Camper aller europäischen Länder, vereinigt euch!

Thomas Steinfeld vermisst das „politische Subjekt“ einer gemeinschaftlichen europäischen Haftung für Schulden. (Thomas Steinfelds Kritik an Habermas, Bofinger und Nida-Rümelin : „Gemeinschaft der Konkurrenz.“ SZ Nr. 181 vom 7.8.2012) Die Nationen in Europa konkurrierten wirtschaftlich miteinander, täten dies aber in einem gemeinsamen Währungsraum, so die brilliante Analyse des SZ-Feuilletonisten. Mon Dieu, es gibt in Europa tatsächlich Interessengegensätze! Wie um alles in der Welt soll man da zu gemeinsamen Entscheidungen kommen? Welche Nieten halten den europäischen Kahn noch zusammen, wenn es schon kein „politisches Subjekt“ gibt, das ihn steuert? Der Untergang des Abendlandes steht kurz bevor, wir raten allen Zahnärzten, ihr mühsam in Immobilienfonds, die in Spanien überflüssigen Wohnraum finanzieren, angelegtes Geld flüssig zu machen und es stattdessen in Immobilienfonds anzulegen, die auf den Bahamas überflüssigen Wohnraum finanzieren.

Ja, das dürfte die schlimmste Krise erstmal abmildern, bleibt eine Frage: Wo ist das „politische Subjekt“ Europas? Und viel entscheidender: Was ist es? Ein Satzglied im Nominativ, mit dem sich Sätze wie „Das europäische Subjekt will die europaweite Besteuerung von Millionenvermögen zugunsten strukturschwacher Regionen!“ bilden lassen? Ein Satzglied, das im Gegensatz zu „europäischen Objekten“ steht, die zum Beispiel im Dativ oder im Akkusativ stehen und in Sätzen wie dem folgenden vorkommen: „Die Troika zwingt europäischen Krisenländern den Ausverkauf ihres Staatseigentums auf.“? Oder ist vielleicht gar nichts Grammatisches gemeint? Meint Steinfeld mit „Subjekt“ etwa eine philosophische Kategorie? Das Subjekt also als dasjenige, das selbstbestimmt handelt, einen autonomen Willen besitzt und sich denkend selbst erkennt? Machen wir die Probe aufs Exempel: Nach Steinfeld müsste ja ein souveräner Staat wie Deutschland ein „politisches Subjekt“ haben, das im Falle Europas so schmerzlich vermisst wird. Der Zufall will es, dass ich deutscher Staatsbürger bin und sozusagen aus dem inneren Körper des deutschen „politischen Subjekts“ berichten kann, weil ich ja offensichtlich Teil davon bin. Ich wähle, gehe regelmäßig zu Demonstrationen und schreibe Blogartikel. Jetzt ist es so, dass die Regierung meines Landes, obwohl ich sie nicht gewählt habe, ständig das genaue Gegenteil von dem macht, für was ich demonstriere: Ich bin für die stärkere Besteuerung von großen Vermögen. Ich bin für eine Solarförderung, die diesen Namen auch verdient. Ich bin für ein solidarisches Gesundheitswesen. Wenn mein autonomer Wille Teil des autonomen Willens des „politischen Subjekts“ der Bundesrepublik Deutschlands ist, dann muss da irgendwo der Wurm drin sein in diesem „Subjekt“, weil dauernd die anderen Leute ihren Willen gegen meinen durchsetzen, und mein Wille gar nicht berücksichtigt wird, habe ich das Gefühl. Und den meisten meiner Freunde geht es genauso. Anstatt aber aus dem politischen Subjekt auszusteigen, einige Uzis zu kaufen und auf Manager der Deutschen Bank und FDP-Politiker zu schießen, gehen wir weiter auf Demonstrationen und wählen und schreiben Blogartikel, wie man liest. Wir tun das, weil wir friedliebende Menschen sind, vom Grundgesetz der BRD überzeugt sind und glauben, dass wir mit den politischen Institutionen dieses Staates besser fahren, als wir mit den Institutionen der meisten anderen Staaten dieser Welt fahren würden.

Wenn uns das zu Teilen des „politischen Subjekts“ der BRD macht, sehe ich keinen Grund, warum es uns nicht auch zu Teilen des „politischen Subjekts“ Europas machen sollte: Im politischen Feld gibt es Interessengegensätze, egal ob auf nationaler oder europäischer Ebene, und man zieht regelmäßig den Kürzeren. Man kann sagen, dass Politik nichts anderes ist als der einigermaßen geregelte Umgang von Leuten, die Unterschiedliches wollen, sich aber auf für alle geltende Entscheidungen einigen müssen.

Früher haben Deutsche das, was Steinfeld nebulös „politisches Subjekt“ nennt, das „Volk“ genannt. Der Grundgedanke demokratischer Nationalstaatlichkeit konnte so ausgedrückt werden: „Das Volk entscheidet.“ Im Zeitalter des Pluralismus reden Politiker mit gutem Grund aber nicht mehr vom „Volk“, sondern sie reden von den „Bürgerinnen und Bürgern der Bundesrepublik Deutschland“ oder einfach den „Menschen im Lande“, weil sie genau wissen, dass es kein einheitliches „Volk“ gibt, und nie gegeben hat. Neulich war ich auf der Blockupy Demonstration in Frankfurt. Dort traf ich zwei französische Aktivist_innen, die mich baten, mich um ihr von der deutschen Polizei konfisziertes Zelt zu kümmern. Während wir redeten, kamen deutsche Yuppies in Polohemden vorbei und befleißigten sich des Zurufs: „Hier ist kein Campingplatz!“ Sie können mir glauben: Mit den deutschen Teilnehmern dieser Szene verband mich nichts außer eine gemeinsame Muttersprache und die Tatsache, dass wir alle auf zwei Beinen gehen. Mit den französischen Aktivist_innen verbanden mich eine gemeinsame Kultur, politische Überzeugungen, Solidarität und Sympathie. Das sind doch ideale Bedingungen für ein politisches Subjekt eines europäischen Bundesstaates. Die deutschen Yuppies dürfen auch mitmachen, obwohl sie Polohemden tragen und es ihnen an Solidarität noch etwas mangelt. Die wird ihnen dann eben vorläufig durch eine europäische Steuergesetzgebung verordnet.