„GMX rät: Achten Sie auf Ihre Identität!“

Wer bin ich? Und noch viel wichtiger: Wie bin ich hierhergekommen? Das könnten die Gedanken sein, die einem „Selbstfindling“ kommen, wie ihn Peter Sloterdijk in seinem Buch „Weltfremdheit“ skizziert: Plötzlich wird er seiner selbst gewahr auf freiem Feld, keine Ahnung bezüglich seines Woher beschleicht ihn.

Meistens ist es ja anders: Ich lerne jemanden kennen und erzähle, wie ich als Kind spät schwimmen gelernt habe und wer meine besten Freunde waren, als ich 15 war und wann ich mit wem und warum meine erste Kippe geraucht habe. Wie ich vernünftig wurde und das Rauchen aufgab. Und wie ich heute oft noch mit der Lust kämpfe, wieder eine zu rauchen. Man könnte sagen: Ich bin mit Identität überversorgt. Gerade im Zeitalter der therapeutischen Kultur, wie sie Eva Illouz in „Die Errettung der modernen Seele“ soziologisch analysiert, verfüge ich über ein reiches Repertoire an Geschichten über mich, meine Beziehungen und die Traumata meiner Kindheit, die mich dazu bringen, nachts Schokolade zu essen und danach nicht Zähne zu putzen.

Also: „Wer bin ich?“ Klauben wir ein paar Worte zusammen. Was heißt überhaupt das „bin“ in dem Satz? Wir können mit dem Wort „ist“ drei ganz verschiedene Beziehungen ausdrücken: Wir sagen, dass etwas existiert, „ich bin“, dass etwas bestimmte Eigenschaften hat („ich bin grün“ zum Beispiel, wenn man zu viele Caiprinhas getrunken hat) und dass etwas mit etwas anderem identisch ist wie in „Karl Marx ist der Verfasser des Kapitals gewesen“. Die Frage „Wer bin ich“ setzt die Existenz eines Fragenden voraus, jedenfalls, wenn man nicht das Subjekt als ein herumspukendes Etwas in den variierenden Kontexten wabernder Diskurse denkt, wie einige der schlechteren Postmodernisten. Ich kann jetzt auf die Frage also zweierlei Antwort geben: Ich bin der, der blöderweise mit 15 das Rauchen angefangen hat. In dieser Antwort identifiziere ich mich als derselbe, der ich vor 21 Jahren war, und ich prädiziere mir bestimmte Eigenschaften (x hat mit 15 geraucht).

Es scheint nun so zu sein, dass jemand nur genug Eigenschaften von mir kennen muss, um mich zweifelsfrei als Arne Erdmann identifizieren zu können, und weil ich ein vernünftiges Wesen bin, kann dieser jemand auch ich sein, wenn ich über mich nachdenke. Ausschließen muss ich dann lediglich, dass irgendwo auf der Welt jemand herumspringt, der genau dasselbe Bündel von Eigenschaften hat. Und wenn ich denke: „Ich sitze hier und schreibe über mich“ dann ist es quasi ausgeschlossen, dass jemand anderes an derselben Stelle sitzt und über sich schreibt.

Allerdings ist da noch Foucault. Nein, Foucault sitzt nicht auf meinem Platz und schreibt über sich diesen Text. Aber er war der Auffassung, dass ich, also der ehemalige Raucher Arne Erdmann, um hier über mich schreiben zu können, schon Zugeständnisse hinsichtlich dessen gemacht haben muss, was ich mir zu schreiben erlaube und was nicht. Ich könnte also nicht schreiben, dass ich im Alter von 12 *** und im Alter von 20 ***, weil ich hier sonst gar nicht schreiben könnte. Das bedeutet: Wer ich bin, entzieht sich diesem Text perfiderweise grundsätzlich, weil ich nur bestimmte Eigenschaften erzählen kann.

Das Problem an diesem Problem ist: Der deutsche Staat stellt sich diese philosophische Identitätsfrage gar nicht, und wenn ich schriebe, dass ich neulich in Marburg auf einer Demonstration *** hätte, dann könnte mich eine Behörde ganz schnell über mein Impressum, meinen Wohnsitz und meinen Namen, Geburtsort und mein Geburtsdatum identifizieren und ließe sich auch ganz schlecht davon überzeugen, dass das mit der Identität philosophisch gesehen gar nicht so einfach ist.

Ist das Philosophieren über Identität also müßig? Und warum rät dann GMX „Achten Sie auf Ihre Identität“? Und ist das ungefähr so gemeint wie „Achten Sie auf ihr Handgepäck“? Wie fühlt es sich an, wenn der Staat die Datei mit meinen Identitätsmerkmalen verliert? Und kann ich dann hier schreiben, dass ich neulich ***, ohne dass ich etwas verschweigen muss, und trotzdem ein Subjekt bleiben, das schreibt? Wie fühlte es sich an, wenn ich schriebe wie Denis Diderot, trotzdem aber im Impressum „Arne Erdmann“ stünde?

„Web.de rät: Achten Sie auf die Identität der anderen!“ Wie schnell haben wir eine andere Identität beklaut und rauchen Zigaretten wie Helmut Schmidt, sind frisiert wie Sid Vicious oder knutschen wie Moritz Bleibtreu. Manchmal klauen wir sogar Eigenschaften, die ihre Besitzer mühsam vor der Polizei versteckt haben, wie zum Beispiel ich hier die staatskritische Haltung von Diderot.

„L’etat, c’est moi!“, das hat Louis XIV gesagt, und wenn er gewusst hättte, dass Foucault zufolge wir alle mit Recht diesen Satz sagen könnten, hätte er sich die Haare gerauft, wenn nicht diese Perücke im Weg gewesen wäre. „Der Staat, das sind die anderen.“ (Arne I). Ich erlaube mir, mich bei Bedarf später zu zitieren, warne mich aber vor der damit nötig werdenden Fußnote.