar und eindeutig formulieren kann, ist: Ich will, dass das Töten und die strukturelle Gewalt sofort aufhören. Ich denke, dass es ein Fehler Fischers war, den grünen Grundsatz der Gewaltfreiheit im Kosovo-Krieg und im Afghanistan-Krieg aufzugeben.

Ich glaube nicht, dass es für das Stoppen der Gewalt im Moment eine hilfreiche Strategie ist, jemandem Schuld zuzuweisen. Wenn wir das wirklich tun wollen wollen, müssen wir ein so komplexes Geflecht persönlicher, familiärer und sozialer Beziehungen analysieren, dass noch viel mehr Menschen getötet werden, während wir das zu tun versuchen. Die Frage nach der Schuld sollte dann gestellt werden, wenn das Töten und die strukturelle Gewalt gestoppt sind. Ich weiß aber nicht, wie das gelingen kann. Meine Hoffnung sind Gespräche und Abkommen.

Ich trauere um alle getöteten Menschen. Was würden sie in unseren Gesprächen heute sagen, wenn sie an ihnen teilnehmen könnten?

Warum Rechtspopulismus zum Desaster führt – eine evolutionssoziologische Hypothese

Ich lese gerade nach einem Impuls einer befreundeten Meeresbiologin das Lehrbuch „Essentials of Ecology“ von Townsend et al. Das ist für einen Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler wie mich außerordentlich lehrreich, weil es meine Konzepte von Wissenschaft in Bewegung bringt. Da bin ich natürlich gar nicht besonders originell, sondern in ehrwürdiger Tradition: Niklas Luhmann hat zum Beispiel wesentliche Elemente seiner soziologischen Theorien den Naturwissenschaften entlehnt, sein Konzept der Autopoeisis (Selbsthervorbringung) von Systemen stammt aus der Kognitionsbiologie von Maturana und Varela. Ein weiteres naturwissenschaftlich inspiriertes Element seiner Soziologie ist die Hypothese, dass Gesellschaften sich durch Evolution und nicht durch Revolution entwickeln.

Ich will aus diesen Annahmen eine Erklärung herleiten, warum Rechtspopulismus eine zwar verstehbare, aber zugleich falsche und destruktive Reaktion auf die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte ist.

Zuerst will ich erklären, wieso Luhmann seine Hypothese der Evolution von Gesellschaften entwickelt hat. Nach Luhmann ist einer der wichtigsten evolutionären Schritte der Entwicklung von Gesellschaften der letzten 300 Jahre die Entwicklung von stratifikatorischen (absolutistischen) Gesellschaften zu funktional differenzierten Gesellschaften. Am Beispiel des Verhältnisses von Wirtschaft und Politik erklärt bedeutete dieser Evolutionsschritt: Vorher war die Wirtschaft und die Politik eines Landes auf das Zentrum des Königshauses hin organisiert. Im absoluten Herrscherhaus liefen sowohl die Fäden der Macht, als auch des Geldes zusammen und von diesem Zentrum aus wurden die ökonomischen und politischen Entscheidungen für die Gesellschaft organisiert. Im Absolutismus war also der König die Sonne und deren Strahlen organisierten die umliegende Gesellschaft politisch und wirtschaftlich (um mal ein bekanntes herrschaftsverbrämendes Bild zu zitieren).

Im Gegensatz zu anderen Gesellschaftswissenschaftlern sieht Luhmann es nicht so, dass 1789 durch die Revolution in Frankreich diese Gesellschaftsform willentlich und bewusst vom französischen Volk abgeschafft wurde, um eine neue, die bürgerliche Demokratie, an ihre Stelle zu setzen, sondern die Gesellschaft hat sich eigenlogisch so entwickelt, dass aus einem Zentralsystem einzelne, voneinander abgegrenzte Teilsysteme entstanden sind, die jeweils einzelne Funktionen für die Gesamtgesellschaft erfüllen. Das nennt Luhmann „funktionale Differenzierung“. Die Politik als Teilsystem der Gesellschaft habe nach diesem Entwicklungsschritt die Funktion übernommen, für die Gesellschaft kollektiv bindende Entscheidungen zu generieren. Die Wirtschaft als Teilsystem habe die Funktion übernommen, die Gesellschaft mit knappen Gütern zu versorgen, zum Beispiel mit Nahrungsmitteln (im Gegensatz zu relativ frei verfügbaren Gütern wie Luft, wofür die Gesellschaft erstmal kein System braucht). Die neue Gesellschaft hatte dann anstelle eines einzigen Systems parallel die demokratischen Institutionen und davon unabhängig den Markt und die Ökonomie.

Diese Funktionssysteme schließen sich nach Luhmann gegeneinander ab, indem sie ein jeweils eigenes Kommunikationsmedium für ihre Kommunikationen verwenden und einen jeweils eigenen Code. Das politische System kommuniziere im generalisierten Kommunikationsmedium Macht und im binären Code „Regierung-Opposition“. Alles, was keinen Einfluss auf die Machtverhältnisse habe (also dafür, wer regiert und wer opponiert), sei für das politische System nicht beobachtbar und kommunizierbar. Das Wirtschaftssystem dagegen kommuniziere im Medium Geld und mit dem Code „Zahlung-Nichtzahlung“. Es könne daher nur beobachten und kommunizieren, was in diesem Code beschreibbar sei. Um das an einem fiktiven Beispiel zu erklären: Wenn die Regierung der BRD beschlösse, dass ab jetzt im Straßenverkehr bei roten Ampeln gefahren würde und bei grünen Ampeln stehenzubleiben sei, dann wäre das für die Wirtschaft egal, weil es keinen im Medium Geld kommunizierbaren Unterschied machen würde. Die Ampeln könnten alle bleiben wie sie sind, der Staat müsste keine neuen installieren, es würde nichts kosten und auch keinen Gewinn bringen, deshalb würde das Wirtschaftssystem darauf gar nicht reagieren.

Die Bürger*innen würden allerdings furchtbar wütend werden, weil sie sich mühsam umgewöhnen müssten, und würden die Regierung wahrscheinlich abwählen, weil die Aktion nur Mühe und Gefahren und keinen Sinn machen würde. Also wäre das im Medium Macht relevante Information.

So funktioniert nach Luhmann funktionale Differenzierung. Ein weiteres gesellschaftliches Teilsystem neben Wirtschaft und Politik ist zum Beispiel Wissenschaft. Auch sie hat einen eigenen Code (wahr/falsch).

Jetzt habe ich mir die Frage gestellt, warum sich diese Gesellschaft von mehreren Funktionssystemen evolutionär gegen die stratifikatorische Gesellschaft mit einem Zentrum durchgesetzt hat. Wenn ich den Gedanken der Evolution ernst nehme, dann müssen die funktional differenzierten Gesellschaften ja Selektionsvorteile gegenüber zentralisierten Gesellschaften haben, sonst würden sie sich in der Evolution nicht durchsetzen.

Vielleicht hilft bei der Beantwortung dieser Frage wieder die Evolutionsbiologie. In dem Essentials Buch wird der Begriff „community“ für das verwendet, was ich früher noch als „Ökosystem“ gelernt habe: Als „community“ bezeichnen Evolutionsbiolog*innen eine Art Lebensgemeinschaft von Organismen verschiedener Spezies, die in einem bestimmten Raum zusammenleben und miteinander in Interaktion (Konkurrenz, Ergänzung oder gegenseitige Unterstützung) stehen. In diesem Sinne sind zum Beispiel alle Organismen, die in den Alpen leben, eine community. (Ich werde im Folgenden „community“ mit „Gemeinwesen“ übersetzen).

Jetzt kann ich mir die Frage stellen, welchen Evolutionsvorteil Gemeinwesen mit funktionaler Differenzierung gegenüber Gemeinwesen haben, die auf ein einziges Zentrum ausgerichtet sind, also in der Metapher eine zentrale Spezies, sagen wir: Die alpine Fichte. Offensichtlich ist ein Gemeinwesen, das auf eine einzige Spezies ausgerichtet ist, genauso stabil, wie es diese Spezies ist. Wenn sich Umweltbedingungen so ändern, dass diese Spezies nicht mehr gut überleben kann, ist das ganze Gemeinwesen in Gefahr, unterzugehen, sagen wir: Durch die Klimaerwärmung. Gibt es aber andere Spezies, ist das Gemeinwesen also differenziert und diversifiziert, im Bild: Gibt es Douglasien, Kiefern und Lärchen zusätzlich zur Fichte, können die anderen Spezies Ausfälle der Systemleistungen, die die Fichte erbracht hatte, kompensieren. Die Lärche würde sich nach meinem biologischen Laienwissen wahrscheinlich nicht durchsetzen, aber Douglasien und Kiefern könnten sich auf Standorte geschädigter Fichte-Populationen ausbreiten. Das Gemeinwesen ist dann stabiler gegenüber Stress durch sich verändernde Umweltbedingungen und kann sich besser an sie anpassen, als ein Gemeinwesen, in dem es nur die Fichte gibt. Dadurch setzen sich in der Evolution tendenziell funktional differenzierte, diversifizierte Gemeinwesen gegenüber solchen durch, die arm an Spezies und zentralisiert sind. Der entsprechende Lehrsatz der biologischen Ökologie ist: Je diversifizierter ein System ist, je mehr unterschiedliche Spezies es also enthält, desto anpassungsfähiger und deshalb stabiler ist es als ganzes.

Nun komme ich zum Kern meiner Hypothese: Um die Frage zu beantworten, ob die AfD und andere rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien in Europa und den USA die richtigen Antworten auf die Krisen der Gegenwart vorschlagen, können wir diese evolutionssoziologische Analyse verwenden.

Die wichtigste Veränderung der Umweltbedingungen für die Gemeinwesen ist aus meiner Sicht seit Jahrzehnten die Globalisierung. Was passiert ist, lässt sich mit Luhmanns Konzepten so beschreiben, dass sich die wirtschaftlichen Funktionssysteme einzelner Staaten zunehmend international miteinander verzahnt haben, also aus nationalen Subsystemen ein großes internationales Wirtschaftssystem geworden ist. In einer Art Koevolution ziehen die politischen Subsysteme nach, was sichtbar wird in der Suprastaatlichkeit der EU und in den G8 und G20 Gipfeln. Es zeigt sich hier meiner Hypothese nach, dass die Funktionssysteme wie Spezies in einer community sich nicht nur funktional ergänzen, sondern zugleich auch in Konkurrenzverhältnissen zueinander stehen und einander verdrängen können. Die internationale Verzahnung der Wirtschaftssysteme stellt einen Selektionsvorteil der Wirtschaftssysteme gegenüber den weniger international verzahnten politischen Systemen dar. Die Wirtschaftssysteme transformierten sich metaphorisch gesprochen von Subsystemen der nationalen Gemeinwesen zu Umweltbedingungen für diese nationalen Gemeinwesen. Das ist ziemlich ähnlich dem, was die Spezies Mensch spätestens in den letzten 500 Jahren im Bezug auf die ökologischen Spezies-Communities gemacht hat: Unsere Spezies und unsere Gesellschaft haben sich selbst von einem Teil der ökologischen Gemeinschaften zu einem Umweltfaktor für alle ökologischen Gemeinschaften global gemacht, Die Gesellschaft der Menschen gestaltet zu einem maßgeblichen Teil heute die Umwelt für die anderen Spezies und die communities, in denen sie leben. Ein Schlüssel für diesen evolutionären Erfolg der Spezies Mensch ist genau die Globalisierung und die Verzahnung der Wirtschaftssysteme miteinander. (Karl Marx schreibt schon 1848 im kommunistischen Manifest sinngemäß: „Der Kapitalismus hat die Weltwirtschaft faktisch verwirklicht.“).

Ich denke, dass wir an einer Art Kipppunkt der sozialen Evolution der Weltgesellschaft sind. Es könnte sein, dass sich die Weltwirtschaft als Zentrum einer auf einer neuen Ebene wieder stratifikatorisch organisierten Weltgesellschaft durchsetzt und die anderen Funktionssysteme auf sich ausrichtet. Es würde sich also als nächster Evolutionsschritt eine neue stratifikatorische, zentralisierte Ordnung entwickeln zwischen den nach wie vor differenzierten Funktionssystemen. Ganz im Sinne von Luhmanns deskriptivem soziologischen Ansatz kann ich das erstmal nüchtern als mögliche nächste Phase in einer historischen Entwicklung beschreiben. Möglicherweise ist die Tendenz dazu eine Folge der Krisen von Konkurrenz und Kriegen zwischen den Nationen und dem Scheitern von Imperien, die in einem anderen globalen Gesellschaftssystem evolutionär münden. Das würde dann aber gleichzeitig bedeuten, dass die Organisationen gemeinsamer Selbstbestimmung (also die Demokratien, die politische Systeme brauchen) durch das Wirtschaftssystem entmachtet oder sogar verdrängt werden könnten.

David Salomon hat mir erzählt, dass August Bebel gesagt hat: „Der Antisemitismus ist der Antikapitalismus der dummen Kerls.“ (Ich glaube nicht, dass er so etwas vergleichsweise Väterliches auch noch gesagt hätte, wenn er Zeuge der Shoa geworden wäre.)

Parallel dazu können wir heute sagen: „Der Rechtspopulismus ist die Globalisierungskritik der dummen Kerls.“ Die Rechtspopulisten verhalten sich so, als glaubten sie, dass wir eine neue stratifikatorische Weltordnung, in der die Weltwirtschaft das Zentrum der Funktionssysteme bildet, mit wiederhergestellter nationaler Souveränität der politischen Systeme kombinieren könnten. Bezogen auf die AfD erschließt sich daraus, warum deren Parteiprogramm fordert, Sozialleistungen zu kürzen und die Oberschicht steuerlich zu entlasten, zugleich die Grenzen zu schließen und aus der EU auszutreten. Die Utopie des AfD Programms ist eine souveränere Nation Deutschland, die Reichtum durch Kapitalismus generiert, ohne auf Menschen und Nationen außerhalb der Staatsgrenzen Rücksicht zu nehmen. Um in der globalen Konkurrenz unter der Hegemonie des Wirtschaftssystems erfolgreich sein zu können, müssen deshalb logischerweise die Arbeitskosten im Land minimiert werden (also niedrige Löhne und Sozialabgaben), das Kapital konzentriert werden (also niedrige Steuern) und zugleich die internationalen Verpflichtungen des politischen Systems reduziert werden (also Rückzug aus der EU und internationalen Abkommen).

In sich widersprüchlich ist diese Utopie deshalb, weil nationale Souveränität zwar pro forma gefordert, aber schon von vornherein ausgeschlossen ist: Souverän im eigentlichen Sinne des Wortes wäre in dieser Utopie keine Nation mehr, weil das Weltwirtschaftssystem die Umweltbedingungen setzen würde und es deshalb kaum noch Selbstbestimmung und Entscheidungsgewalt einzelner demokratischer Gemeinwesen mehr gäbe. Die Logik der ökonomischen Konkurrenz würde in einer solchen Zukunft die kollektiv bindenden Entscheidungen in jedem Nationalstaat bestimmen.

Das ist soweit klassische Globalisierungskritik, wie sie seit Jahrzehnten von attac und anderen Organisationen geübt wird. Sie argumentiert normativ, indem sie sich auf die Werte der französischen Revolution beruft: Freiheit, Gleichheit und Solidarität seien nur möglich, wenn demokratische Selbstbestimmung gegen die Logik der Ökonomie bestehen könne.

Was aber ergibt sich, wenn ich diese normative Setzung einklammere, und mit Hans Kelsen werterelativistisch davon ausgehe, dass der Wert der wirtschaftlichen Sicherheit genausogut als zentraler Wert an die Stelle von Freiheit gesetzt werden kann? (Vgl. Hans Kelsen: „Was ist Gerechtigkeit?“ Stuttart: Reclam.)

Evolutionssoziologisch problematisch ist vor allem eine wahrscheinliche Folge der oben skizzierten rechtspopulistischen Utopie: Die relative Instabilität des neuen globalen Gesellschaftssystems durch dessen stratifikatorische Ausrichtung auf die Wirtschaft als zentrale „Spezies“ des „ökologischen Gemeinwesens“. Denn diese würde die Fähigkeit der Weltgesellschaft verringern, sich an veränderte Umweltbedingungen anzupassen, weil alternative Funktionssysteme (wie die Politik, aber z.B. auch die Wissenschaft) geschwächt und in Peripherie und Dependenz verdrängt würden. Damit würden die Potentiale dieser Systeme verringert, bei starken Veränderungen der Umweltbedingungen Anpassungsprobleme der Weltwirtschaft auszugleichen.

Dialektischerweise erzeugt zusätzlich aktuell die Weltwirtschaft aber gleichzeitig, befeuert durch die zentralisierte Position der Ökonomie, genau solche schnellen und radikalen Veränderungen der Umweltbedingungen: Die Klimaerwärmung, das Artensterben und die großflächige Umgestaltung von Habitaten auf dem Land und in den Meeren sind Beispiele dafür. Die Utopie der Rechtspopulisten läuft also darauf hinaus, das Gesellschaftssystem unflexibler und weniger anpassungsfähig zu machen und zeitgleich seine Umweltbedingungen radikal und schnell zu verändern. Das ist offensichtlich eine Garantie für Desaster.

Also komme ich auch dann, wenn ich die Werte der französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Solidarität“ als normative Kriterien aus der Beurteilung ausklammere und stattdessen wirtschaftliche Sicherheit als zentralen Wert annehme, mit den Mitteln einer evolutionssoziologischen Beschreibung der Situation zu dem Ergebnis, dass das Programm des Rechtspopulismus, sollte es hegemonial werden, die Krisen der Gegenwart desaströs verschlimmern würde, statt sie zu lösen.

Mein Streik gegen die Revolution

Warum exportiert die spanische Wirtschaft Wasser in Form von Obst und Gemüse, wenn Wasser dort immer knapper wird? Nach der klassischen ökonomischen Theorie der komparativen Kostenvorteile von David Ricardo dürfte das unter Freihandelsbedingungen gar nicht passieren. Produziert werden müsste in Spanien nach dieser Theorie das, was dort am kostengünstigsten herstellbar ist – und Knappheit bedeutet normalerweise Kostensteigerungen.

Gleichzeitig fallen in Deutschland überall Massen von Äpfeln und Birnen von Obstbäumen und verfaulen auf dem Boden – während in deutschen Supermärkten ebenso massenweise Äpfel und Birnen gekauft werden, die aus Neuseeland quer über den Globus transportiert wurden. Was läuft falsch in den ökonomischen Systemen, so dass sie sich solche Ressourcenverschwendung leisten?

Ich könnte jetzt sehr leicht auf den Kapitalismus und seinen Wahnsinn schimpfen, aber ich bin dessen müde, weil eh die meisten Menschen nicht mehr zuhören, wenn wir Linken das tun. Deshalb versuche ich eine andere Erklärung des Problems.

Ich verwende dafür eine Kernidee der Systemtheorie des konservativen Soziologen Niklas Luhmanns. Danach ist das Wirtschaftssystem ein Funktionssystem der Gesellschaft, das autopoeitisch und selbstreferentiell ist. Das bedeutet, dass es sich von seiner Umwelt abgrenzt und sich nach außen schließt, indem es zur Kommunikation einen Code verwendet, der allen Informationsfluss von außen unterbricht, der für die Funktionsweise des Systems egal ist. Dieser Code unterscheidet nur Zahlung und Nichtzahlung. Alles, was nicht in diesem Code im Medium Geld kommuniziert werden kann, ist für das Wirtschaftssystem irrelevant und hat erstmal keine Effekte auf seine Prozesse.

Im konkreten Beispiel bedeutet das, dass es für die Firmen in Spanien nicht beobachtbar ist, ob die Wasserressourcen übernutzt werden, solange Wasser nicht wesentlich teurer wird. In Deutschland passiert dasselbe: Die Verbraucher*innen in der deutschen Ökonomie können in ihrer Rolle als Konsument*innen die Sinnlosigkeit davon nicht wahrnehmen, dass die Äpfel von den deutschen Bäumen vergammeln, solange es teurer ist, Arbeitszeit zum Äpfelsammeln zu verwenden, als aus Neuseeland herangeschiffte Äpfel im Supermarkt zu kaufen.

Das Wirtschaftssystem ist also so selbstbezogen und nach außen geschlossen, dass es zu seiner Umwelt, den Ökosystemen der Welt, keine direkten Kommunikationsbeziehungen mehr haben kann. Nach Luhmann muss es sich aber an die Umwelt anpassen, um sich zu erhalten. Dazu verwendet es strukturelle Kopplungen. Das bedeutet, irgendwie muss es, wenn die Informationen über Wasserknappheit schon nicht in den Preisen rechtzeitig und deutlich genug ausgedrückt werden, so dass es seine Strukturen dementsprechend verändern kann, trotzdem die Umweltinformationen verarbeiten.

Ich glaube, dass wissenschaftliche Organisationen wie der IPCC gerade genau das versuchen: Sie versuchen, das Wirtschaftssystem strukturell mit den Ökosystemen zu koppeln, indem sie die Ökonomie sensibel für die Knappheiten macht, die gerade entstehen, ohne dass sich das schnell genug in Kostensteigerungen und Preisen zum Beispiel für Wasser bemerkbar macht. Zu langsam ist dies, weil die globale Ökonomie der Menschen einen historisch einmaligen Grad an Macht über die Ökosysteme aufgebaut hat, gleichzeitig aber eine solche Trägheit in ihren Grundstrukturen, zum Beispiel der fossilen Energieinfrastruktur, dass sie Zerstörungen der Ökosysteme nicht rechtzeitig aufhält, bevor sie zu irreversiblen Knappheiten von Wasser und anderen Gütern führen.

Wenn die Wissenschaft planetare Belastungsgrenzen berechnet (die zum Beispiel bei der Umnutzung von Land und der Biodiversität schon weit überschritten sind), dann versucht es, Informationen in das geschlossene Wirtschaftssystem einzuschleusen, damit es sich an die Umwelt anpassen kann, so dass Wasser als grundlegende Ressource auch weiter zur Verfügung steht und das System sich nicht selbst zerstört. Das nennt Luhmann dann strukturelle Kopplung.

Auch das politische System versucht, in das Wirtschaftssystem solche Kopplungen einzubauen, zum Beispiel durch den Handel mit Emissionszertifikaten. Der Ausstoß von CO2 ist nämlich erstmal für die Wirtschaft gar nicht beobachtbar gewesen, weil er nichts gekostet hat: Die Atomsphäre konnte jahrhundertelang als Senke für die Abgase der Wirtschaft fast kostenlos genutzt werden, sie war eine Allmende – ein Gemeingut. Jetzt versucht die Politik, die Wirtschaft ausreichend darüber zu informieren, dass diese Allmende schon lange übernutzt ist. Sie versucht durch die Zertifikate die Schäden, die die Übernutzung verursacht, in den Code Zahlung-Nichtzahlung zu übersetzen, so dass das Wirtschaftssystem sie auch beobachten und darauf reagieren kann.

Organisationen, die von innen aus dem ökonomischen System selbst heraus ähnliche Kopplungen aufbauen, sind die großen Rückversicherungskonzerne wie die Münchener Rück, die schon seit Jahren warnen, weil die mit der Klimakrise verbunden ökonomischen Risiken etwa durch Dürren, Überschwemmungen und Stürme zu unberechenbar werden, um sich dagegen noch solide und zu einem akzeptablen Preis versichern zu können.

Leider gibt es daneben andere strukturelle Kopplungen des Wirtschaftssystems, die diese Versuche der Krisenbewältigung torpedieren, indem sie in genau die entgegengesetzte Richtung zielen: Das Wirtschaftssystem ist nach Luhmanns Theorie nicht nur umgeben von der Umwelt der planetaren Ökosysteme, sondern wir Menschen sind für das ökonomische System auch Umwelt. Luhmann interpretiert uns Menschen als „psychische Systeme“, und als solche sind wir Umwelt für das Wirtschaftssystem.

Das Wirtschaftssystem arbeitet nun schon lange und sehr erfolgreich daran, uns als psychische Systeme strukturell mit ihm zu koppeln, zum Beispiel mithilfe von Werbung, Arbeit und Mythen. Ein aktueller Mythos ist der Mythos von der Elektromoblität. Der Mythos sagt: Wir können mit Hilfe von E-Autos weiter so unbegrenzt mobil sein wie bisher, ohne unsere Lebensgrundlagen zu zerstören. Wir können unsere Lebensgewohnheiten einfach beibehalten, ohne die Krise der Knappheit zu verschärfen. Ein Mythos ist das deshalb, weil diese Erzählung wichtige Aspekte der Wirklichkeit ausblendet: Klimaerhitzung durch Treibhausgase stößt nur an eine der vielen planetaren Belastungsgrenzen. Elektromoblität bedeutet weitere Umnutzung von Land durch Lithiumabbau, Energieverbrauch und Emissionen durch Produktion neuer Autos und E-Bikes und weitere Straßen und Versiegelung von Boden und Erzeugung von giftigem Müll. Das sind alles Gründe für das Artensterben, eine Krise, die genauso bedrohlich für unser Überleben als Zivilisation ist, wie die Erderhitzung.

Soviel zum Mythos der Elektromobilität, der auch Menschen frisch mit dem Wirtschaftssystem koppelt, die schon Zweifel bekommen hatten, ob das alles so gut läuft. Was aber ist gefährlich an der Art, wie wir Arbeit definieren, und wie koppelt sie uns mit dem ökonomischen System? In Deutschland ist Arbeit, eingeengt verstanden als Erwerbsarbeit, mit der im Gegensatz zur häuslichen Sorge-Arbeit Geld verdient wird, ein so integraler Bestandteil des Selbstbildes, der sozialen Wertschätzung und der Selbstdefinition von Personen, dass die meisten Menschen durch ihre Arbeit fest an das Wirtschaftssystem gekoppelt sind.

Als ich beim letzten Klimastreik auf der Raddemo über die Marburger Stadtautobahn fuhr, brüllte uns jemand aus einem vorbeirasenden Auto von der Gegenfahrbahn aus zu: „Geht arbeiten!“. Das war in meinem Fall einigermaßen absurd, weil ich an dem Freitag aus einer vollen Arbeitswoche kam und an meinem ersten freien Nachmittag versucht habe, das Wirtschaftssystem mit der natürlichen Umwelt strukturell zu koppeln. Vor mir fuhr ein weißhaariger Mann auf der Raddemo und sagte dazu: Ich habe Jahrzehnte gearbeitet, ich habe meinen Teil getan.

Die Szene ist leider ein guter Indikator dafür, dass bei dem brüllenden Autofahrer die Kopplung seines psychischen Systems mit dem Wirtschaftssystem so fest ist, dass er Forderungen nach Veränderungen des Wirtschaftssystems, in diesem Fall der Mobilität, als Forderungen nach Veränderung seiner eigenen Psyche erlebt: Eine Kritik an der Autoökonomie erscheint ihm deshalb als Angriff auf seine eigene Integrität als Person. Das Auto, das er fährt, ist so gesehen viel mehr als ein Gegenstand, den er als Instrument seiner Mobilität verwendet: Es ist eine weitere Kopplung (neben seiner Erwerbsarbeit), die sein Körper und seine Psyche mit dem Wirtschaftssystem eingegangen sind. Erwerbsarbeit und Autobesitz sind außerdem zwei Kopplungen, die ineinander verschränkt sind: Viele brauchen ihr Auto, um zur Arbeit zu kommen, und brauchen umgekehrt das Erwerbseinkommen, um sich ein Auto leisten zu können.

Wieso finde ich diese Struktur absurd? Das sind doch erstmal Notwendigkeiten der Lebensrealität. Ich finde sie absurd, weil wir Menschen alle auch Lebewesen und durch unsere Körper Teil der Ökosysteme dieser Welt sind. Wir sind zum Beispiel durch Atmung und Ernährung mit allen anderen Lebewesen auf dem Planeten strukturell gekoppelt. Die strukturellen Kopplungen mit dem Wirtschaftssystem, die sich durch Mythen, Erwerbsarbeit und Autobesitz bilden, scheinen bei vielen Menschen aber so stark zu sein, dass sie nicht mehr wahrnehmen, dass Atmen, Trinken und Essen für ihre psychische und körperliche Integrität und diejenige ihrer Kinder und Enkel wichtiger sind als ihr Auto und der Benzinpreis. Die CDU plakatiert hier in Marburg: „Autofahren verbieten verboten“ gegen die sehr gute rot-grün-grüne Verkehrsreform Move 35. Die Marburger CDU ist damit nicht mehr konservativ, sondern eine revolutionäre Partei, weil sie mit Macht daran arbeitet, die Verbindung der Menschen mit der Biosphäre, die uns hervorgebracht hat und am Leben erhält, durch Kopplungen der Menschen mit einem Wirtschaftssystem zu ersetzen, das alle planetaren Grenzen zu sprengen und alle Verhältnisse, in denen die Menschen noch atmende, fühlende und in ihre Welt eingebettete Wesen sind, umzustoßen droht.

Das bedeutet: Um die Dürre in Spanien und die Verschwendung von gutem Essen in Deutschland zu stoppen, müssen wir nicht nur das Wirtschaftssystem mit der natürlichen Umwelt durch Klimaberichte und Emissionszertifikate strukturell koppeln, sondern wir müssen auch unsere psychischen Systeme vom Wirtschaftssystem aktiv entkoppeln. Ich versuche das, indem ich in Teilzeit arbeite, so auf Einkommen verzichte und Zeit gewinne, um auf Raddemos für die Verkehrswende zu fahren und mit meinem M-Bike (ich fahre eines dieser altmodischen Räder ohne Elektromotor) in meinen Radtaschen Äpfel und Birnen hier im Marburger Umland zu sammeln und dann zu verschenken. Entkopplung ist machbar, Herr Nachbar!

Mit unseren Körpern

Im Dannenröder Wald und im Hambacher Wald haben die Aktivist*innen oft in Ihren Reden betont, dass sie den Wald mit ihren Körpern zu schützen versuchen.

Angesichts der katastrophalen Überschwemmungen der letzten Tage und der hunderten toten Menschen frage ich mich, wie die Beziehung unserer menschlichen Körper zur Natur eigentlich ist.

Offensichtlich waren die Aktivist*innen nicht stark genug, um die Braunkohle-Industrie und die Autobahn-Industrie rechtzeitig zu stoppen, und die fossile Industrie hat die natürlichen Systeme so gestört, dass jetzt viele Menschen sehr plötzlich deshalb sterben mussten. Um sie trauere ich.

Ein alter linker Spruch lautet aber: Wandelt Wut und Trauer in Widerstand. Das erste widerständige ist vielleicht, zu verstehen, was passiert. Damit meine ich nicht den Zusammenhang von Braunkohleverbrennung und Überschwemmungen, den kann jede*r ganz einfach in der Taz oder anderen Zeitungen nachlesen. Was mich philosophisch interessiert, sind unsere Körper und die Natur.

Ich habe heute darüber nachgedacht, dass wir Menschen ja alle Teil der Natur sind, solange wir lebendige Körper haben. In der Philosophie unterscheidet man Körper und Leib, und meint mit „Körper“ eigentlich das, was wir sehen, wenn wir Menschen rein naturwissenschaftlich objektivierend betrachten, als Lebewesen unter anderen Lebewesen, die die Biologie beschreibt und erklärt. Leib ist dagegen das, was wir haben, weil wir durch Kultur bestimmte Beziehungen zu anderen Personen haben, unsere Körper durch die Brille unserer Sprache und unserer Praxis sehen und fühlen und uns sozial definieren als Person mit leiblichen Eigenschaften. Beim Verständnis des Leibes helfen uns die Psychologie, die Sozialwissenschaften, die Rechtswissenschaften, die Theologie und die Philosophie, alle Wissenschaften, die Sinn deuten und erkennen.

Es gibt eine alte Debatte in der Philosophie über das „Leib-Seele-Problem“ (oder neuer formuliert: das „Körper-Geist-Problem“), weil wir bisher nicht richtig beschreiben können, wie diese zwei wissenschaftlichen Perspektiven verknüpft und miteinander harmonisiert werden können, (das ist ein bisschen wie in der Physik das Nebeneinander von Quantenmechanik und Relativitätstheorie), und deshalb wissen wir auch nicht genau, wie Körper und Geist miteinander verknüpft sind. Manche sagen, es gibt nur Körper, andere, es gibt nur Geist, und dazwischen gibt es viele, die glauben, dass es beides gibt.

Der Begriff Leib ist eigentlich schon der Versuch, die beiden Perspektiven miteinander zu verbinden, besser noch ist Leiblichkeit: Das Wort benennt ein komplexes Netz von Beziehungen zwischen Menschen, und in diesem Netz bildet jeder Leib so etwas wie einen Knoten, der mit anderen Knoten so eng verknüpft ist, dass es oft willkürlich ist, zu sagen, dass es sich bei Beziehungsfaden A um ein Element von Leib 1 handelt und bei Beziehungsfaden B um ein Element von Leib 2.

Meine Idee heute, als ich durch den Wald lief, war: Das Wort Leib ist kulturhistorisch stark mit der christlichen Tradition aufgeladen, und ich fürchte, das ist nicht wirklich hilfreich. Da fällt mir zumindest gleich die biblische Geschichte vom letzten Abendmahl ein. Damit sind Vorstellungen von Unsterblichkeit und der Einheit von Menschen und sozialen Gruppen verknüpft.

Was ich im Danni erlebt habe, war aber, dass das Verhältnis vieler Menschen zur Natur immer noch und vielleicht mehr denn je ein Gewaltverhältnis ist. Was so schön und harmonisch klingt, die Verbundenheit unserer sozialen Beziehungen in der Leiblichkeit, ist in Wirklichkeit sehr häufig Ausbeutung und Unterdrückung.

Ich will nicht unsolidarisch gegenüber der älteren Frau sein, die als kirchliche Beobachterin der Kirche von Kurhessen Waldeck im Danni von einem Polizisten tätlich angegriffen wurde, vielleicht ist ihr der Begriff Leib aus ihrem Glauben heraus wichtig. Aber der Polizist hat durch den körperlichen Angriff die Sphäre der Leiblichkeit verlassen.

Ein Mitdemonstrant berichtete mir, ein Polizist habe ein Seil zum Reißen gebracht und eine Aktivisti sei dadurch aus einer Höhe von über 4 Metern auf den Boden gefallen. Die Polizisten waren dort im Auftrag des hessischen Innenministers. Eine Maschine hat sich unter ihrem Schutz durch den Wald gefressen, gegen alle Widerstände von Menschen mit ihren Körpern. Diese Maschine sorgt dafür, dass Extremwetterereignisse wie Überschwemmungen noch wahrscheinlicher werden und die Trinkwasserversorgung in Hessen gefährderter ist.

Die Grünen betonen oft, die A49 sei durch rechtsstaatliche Verfahren zustandegekommen. Der Rechtsstaat ist aber nicht einfach eindeutig, sondern die Rechte und Gesetze müssen interpretiert werden, damit wir wissen, was wir tun dürfen und sollen. Und die Maschine, die den Danni durchbrochen hat, ist nicht von den Gesetzen gedeckt, insbesondere widerspricht sie Artikel 26 der hessischen Verfassung, demzufolge der Staat die natürlichen Lebensgrundlagen schützt, auch im Sinne zukünftiger Generationen. Das oben beschriebene Vorgehen der Polizei ist auch nicht von den Grundrechten gedeckt, es verletzt unter anderem das Recht auf Unversehrtheit des Leibes und die Versammlungsfreiheit.

Körper sind nicht unsterblich und werden es niemals sein. Es ist nicht mal sicher, ob Körper einen Geist und eine Seele in sich tragen, die unsterblich ist. Wenn wir erfahren, dass unsere Körper verletzlich und machtlos sind gegen die Zerstörung, wächst unser Bewusstsein dafür, dass das Leben bedroht ist. Die Menschen, die auf den Autobahnen in ihren SUVs mit 150 km/h hin und herfahren, verlieren dieses Bewusstsein.

Ausbeutung und Unterdrückung der Natur fängt bei jedem von uns an. In uns ist eine imperiale Struktur, die wir in unserer Sozialisation verinnerlicht haben, vielleicht am ehesten das, was Judith Butler in „Die Macht der Gewaltlosigkeit“ ein „Phantasma“ nennt: Dieses Phantasma trennt uns von den anderen Menschen und den anderen Lebewesen, es sorgt dafür, dass wir unsere Körper formen wie Bildhauer*innen ihre Stauen, ohne körperliche Bedürfnisse und Gefühle zu respektieren, so stellt es sicher, dass wir arbeiten und Profite generieren, auch wenn die Welt halb untergeht. Das Phantasma erzählt uns die Geschichte, dass Technik uns unsterblich machen kann und dass die menschliche Gesellschaft stärker werden kann als das Leben und die Natur. Dieses Phantasma muss mit Gewalt verteidigt werden, weil ganz einfache kindliche Erfahrungen uns jeden Tag und jede Stunde daran erinnern, dass es nicht real ist, dass wir sterblich sind und verletzlich und andere Lebewesen und Menschen brauchen, um zu leben.

Wir sollten deshalb unsere Körper achten und den Begriff Leib vermeiden, wenn Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse zur Sprache kommen. Wir sollten akzeptieren, dass wir nicht genau wissen, wie unser Geist und unser Körper zusammenhängen. Ich hatte Angst, mich auf einen Tripod zu setzen, weil die Aktivist*in abgestürzt ist. Ich hatte Angst, mich vor die Wasserwerfer zu stellen im letzten Dezember, als die Polizei die Barrios räumten. Ich wollte meinen Körper schützen. Ich habe 20jährige gesehen, die sich in der Kälte in den Wasserwerferstrahl gestellt haben. Ich habe den Aktivistis in den Bäumen zugerufen: „Du bist nicht allein!“ Aber ich musste meine Grenzen akzeptieren, die Grenzen meiner Fähigkeit, zu widerstehen. Jedesmal, wenn ich mit der Bahn an der Schneise der A49 bei Stadtallendorf vorbeifahre, ist mir zum Weinen zumute. Aus Trauer, aus Wut, und aus Scham, weil ich meinen Körper zu schützen versucht habe und die Maschine auch deshalb nicht aufhalten konnte.

Vielleicht sind unsere Emotionen das einzige, was unseren Körper mit unserem Geist verbindet. Vielleicht ist die Unfähigkeit zu Fühlen das schlimmste Ergebnis des Phantasmas der Naturenthobenheit. Es hinterlässt einen Körper ohne Glück und einen Geist ohne Sinn. Es tötet uns, bevor wir sterben. Autofahren und Strom verbrauchen können wir dann aber immer noch.

Die Moralpoeten, Richard David Precht und Schotti, der Tatortreiniger

Heute wettert Peter Unfried in der Taz gegen die „Moralpoesie von Schülersprechern“ bei den Bundesgrünen und lobt die pragmatische Politik der Landesgrünen, die in 11 Bundesländern an der Regierung beteiligt sind.

Er zitiert Precht, um die Absurdität der „Moralpoesie“ der Bundesgrünen zu beweisen, mit folgender fiktiven Situation aus Prechts „Tiere denken“: Ein Vegetarier wird von jemandem vor die Wahl gestellt, entweder ein Huhn zu essen, oder er töte noch ein zweites. Unfried meint, die bundesgrünen „Moralpoeten“ würden absurderweise aus Gesinnungstreue das zweite Huhn auch noch sterben lassen, statt pragmatisch wie die vertrauensvollen Landesgrünen eben in den sauren Apfel, sorry, ich meine in das Huhn, zu beißen.

Nun bin ich Pescetarier, wenn man mir einen Fisch anbieten würde, würde ich den also essen, das Huhn aber nicht. Die Trennlinie, die ich in meiner Ernährung ziehe, ist allerdings offensichtlich so willkürlich, dass ich mich nicht überwinden kann, andere zu missionieren und auch überzeugen zu wollen, es mir gleich zu tun. Ich bin, was Ernährung angeht, also ziemlich liberal eingestellt. Allerdings habe ich etwas gegen Erpressung: Und der Mensch mit dem Geiselhuhn erpresst offensichtlich die Vegetarier*in in dem Beispiel von Precht.

Wie viel menschenfreundlicher ist doch da Schotti, der Tatortreiniger: In einer Folge bietet er einer Veganerin, die sich von ihrem Freund, den sie noch liebt, getrennt hat, weil er heimlich Schnitzel gefressen hat, folgenden Deal an: Sie gibt ihrem Exfreund noch eine Chance, dafür verspricht ihr Schotti, 14 Tage im kommenden Jahr auf Fleisch zu verzichten, obwohl er selbst normalerweise 2x am Tag Fleisch isst. Das würde 14 heimliche Schnitzeltage des fleischessenden Freundes ausgleichen.

Man muss kein Schülersprecher sein, um in der von Precht konstruierten Situation die Unmoral zu identifizieren: Wer anderen keinen Ausweg lässt, als sich gemessen an ihren eigenen Normen entweder schuldig oder noch schuldiger zu machen, der agiert böse. Anstatt die moralpoetischen Schülersprecher anzugreifen, sollte Unfried lieber fordern, dass es mehr Schottis und weniger hühnermordende Erpresser auf dieser Welt geben soll. Und ich lege noch einen drauf: Falls das hier ein hühnermordender Erpresser liest, biete ich ihm jetzt in die Hand an: Verzichten Sie auf die nächste Erpressung einer Vegetarier*in durch Hühnermord, und ich biete ihnen an, an zusätzlichen 14 Tagen im nächsten Jahr auf Fisch zu verzichten.

 

Sinnieren über Kate Bushs: „Oh England, my Lionheart“

Einer meiner Lieblingssongs unter denen, die ich in den letzten Jahren durch Tipps von Freund*innen entdeckt habe, ist Kate Bushs poetische Hommage an – ja an was? An ihr Heimatland, bin ich versucht zu sagen, hätte „Heimat“ nicht seit vielen Jahrzehnten einen kontaminierten Klang in der deutschen Sprache.

Eine Strophe aus dem Song lautet:

„You read me Shakespear on the rolling Thames

That Old River Poet that never, ever ends

Our Thumping Hearts hold the Ravens in

And keep the tower from tumbling“

Vor langen Jahren hatte ich ein Streitgespräch mit meinem alten Freund Christian, der entgegen meiner linken Sicht Patriotismus gegen Nationalismus abgrenzte und letzteren ablehnte, während er patriotische Haltungen verteidigt hat. Damals fühlte ich mich unwohl, weil ich ihm nicht zustimmen wollte, aber auch nicht ablehnen konnte, was er sagte.

Heute, während ich Kate Bushs poetische Huldigung an England höre, denke ich: Was würde ich darum geben, ein Lied an Deutschland schreiben zu können, in dem ich dem Land, in dem ich lebe, geboren bin und dem ich mich verbunden fühle, so eine Zuneigung ausdrücken könnte.

Ich würde darin zum Beispiel, wie Kate Bush hier ihrem Land für Shakespears Poesie dankt, Deutschland danken würde für Goethe und sein donnerndes „Sie ist gerettet.“, das aus der Kulisse für das Gretchen im Faust erschallt, und für seinen „Geist, der stets verneint, und das mit recht, denn alles, was entsteht, ist wert, dass es zu Grunde geht.“ Es wäre ein Lied, in dem ich singen könnte:

„Und uns geht eines immer vor:

Unsere Skepsis soll genügen

zu schützen das Brandenburger Tor

vor jeglichen  weiteren Fackelzügen“

Aber das Brandenburger Tor ist als Symbol übel behaftet und wird von „Identitären“ besetzt, die einen Haken als Symbol benutzen und ich kann nicht von Herzen ein Lied singen, das mich vielleicht wider Willen in ihren Chor eingemeindet.

Ach, Deutschland, wie traurig ist es, in Deinen Mauern zu leben, und zu wissen, was sie über lange Zeit schützten: Sie schützten zu viel Hass, um sie zu mögen, und zu viel Liebe, um sie zu verabscheuen. Verwirrt über der Frage, ob ich jetzt Patriot bin: Arne Erdmann.

Ein Problem der Selbst-Sorge

Im Gefolge von Foucault ist die Selbst-Sorge stärker in den Blick gerückt. Die emanzipatorische Idee dahinter ist nach meinem Verständnis, dass nur Individuen mit einem effektiven Repertoire von „Technologien des Selbst“ die Kraft haben, sozialen Herrschaftsprozessen stand zu halten und sich zu befreien. Ich sehe in der Figur der Selbst-Sorge aber ein Problem angelegt, das ich im Folgenden entfalten werde.

Von Beatrice Müller habe ich auf der AKG Tagung in Marburg gestern gelernt, dass Care (was ich hier mit Sorge übersetze) als soziale Beziehung nur gelingen kann in einer Wechselseitigkeit zwischen dem sorgenden und dem umsorgten Menschen, weil gelingende Sorge keine Subjekt (Sorgender) – Objekt (Umsorgter) – Beziehung sein kann, wie es in einem Prozess der Reparatur von einem Ding der Fall ist. Ich glaube, dass die Unmöglichkeit, die zu umsorgende Person erfolgreich zu reparieren wie ein Ding, darin begründet liegt, dass das Sorgen immer von den Bedürfnissen der zu umsorgenden Person initiiert wird. Wenn ich beispielsweise Rückenschmerzen habe, wie die ganzen letzten Wochen, dann besorge ich mir die Sorge anderer (in diesem Fall meines Arztes und meiner Physiotherapeutin) aus meinem Bedürfnis nach einem schmerzfreien Leben heraus.

Ohne diese Initiierung und deren Verstetigung im Sorgeprozess, in dem ich immer wieder Sorgehandlungen der anderen erbitte und annehme, kann ich nicht umsorgt werden. Das liegt auch daran, dass sich Bedürfnisse und Gefühle ändern, chaotisch und vielfältig sind, sich überlagern und widersprechen (um mit Beatrice Müller und Kristeva zu schreiben – „nicht strukturiert“ sind), und deshalb ständig ein neuer Anfang in der Sorge gemacht werden muss, um auf veränderte Gefühle, Empfindungen und Bedürfnisse eingehen zu können. Und dieser Anfang muss in wechselseitigen Beziehungen entstehen, da die umsorgende Person die notwendige Sensibilität für Empfindungen und Bedürfnisse anderer nur dann entwickeln kann, wenn sie eine mitmenschliche Beziehung eingeht. Denn sie kann Bedürfnisse nur dann wahrnehmen, deuten und verstehen, wenn sie die zu umsorgende Person berührt, ihre Mimik deutet, ihre Gefühle mitfühlt und dies auch in Resonanzen spürbar für die umsorgte Person macht.

Aus diesen Gründen sehe ich ein fundamentales Problem in der Figur der „Sorge um sich“: Meines Erachtens sprechen wir mit solchen Wendungen über Selbstverhältnisse, als ob sie soziale Beziehungen zwischen Menschen wären. Im Falle des Versuches, mich selbst zu umsorgen, fehlt mir aber ein anderer Mensch, dessen inkommensurable, „nicht-strukturierte“ Facettenvielfalt meiner ähnelt. Sich ähnlich fühlen heißt aber, sich geborgen zu fühlen, ohne zu verschwinden.

Ich habe im Zivildienst ein 6jähriges Mädchen umsorgt, das nicht sprechen konnte und fast blind war. Sina hat mit ihrer Stimme Beziehungen aufgebaut, zum Beispiel hat sie, wenn ich mit ihr sprach, immer so tiefe Töne gemacht, wie sie mit ihrer Stimme machen konnte. Sie hat also mimetisch nachgeahmt, wie ich ihr erschien. Dabei war ihr das Vergnügen anzumerken, das ihr das Produzieren der tiefen Töne machte, ich glaube heute, weil sie es lustig fand, mich nachzumachen und zu merken, dass es halt nicht ganz original klingt, weil sie nicht so tiefe Töne machen konnte, wie ich, aber ihre Stimme eben doch hörbar anders klang, als wie sie sonst klang, wenn sie sich nicht anstrengte, wie ich zu klingen.

Ich glaube, dass in Care-Beziehungen immer wieder, etwa in der Mimesis, die Freude an der eigenen Vielfalt und den eigenen Grenzen und deren Fruchtbarkeit für soziale Beziehungen aufscheint und dass deshalb soziale Care-Beziehungen Normalisierung und Herrschaft immer etwas unterlaufen.

„Selbst-Sorge“ jedoch kann keine mimetischen Elemente enthalten. Wer sich selbst nachzuahmen versucht, versucht seine Entfremdung zu überspielen, statt sie zu unterlaufen. Der Versuch wird in der Regel tragisch enden. Deshalb fehlt der „Selbst-Sorge“ mindestens in dieser Hinsicht der subversive, emanzipatorische Charakter, der sozialen Sorgebeziehungen oft innewohnt.