Eure Rationormativität macht mir Angst

Ich habe mir von einer Freundin das Buch „Mystik und Widerstand“ von Dorothee Sölle ausgeliehen. Darin schreibt sie von der mystischen Praxis vieler Menschen, in der sie sich mit Gott vereinen und daraus die Kraft schöpfen, einer feindlichen Gesellschaft Widerstand entgegenzusetzen.

 

Jetzt ist das deswegen bemerkenswert, weil ich ja Philosophie und Politikwissenschaften studiert habe und deshalb sozusagen aus professionellen Gründen überzeugter Religionsgegner bin – zu meinem soziokulturellen Habitus gehören der Atheismus und eine skeptisch-vernichtende Haltung zur Religion frei nach Voltaire wie das Lila zur Milkakuh. Religion ist aus dieser meiner Sichtweise so etwas wie die rosa Brille, die sich alle aufsetzen, die zwar merken, wie beschissen die Welt ist, aber daran nichts ändern können oder wollen.

 

Trotzdem hatte ich kaum ein paar Seiten in dem Sölle-Buch gelesen, da habe ich plötzlich angefangen, Rotz und Wasser zu heulen – weil ich so unglaublich froh, erleichtert und gleichzeitig traurig war darüber, dass ich jemanden gefunden habe, der mir erklärt, wieso ich trotz des ganzen von Marx, Voltaire und meinen anderen Helden des geschriebenen Wortes gelernten Skeptizismus immer noch meditiere und in Kirchen so ein seltsames schönes, erhabenes Gefühl kriege, das sich auch nicht verkrümelt, wenn ich mir die tausenden Frondienstleistenden vorstelle, die die Bischöfe zum Steineschleppen gezwungen haben, um diese heiligen Hallen zu bauen.

 

Ja ja, ich weiß, die Kritik der Religion ist der Anfang jeder Kritik und so weiter, aber wisst ihr was: Ich pfeif auf die Kritik! Dorothee Sölle schreibt mir, dass wir Menschen auch innere Kraftquellen brauchen, um dieser sozialen Wirklichkeit nicht zu unterliegen, und ganz ehrlich: Ich glaube nicht, dass unser Verstand mit allen seinen kritischen Kräften dazu ausreicht. Da können wir alle drei Kritiken von Kant dreißigmal lesen, dass wir Angst haben, unseren Job zu verlieren, wenn wir streiken, können wir dann zwar gut beurteilen, es ist nämlich schlecht, aber der Mut, dagegen etwas zu tun, fließt uns bestimmt nicht bloß aus der Urteilskraft zu.

 

Mit das Beste am Verstand ist aber, dass er ständig neue Wörter lernen kann – ich habe zum Beispiel erst vor kurzem das Wort Heteronormativität gelernt. Damit meinen meine linken Freund_innen glaube ich die Einstellung vieler Menschen, Heterosexualität sei die „richtige“ Form von Sexualität und alle anderen Formen von Sexualität seien irgendwie abweichend, fremd und falsch.

 

Ich habe heute morgen beim Meditieren ein Wort gefunden, das ziemlich gut ausdrückt, warum ich bei der Sache mit der Religion so durcheinander bin – das Wort ist „Rationormativität“. Ich glaube, ich war so aufgewühlt, als ich das Buch von Dorothee Sölle las, weil es mich aus einem Denken befreit hat, das ich in der Schule und in der Uni, in meinem Elternhaus und in meiner linken Subkultur, die sich so viel auf ihre Freiheitsorientierung einbildet, aufgezwungen bekommen habe – das Denken, dass es richtig ist, die Welt mit dem Verstand zu begreifen und nach rationalen Erwägungen zu handeln und dass Emotionen, Gefühle, Phantasie und alle anderen inneren Quellen irgendwie „komisch“ „abweichend“, „falsch“ sind, irrational eben.

 

Jahrelang habe ich hart gearbeitet, um in Uniseminaren meine Gefühle unterdrücken und mich „auf die Sache“ konzentrieren zu können – bis ich selbst im Freundeskreis ständig in anstrengende Diskussionen über die richtige und falsche Kritik geraten bin.

 

Ich habe jetzt keine Lust mehr darauf und will diese ganze rationormative Blase nicht mehr mit aufpusten. Deshalb muss ich jetzt nicht gleich emotionormativ werden und Kant wegen seiner Elogen auf den preußischen König Friedrich den II., diesen Schlächter und Peiniger, wütend über die Jahrhunderte hinweg einen Vollidioten schimpfen. Oder vielleicht doch?  Vielleicht erklärt das Wort Rationormativität ganz gut, warum selbst ein so kritischer und verständiger Mensch wie Kant in Friedrich dem II. eben bloß den Aufklärer gesehen hat und nicht den gewalttätigen Unterdrücker.

Die Finanzkrise, Kojève und warum es gut ist, wenn ich keine Lust habe zu arbeiten

Ich bin heute krank und muss deshalb nicht arbeiten. Da ich aber Protestant bin und daher seit meiner Kindheit an den Gedanken gewöhnt wurde, dass ich durch Arbeit in den Himmel komme, habe ich meine durch Krankheit gewonnene freie Zeit gleich mal dazu genutzt, einen politisch-philosophischen Essay von Alexandre Kojeve durchzuarbeiten, den man von der Hoover.org Seite herunterladen kann.

 

In dem Artikel geht es darum, wie Frankreich es schaffen kann, seine politische Autonomie und die Werte seiner Zivilisation gegen verschiedene Imperien zu bewahren. Kojeve schlägt vor, ein „Empire Latin“ zu schaffen, dass neben Frankreich vor allem die katholisch geprägten südeuropäischen Länder am Mittelmeer umfasst, Italien und Spanien zum Beispiel.

 

Jetzt wundert sich vermutlich manche, und tatsächlich ist der Essay von Kojeve 1945 geschrieben worden. Das mit dem Empire Latin kannst du ad acta legen. Trotzdem stecken bedenklich aktuelle Erkenntnisse in dem Text. Zum Beispiel: Wäre ich kein deutscher Protestant, sondern ein katholischer Franzose, würde ich jetzt, statt diesen Blogbeitrag zu schreiben, wahrscheinlich mit einer schönen Frau ordentlich Rotwein trinken und dabei extrem gut angezogen sein.

 

Kojeve lobt die dem zugrundeliegenden Werte, vor allem die Wertschätzung der Muße, weil man sie braucht, um in Ruhe nachzudenken, und der Schönheit, und glaubt, dass diese von Aristoteles über die katholische Tradition ins moderne Frankreich transportiert wurden und gefälligst gegen die angelsächsich-germanische Arbeitswut verteidigt werden sollten. Ich stimme voll zu, tue mich aber praktisch etwas schwer mit der Umsetzung, wie du liest, weil ich nicht aufhören kann zu schreiben.

 

Jetzt ist es so, dass Aristoteles ein freier Bürger Athens war, und als solcher die Muße lobte, während etliche Sklaven in den Weinbergen geschuftet haben, damit der gute Aristoteles beim Philosohieren ordentlich Rotwein picheln konnte. Insofern würde ich vielleicht die protestantische, angelsächsisch-germanische Arbeitsethik jetzt zumindest als historischen Beitrag zu einer gerechteren Gesellschaft verteidigen und fühle mich auch gleich besser dabei, diesen Artikel weiterzuschreiben.

 

Gustav Seibt hat den Kojeve-Artikel ja nicht zufällig jetzt in der SZ mit einer Rezension bedacht – fast 70 Jahre nach dessen Entstehung. Kojeve hat nämlich etwas verblüffend früh vorausgesehen: Die deutsche Wirtschaft ist – unter anderem dank einer kapitalistisch geprägten, extremen Wertschätzung der Arbeit und des Sparens – im Gegensatz zu der Wirtschaft von Spanien, Italien und teilweise Frankreichs ziemlich krisenfest. Die deutsche Arbeitswut hat nämlich in den vergangenen Jahren die europäischen Nachbarländer in Grund und Boden konkurriert. Die dadurch gewonnene politische Macht nutzt der deutsche Staat, um sein Modell den europäischen Partnerstaaten aufzuzwingen. Und zu Recht sehen sich deshalb viele Spanier, Griechen und Italiener als Opfer einer imperialen Strategie, allerdings ist das Imperium sehr komplex und widersprüchlich, weil sich noch nicht mal Deutschland und Großbritannien, zwei neoliberal-kapitalistische Musterstaaten, auf eine gemeinsame Politik einigen können.

 

Jede imperiale Strategie nach außen braucht eine imperiale Strategie nach innen – und die drückt sich im Falle von mir und dem neoliberalen BRD-Kapitalismus darin aus, dass ich seit einem Jahr kein einziges Mal zu Hause geblieben bin, wenn ich krank war – auch wenn ich Rückenschmerzen hatte, die zu Schweißausbrüchen geführt und es fast unmöglich gemacht haben, an die Tafel zu schreiben und meine Schultasche zu tragen.

 

Zum Glück ist das alles nicht ganz so schlimm, weil ich außerdem im ganzen letzten Jahr jede Woche einmal Abends mit Freunden gut gegessen, Rotwein getrunken und ausführlich gequatscht habe – Arbeit hin oder her. Jede imperiale Strategie stößt auf Gegenstrategien.

Allerdings sind solche Abendessen jetzt für die zwangsgeräumten spanischen Familien, denen die Deutsche Bank ihre Häuser weggenommen hat, nicht besonders hilfreich, da kann ich noch so viel italienischen Rotwein dazu trinken.

Dank Kojeve weiß ich jetzt aber, was das schlechte Gewissen, das mich dauernd befällt, wenn ich mal die Beine lang mache und nicht arbeite, mit der politischen und kulturellen Lage in Europa zu tun hat – und dass es in Ordnung ist, öfters statt zu arbeiten auf meinem Sofa Kontemplation zu betreiben. Das Ergebnis meiner heutigen Kontemplation ist, dass es sinnvoll ist, sich weiter bei attac gegen die Hegemonie kapitalistischer Arbeitsvergötterung zu engagieren, auch wenn es zusätzliche Arbeit macht. Außerdem fühle ich mich dank der Beichtfunktion, die dieser Blog erfüllt, der mir gottlosen Protestanten einen katholischen Beichtstuhl ersetzt, befreit und kann zum Dolce-Far-Niente-Teil des Tages übergehen.

Au Relire!

 

 

Mein Fahrrad, Heidegger und die Unverständlichkeit der Welt

Ich radelte heute zur Post und dachte dabei über mein Fahrrad nach. Ich fragte mich, wer es wohl zusammengeschraubt hat (es ist so ein Hollandrad aus den 70ern), und wo die Teile herkommen und wer das Eisenerz geschürft und den Stahl verhüttet hat und wie überhaupt diese Scheiben, aus denen die Kette besteht, hergestellt werden – werden die gegossen? Oder irgendwie gefräst? Mir fiel auf, dass ich keine Ahnung habe, wie das komplexe Teil, mit dem ich jeden Tag zur Arbeit fahre, überhaupt gebaut wird.

Weil ich Philosophen zu Freunden habe, fiel mir sofort Heidegger ein. Der hat von der „Bewandtnisganzheit“ geschrieben, womit er laut Aussage meines Freundes Daniel die Idee bezeichnet hat, dass uns die uns umgebenden Gegenstände als Teile einer möglicherweise erkennbaren sinnhaften Gesamtheit erscheinen – am Beispiel meines Fahrrads kann man sagen, dass in den 70er Jahren eine ganze Menge Leute in verschiedenen Ländern und Berufen verschiedene Dinge getan haben, aus deren Gesamtsumme das Fahrrad entstanden ist, das den Sinn hat, dass ich damit zur Arbeit fahren kann. Wenn es kaputt geht, ist es nicht mehr sinnvoll, sondern wird zum Problem – ich höre auf zu radeln und fange an nachzudenken, wie ich es reparieren kann. Heidegger nennt das so: „Das Fahrrad ist nicht mehr zuhanden, sondern vorhanden“. Wir switchen deshalb vom praktischen Benutzen zum theoretischen Nachdenken.

Mein Fahrrad ist zwar heute nicht kaputt gewesen, aber es schleifte ein bisschen und ich will Heidegger mal wohlwollend soweit folgen und annehmen, dass das Schleifen mein Fahrrad für mich vom Zuhandenen zum Vorhandenen gemacht hat, weshalb ich über es nachdachte.

Das Ergebnis meines Nachdenkens war, dass ich verblüffend wenig darüber weiß, wer eigentlich alles was warum macht, bis am Ende so ein Rad herauskommt – womit mir mein eigenes Denken vom Zuhandenen zum Vorhandenen wurde, weil ich nämlich sehr bald sehr am Ende war mit dem Versuch, denkend meine Welt – selbst angesichts der noch recht einfachen Form meines Fahrrads – zu verstehen.

Das ganze Nachdenken ist ja noch ein recht harmloses Freizeitvergnügen – bis eine Finanzkrise kommt und den Fräser (oder Gießer) meiner Fahrradkettenbestandteile arbeitslos macht, den ganzen Ablauf der Fahrradproduktion zerschlägt und es im schlimmsten Fall unmöglich macht, Ersatzteile zu bekommen, weshalb das Fahrrad vorhanden bleibt und – trotz allen Nachdenkens über die Bewandtnisganzheit – nicht wieder zuhanden wird.

Daraus schlussfolgere ich messerscharf, dass es nicht reicht, erst zu fragen, was es mit den Finanzmärkten für eine Bewandtnis hat, wenn sie nicht mehr funktionieren. Man muss also dem Vorhandenwerden zuvorkommen und sich schon mal während man etwas benutzt (wie zum Beispiel Geldanlagen in Form von Finanzderivaten kauft) Gedanken machen, wie es funktioniert. Zum Glück leben wir in einer Gesellschaft, in der nicht jeder alles verstehen muss. Deshalb reicht es, wenn Christian in meiner Fahrradwerkstatt, der gelernter Industrieschlosser ist, weiß, wer wie und warum die Einzelteile von Fahrradketten herstellt. In Anlehnung an eine Idee von Hilary Putnam kann man das das Prinzip der hermeneutischen Arbeitsteilung nennen.

Die funktioniert jetzt aber auch nur so lange, wie alle Leute den verschiedenen Fachleuten vertrauen, ob es jetzt Banker_innen oder Industrieschlosser_innen sind, und glauben, dass die genug wissen, um nicht funktionierende Sachen wieder zu reparieren. Das ist ein Problem, weil es immer Banker_innen und Industrieschlosser_innen gibt, die kein Interesse daran haben, dass alle Gegenstände funktionieren, weil sie mehr Geld verdienen können, je mehr kaputt geht, was sie reparieren müssen. Bei Finanzderivaten ist die Sache eigentlich noch bescheuerter – weil manche Derivate nur dadurch Geld bringen, dass andere kaputtgehen. Ich frage mich sowieso, wie die Leute bei solchen Bewandtnissen einander überhaupt vertrauen.

Franz Kafka hat ja bei einer Versicherung gearbeitet – was vielleicht erklärt, warum seine Geschichten oft so gruselig sind und scheinbare Gewissheiten flux in nichts auflösen – Kafka wusste wahrscheinlich sehr gut, wie den Leuten scheinbare Sicherheit verkauft wurde, die sich dann im Ernstfall als ungedeckter Scheck erwies – tut uns leid, Sie hätten Anlage 25 f ihrer Versicherungspolice lesen sollen, denn darin sind Brandschäden durch Feuersbrünste, die durch Kabelbrand in Elektrogeräten, die älter als 2 Jahre sind, ausgelöst wurden, ausdrücklich von der Erstattung ausgenommen.

Leider ist allein die Zeit, die man braucht, um sich mit der Bewandtnis seiner eigenen Versicherungspolicen vertraut zu machen, inzwischen so enorm, dass man entweder seinen Job kündigen oder auf Kontakt zu seinen Freunden verzichten müsste, um wirklich zu verstehen, was man tut, wenn man die Policen unterschreibt.

Wie schwierig wird es dann wohl, die Bewandtnisganzheit zu verstehen? Ich finde, wir sollten es da mit Heideggers Lehrer Husserl halten, der geschrieben hat, dass man, wenn man überhaupt etwas erkennen will, gut daran tut, alle Sinnkonstruktionen, die man beim Wahrnehmen normalerweise automatisch verwendet, zeitweise außer Kraft zu setzen, und ersteinmal möglichst unvoreingenommen zu schauen, was man vor sich hat. Die Bewandtnisganzheit können wahrscheinlich nur Leute, die ordentlich Peyote genommen haben, ansatzweise verstehen. Und die haben dann natürlich alles wieder vergessen, sobald sie wieder klar sind. Wahrscheinlich zum Glück.