Kapitalismus ist analysierbar, Herr Nachbar

Kommentar zu Andreas Zielcke: „Das Monster in uns“ SZ Nr 40, Samstag/Sonntag, den 16./17.2013, S. 13.

Meines Erachtens ist die feuilletonistische Kapitalismuskritik von Zielcke der verzweifelte Versuch, den offensichtlich und unverdrängbar gewordenen Krisen des aktuellen Kapitalismus Herr zu werden, ohne sich aus seinem bildungsbürgerlichen und liberal-konservativen Dunstkreis herausbewegen zu müssen. Denn eines ist ja klar: Die Linken können nicht recht haben. Sie kritisieren den Kapitalismus zwar schon seit zweihundert Jahren, sind aber Schuld an Stalin und deshalb aus moralischen Gründen als nicht erkenntnisfähig zu betrachten.

Wer den Kapitalismus „intuitiv und heuristisch“ statt analytisch kritisiert, wie das nach Zielcke der FAZ-Autor Frank Schirrmacher in seinem Buch „Ego“ tut, der kommt logischerweise am Ende bei dem Irrtum heraus, die „Scheinrationalität“ des Kapitalismus sei „nicht zu verstehen“.

Natürlich kann man den Kapitalismus nicht verstehen, wenn man nicht von der Ausbeutung der Arbeitenden reden will, und stattdessen über die zerstörerische Wirkung von Informationsmaschinen auf das Sinnverstehen und die Destruktion von Gemeinschaft und Loyalität durch das Menschenbild des homo oeconomicus lange Artikel schreibt.

Sicher haben Schirrmacher und Zielcke mit diesen Thesen vollkommen recht, sie vertauschen nur Ursache und Wirkung. Die Modelle der Wirtschaftstheorie wie rational choice, Spieltheorie und homo oeconomicus sind nicht die Ursachen für die Pathologien des Kapitalismus, sie sind Lösungsversuche für Probleme innerhalb der kapitalistischen Logik. Genauer gesagt sind es Versuche, das Problem zu lösen, dass wirtschaftliche Interaktionen wie Kreditvergaben, Kaufverträge oder Firmenfusionen in einem entgrenzten und freien Marktraum für die Akteure stets gefährlich sind, weil die anderen Akteure zu einem hohen Grad unberechenbar sind. Die ökonomischen Modelle sollen den Akteuren die Berechnung der anderen Marktteilnehmenden ermöglichen.

Aber wo Konkurrenzdruck immer weiter steigt und ökonomischer Erfolg zum wichtigsten Prinzip wird, funktioniert ironischerweise selbst der Marktmechanismus nicht mehr, der zu diesem Zustand erst geführt hat. Axel Honneth vertritt in „Das Recht der Freiheit“ die These, dass Märkte sich auf vorgängige soziale Normen stützen müssen, die sie zu ihrem Funktionieren brauchen, aber selbst nicht herstellen können. Wo nur der Gewinn zählt, wird mit dem Informationsmangel der anderen Marktteilnehmenden Geld verdient. Es gewinnen diejenigen, die mit Erfolg Informationspolitik betreiben. Das gezielte Verschweigen und Verfälschen von Informationen wird so zur Erfolgsstrategie, aber da jeder weiß, dass das so ist, kann niemand absehen, was er alles nicht weiß und wem er worin trauen kann. Genau das führte zur Verschärfung der Finanzkrise, als keine Bank mehr der anderen traute. Aber es verursachte sie nicht.

Genau die Marktfreiheit, die Honneth als dritte Freiheitssphäre neben Politik und persönlichen Beziehungen bezeichnet, ist nämlich meiner Ansicht nach eine Hauptursache für die aktuelle Krise: Begonnen hatte diese mit der Hypothekenkrise in den USA, weil dort die Häuserpreise so stark fielen, dass die Preisprognosen, auf denen die Hypothekenkredite basierten, sich als völlig falsch entpuppten. Die Preisbildung auf entgrenzten Märkten führt regelmäßig zu Preisen, die mit dem realen Bedarf an Gütern und Dienstleistungen kaum noch etwas zu tun haben. Das widerum hängt damit zusammen, dass Geldkapital so konzentriert in wenigen Händen ist, dass Geld nicht mehr in erster Linie für die Befriedigung von Bedürfnissen ausgegeben wird, sondern vor allem für das Erwirtschaften von noch mehr Geld. Der reale Bedarf an Wohnraum in den USA wurde daher durch die Häuserpreise nicht realistisch abgebildet, weder, als die Häuser viel zu teuer, noch, als die Häuser viel zu billig wurden.

Die andere Seite der Irrationalität der Märkte ist die Abkopplung der Preise der Produkte von der Arbeit, die zu ihrer Herstellung nötig ist. Wie viel Arbeit für ein Produkt notwendig ist, spiegelt sich in Zeiten des Lohndumpings in den Nähfabriken Asiens einerseits und der aberwitzigen Steigerung von Managerboni in Europa andererseits in den Preisen nicht mehr wieder. Auch diese Abkopplung führt zu unvorhersehbaren Geldströmen und damit zu Krisen. Wären die Einkommen gerechter auf die unterschiedlichen Arbeitsformen verteilt, würden sich die Geldströme berechenbarer bewegen.

Wenn der Großteil der Menschheit nicht mehr oder kaum noch in der Lage ist, durch Arbeit die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen, während eine Minderheit immer ausgefeiltere Bedürfnisse entwickelt, die so wenig zwingend und so diversifiziert sind, dass jeder sich schnell für ein anderes Produkt entscheiden kann, sobald der Trend vom Ipod zur handgestrickten Weste umschwingt, gibt es eine logische Tendenz zu Instabilität. Die Abkopplung der Preise von den realen Bedürfnissen und von der Arbeit verstärken sich außerdem phasenweise gegenseitig. Die kapitalistische Form der Marktwirtschaft ist aus strukturellen Gründen die Permanenz der Krise. Nach Fernand Braudel gibt es aber auch eine Marktwirtschaft ohne Kapitalismus. Folgende Probleme müssen gelöst werden, um eine solche Marktwirtschaft zu etablieren:

1. Reichtum und Marktmacht sind sowohl zwischen Regionen als auch zwischen sozialen Gruppen zu ungleich verteilt. Das führt zu einer Reihe von Instabilitäten (dysfunktionale Konzentration von Kapital in wenigen Händen, Nachfrageprobleme, politische und soziale Konflikte, starke Abhängigkeiten, extreme Preisschwankungen).

2. Die Märkte sind nicht transparent. Märkte funktionieren optimal, wenn allen Teilnehmenden alle Informationen zugänglich sind. Das ist nicht der Fall. Dies führt zu Vertrauensverlust, systematischem Betrug und Instabilität (Over the Counter-Geschäfte, komplexe Finanzprodukte, undurchschaubare Waren- und Geldströme).

3. Die Märkte sind rechtlich nicht gut reguliert und die demokratischen Strukturen sind nicht so internationalisiert sind wie die Konzerne. (Fragmentierter internationaler Rechtsraum, mangelnde Rechtsvorschriften, Konkurrenz unter den Nationen).

4. Die Politik wird zu oft von Kapitalinteressen beherrscht, statt sich am Allgemeininteresse zu orientieren. (Mangelnde Besteuerung von Großkonzernen und großen Vermögen, Ausverkauf von staatlichen Garantien für Güter wie Bildung, Wohnen, Wasser- und Stromversorgung, Gesundheit).

Alle diese Merkmale kapitalistischer Marktwirtschaft lassen sich politisch beseitigen. Aber sie lassen sich weder beseitigen, indem man nur das kapitalistische Menschenbild kritisiert, noch durch Reaktivierung von „Loyalität und Gemeinschaft“ (schließlich will ich nicht mehr zu meinem Gutsherren und meinem Pfarrer gehen und um Erlaubnis fragen müssen, wenn ich heiraten will).

Das Schirrmacher nach Zielcke zu Pessimismus neigt, wundert mich nicht. Wahrscheinlich merkt er, dass seine Kapitalismuskritik nicht zu realistischen praktischen Konsequenzen führt. Das liegt an seinem idealistischen Fokus: Anderes Denken alleine wird die Destruktivität des Kapitalismus nicht aufhalten. Politische Kämpfe können sie aufhalten.