Elektromagnetische Nazis

Am dicken Ende kommt noch Carl Schmitt zu Wort. Der „Kronjurist des 3. Reiches“ (Gerd Koenen) und bekennende Obernazi sieht „elektromagnetische Wellen“ in den Raum eindringen und „Bewohner beeinflussen“. Vulgo: Radio hören beeinflusst Ihre Meinung. Was für eine Erkenntnis, und das schon in den 1980er Jahren! Chapeau, Herr Schmitt! Das ist die bahnbrechendste Erkenntnis seit Ihrem Werk „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für fremde Mächte“, mit dem Sie den Mörderimperialismus Nazideutschlands juristisch flankiert haben! Ich habe jetzt richtig Angst, dass elektromagnetische Wellen aus den USA in den deutschen Großraum eindringen und mich beeinflussen, so dass ich Produkte von Coca Cola kaufe. Sapperlot, ich habe mir tatsächlich neulich gegen meine Gewohnheit eine Cola am Bahnhof in Viersen gekauft! Eine kurze Googlesuche belehrt mich: Die USA betreiben einen geheimen Geheimstützpunkt 50 Kilometer von Viersen, Anonymus und der Hackerclub Castrop-Rauxel haben geheime Geheiminformationen ins Netz gestellt: Die NSA, die CIA und der Golden Poodle Club Minnesota senden über Hochfrequenzanlagen Kaufbefehle für Coca-Cola!

Und jetzt habe ich mit dem Imperialistengebräu aus Viersen meinen deutschen Körper verseucht und werde beim Compact-Kongress nicht mehr reingelassen. Was für ein Elend. Da entgeht mir doch glatt, wie Rolf Hochhuth, der „größte deutsche Schriftsteller“ den Compactivisten versucht zu erklären, dass nicht alle Flüchtlinge böse sind. Mein Bildungsprozess ist erheblich verzögert. Und alles wegen dieser Wellen!

Ein bisschen unsicher bin ich aber nach der Lektüre des Artikels „Gehirnwäsche“ von Helmut Höge, der in der heutigen Taz erschienen ist, doch noch: Was will der Autor mir mit dem Artikel mitteilen? Irgendwie glaube ich, er will unter anderem die deutschen Behörden kritisieren. Aber warum? Weil sie einem Verdacht nicht nachgehen, demzufolge die deutsche Bevölkerung wider Willen zu Objekten gigantischer Feldversuche mit in das Bewusstsein eindringenden elektromagnetischen Wellen gemacht wird? Die Verdachtsmomente seien „u.a. plötzlich abfallende Atem- und Pulsfrequenzen…und Tinnitus“. Ich hatte auch mal einen Tinnitus, aber nicht wegen der Feldversuche der NSA, sondern weil die imposante Bläsersection der Skaband Panteon Rokkoko mir das Hirn weggeblasen hatte. Ich hätte Carl Schmitt auch empfohlen, sich, statt juristische und staatstheoretische Schriften zu verfassen, mal das Gehirn wegblasen zu lassen, dann hätte er vielleicht nicht solchen Unsinn produziert.

Carl Schmitt hat auch noch geschrieben, dass das Wesen des Politischen die Unterscheidung von Freund und Feind sei. Ich weiß jetzt nach dem Artikel von Höge aber gar nicht, wer der Feind ist, weil das da nicht drinsteht. Tja. Und jetzt?

Hach, ehrlich gesagt ist mir das mit diesen Wellen viel zu kompliziert. Ich denke einfach, dass die Nazis inklusive dem verehrten Volksfreund Carl Schmitt der Feind sind, und fertig ist die Gartenlaube.

Es erleichtert einem vieles, wenn man einen Feind hat. Es gibt einem Orientierung und strukturiert den Tag. Carl Schmitt ist, das muss ihm der Neid lassen, wirklich ein super Feind, und das obwohl er schon tot ist. Es reicht, drei Zeilen von seinem Gefasel zu lesen, und schon platzt mir der Kragen, ich kriege Bluthochdruck und fange wie wild an, Blogeinträge zu schreiben.

Kommentar zum Artikel: Höge, Helmut: „Gehirnwäsche“ TAZ vom 27.10.2015, S. 6.

Wie ich als Attac-Mitglied trotzdem für TTIP sein könnte

Ich bin jetzt seit langer Zeit gegen das TTIP („Transatlantic Trade and Investment Partnership“, „Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft“) aktiv. Ich habe die europäische Bürgerinitiative gegen TTIP und CETA unterschrieben. Ich habe in Fußgängerzonen mit den anderen Marburger Attac-Leuten im Rahmen der europäischen Bürgerinitiative gegen TTIP einige der über 2 Millionen Unterschriften gegen das TTIP eingeworben, die wir europaweit gesammelt haben. Ich habe an Anti-TTIP Flashmobs teilgenommen. Ich habe für die Anti-TTIP Demonstration am 10.10. in Berlin Geld gespendet, und ich habe Menschen über die Nachteile des Freihandelsabkommens informiert.

Dabei bin ich gar nicht per se gegen Freihandel. Ich finde Freihandel in bestimmten Grenzen und unter bestimmten Bedingungen okay. Nur nicht unter denen, die der EU-Kommission und Jean-Claude Juncker so vorschweben.

Meine Vorstellung von einem vernünftigen Freihandel zwischen Kanada, den USA und der EU sieht so aus: Der Freihandel muss so organisiert sein, dass die Demokratie und die Menschenrechte für alle Menschen gestärkt werden.

Dies ist meiner Meinung nach unter drei Bedingungen der Fall:

1. Das Abkommen darf kein „Living Agreement“ sein und es darf keinen regulatorischen Rat („Regulatory Coordination Council“) geben.

(Living Agreement heißt, dass die Parlamente nur einmal über das Abkommen abstimmen. Dabei stimmen sie dann einem Passus im Abkommen zu, der vorschreibt, dass ein Gremium geschaffen wird, das den Vertrag ohne Zustimmung der Parlamente „weiterentwickeln“ kann. In diesem Gremium, das regulatorischer Rat, Regulatory Coordination Council, heißt, sollen Wirtschaftslobbyisten sitzen.)

Es darf keine Entdemokratisierung durch Selbstentmachtung der Parlamente beiderseits des Atlantik geben.

2. Die internationalen Schiedsgerichte, die über Verstöße gegen das TTIP urteilen, müssen ordentliche Handelsgerichtshöfe mit demokratischer Legitimation sein.

(Im Moment sind die internationalen Schiedsgerichte, die es im Rahmen anderer Freihandelsabkommen schon gibt, zusammengesetzt aus drei Anwälten für internationales Handelsrecht, einer vertritt den Kläger, zum Beispiel einen Konzern oder Investor, einer den beklagten Staat und die beiden wählen einen dritten Anwalt aus, der dadurch Richter wird. In diesem lukrativen Rahmen können private Kläger Staaten auf Milliarden Schadensersatz verklagen, wenn diese ihre Gesetze ändern, wie zum Beispiel beim deutschen Atomausstieg, wegen dem Vattenfall gerade die BRD auf mehrere Milliarden Euro Schadensersatz verklagt hat.)

Weil internationale Handelsgerichtshöfe die Handlungsfähigkeit der Demokratie durch finanziellen Druck massiv einschränken können, müssen diese Gerichtshöfe demokratisch kontrolliert sein. Das bedeutet: Die Richterinnen und Richter müssen einen Senat mit mindestens 15 Personen bilden, und sie müssen im Fall des TTIP vom Europäischen Parlament, vom  Rat der Europäischen Union, vom Europäischen Rat und vom amerikanischen Kongress und Senat eingesetzt und von den beteiligten Staaten auch bezahlt werden. So ist eine unabhängige Justiz im Sinne der Bürgerinnen und Bürger möglich. In Anbetracht der Milliardenbeträge, um die es bei den Klagen geht, sind die Ausgaben dafür zu verschmerzen.

Außerdem muss es vertraglich geregelte Verfahren und Revisionsmöglichkeiten geben, also auch mehrere Instanzen. Das sind rechtsstaatliche Grundstandards.

Nachdem ich den Modell-Investitionsschutzvertrag von Markus Krajewsky gelesen habe, bin ich zudem der Meinung, dass Konzerne oder andere Investoren, die Staaten verklagen, zuerst vor nationalen Gerichten klagen müssen, und erst in späteren Berufungsverfahren letztendlich dann vor dem internationalen Handelsgerichtshof klagen dürfen. Ich kann nicht ganz einsehen, warum ich als Bürger den ganzen Instanzenweg beschreiten muss, bis ich vor dem Europäischen Gerichtshof klagen darf, Konzernen und Investoren aber diese juristische Ochsentour erspart bleiben soll.

3. Es darf keine Absenkung von Standards geben, die den Menschen dienen, etwa im Arbeitsrecht und der Wirtschaftsdemokratie, beim Verbraucherschutz, bei den Sozial- und Umweltstandards und den Regeln für den Finanzsektor. Und zwar weder in den USA, noch in der EU, noch in Kanada.

So. Ich bin bereit, eine Partei zu wählen, die unter genau diesen Bedingungen für das TTIP eintritt. Und zwar, obwohl ich attac-Mitglied bin. Ich fürchte nur, die Responsivität der EU-Regierung und der Regierung Deutschlands ist so defizitär, dass sie  auf einen vernünftigen Kompromissvorschlag nicht eingehen werden, einfach, weil die Lobby für das TTIP so mächtig ist. Damit will ich sagen: Die Regierungen hören im Bezug auf ihre neoliberale Deregulationspolitik den Menschen nicht zu und sie handeln in diesem Kontext auch nicht im Interesse der Zivilgesellschaft. Schade, Scheiße, um mit Fanny Van Dannen zu sprechen.

Freiheit als trojanisches Pferd, Pränataldiagnostik und ideale Menschen

Manche neue Freiheiten werden als trojanische Pferde missbraucht. Das habe ich aus Axel Honneths Überlegungen in seinem Aufsatz „Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Individualisierung“ in „Das Ich im Wir“ von 2010 gelernt. Honneth  wundert sich, dass die Neuen Sozialen Bewegungen in den 60er und 70er zwar mehr Freiheiten erkämpft haben, weil viele Menschen der Generation meiner Eltern sich damals selbst verwirklichen und nicht mehr nur dem Staat, der Wirtschaft, der Familie und/oder der Kirche dienen wollten.

Aber obwohl im Arbeitsleben von Firmen und vom Staat anscheinend viele Angebote für Selbstverwirklichung gemacht werden, wenn Leute zum Beispiel in einem Konzern Projektstellen bekommen, in denen sie selbstbestimmt und kreativ arbeiten können, oder wenn der Staat  „Ich-AGs“ fördert, also Kleinstunternehmen, in denen die frischgebackenen Selbständigen dann scheinbar ganz frei arbeiten können, haben sich die Hoffnungen der generation meiner Eltern auf mehr Freiheit nicht wirklich erfüllt. Warum nicht?

Honneth antwortet: Weil die Firmen die normativen Intentionen der Arbeitenden nur scheinbar erfüllen, und statt den Leuten mehr Freiheit zu bieten, bekommen sie sogar noch schwierigere Forderungen gestellt als die Generation ihrer Eltern: Jetzt müssen sie nämlich sich selbstverwirklichen, müssen kreativ und selbständig arbeiten und kriegen halt auch keinen unkündbaren nine-to-five-job mit klaren Vorgaben und Hierarchien mehr, sondern stattdessen eine befristete Projektstelle, in der sie vollkommen frei und kreativ den Profit des Konzerns exponentiell steigern sollen, um dann in zwei Jahren wieder „freigesetzt“ zu werden (also um wieder arbeitslos zu sein).

Die Paradoxie besteht also darin, dass die Freiheit, die sich die Leute wünschen, ihnen jetzt komischerweise als Vorgabe entgegenkommt, die sie erfüllen müssen.

Das ist ein trojanisches Pferd. Die Gesellschaft agiert nach dem Motto: „Du bekommst diese und jene Freiheiten, wenn Du dafür diese und jene Bedingungen akzeptierst und schön funktionierst im Rahmen dessen, was vorgegeben wird.“ Trojanische Pferde sind, wie wir seit Homer wissen, in Kämpfen sehr wirksame Mittel, um Leute zu besiegen. Und die  68er sind aus meiner Sicht unter anderem durch diese Technik besiegt worden. Sie wollten eine freie Gesellschaft und auf dem Marsch durch die Institutionen haben sie sich Jahr für Jahr mit Beamtenstellen, höheren Jahresgehältern, mehr Mitbestimmungsrechten in Gremien, Ehrungen für Lebenswerke und politischen Kompromissen einfangen lassen, bis von ihren Idealen nicht mehr viel übrig war außer einem seltsamen Unwohlsein, dass irgendwe das Leben begleitet und nicht weggeht.

Leider sind Strategien trojanischer Pferde im Kampf gegen eine freiere Gesellschaft sehr verbreitet. Ein weiteres Beispiel hat mir eine gute Freundin von mir jetzt beschrieben: Als sie schwanger wurde, war sie bei Ihrer Frauenärztin und die hat ihr erstmal alle möglichen Verfahren der Pränataldiagnostik aufgezählt und was die kosten, und dann sehr verständnislos geschaut, als meine Freundin sagte, sie wolle diese Untersuchungen nicht machen und die meisten Behinderungen entstünden sowieso während oder nach der Geburt.

Der Kampf all der Frauen und Männer für die Abschaffung des Abtreibungsverbots in Paragraph 218 war lange und mühsam. Dass Frauen heute das Recht haben, eine ungewollte Schwangerschaft unter bestimmten Bedingungen abzubrechen, musste gegen massive Widerstände erkämpft werden.

Anscheinend wird diese seit 1974 bestehende neue Freiheit jetzt gerade zu einem trojanischen Pferd gemacht: Dass Ärztinnen und Ärzte heute Frauen suggerieren, sie handelten verantwortungslos, wenn sie keine Pränataldiagnostik machen, um dann ein wahrscheinlich behindertes Kind eben abtreiben zu können, folgt einer Logik des Zwangs und der Kontrolle. Dahinter steckt ein Wunsch nach „normalen“ Kindern: Kindern, die viel und schnell lernen, im Haushalt helfen, sozial kompetent und selbständig sind, nie schwierig sind und keine Probleme machen… also wenn ich so recht darüber nachdenke, eigentlich ein Wunsch nach idealen Kindern. Ich weiß nicht, wie es bei Dir ist, aber ich persönlich empfinde es allerdings als schrecklich, wenn ich merke, von mir wird erwartet, dass ich jetzt einem Ideal entspreche (zum Beispiel in der Lehrerausbildung war das dauernd so).

Also scheint es so zu sein, dass die Freiheit dazu, sich gegen ein Kind und für eine Abtreibung entscheiden zu können, jetzt wie ein trojanisches Pferd die soziale Vorgabe mittransportiert, möglichst ideale Kinder zu erzeugen. Dabei wird aus irgendeinem Grund die zentrale Frage gar nicht gestellt: Was ist denn ein „idealer Mensch“? Gibt es das überhaupt? Und wenn ja, wer entscheidet , welche Eigenschaften „ideal“ sind? Und welche nicht? Und werden die Eigenschaften, die wir heute für ideal halten, auch von den Menschen im Jahr 2100 für ideal gehalten werden, oder ganz andere Eigenschaften? Vielleicht wird es im Jahr 2100 viel wichtiger sein, ein humorvoller Mensch zu sein, als ein intelligenter Mensch zu sein. Da werden sich die ganzen hochintelligenten, aber total verbissen leistungsorientierten Menschen schön ärgern, die manche Leute jetzt mit aller Kraft heranzuzüchten versuchen. Und wäre eine Gesellschaft von lauter idealen Menschen, sollten die Medizin und die anderen Technologien sie jemals herstellen können, überhaupt ein schöner Ort zum Leben? Ich bezweifle es stark.

Über den Genuss daran, von Musik überwältigt zu werden

Ich habe vor einigen Tagen das Konzert D-Dur Nr. 77 von Johannes Brahms in der Interpretation von Yehudi Menuhin gehört. Ich hatte schon lange keine klassische Musik mehr gehört, weil mir das immer zu anstrengend war mit den vielen Instrumenten im Orchester und der unglaublichen Fülle und Wucht dieser sinfonischen Werke. Außerdem gibts da keine klare Struktur von Strophe, Refrain und Bridge wie in der Pop-Musik und ich blicke nie durch, wie das Thema entwickelt wird und erkenne keine Strukturen und bin ehrlich gesagt auch zu faul dazu, mir die nötige Kultur anzueignen, um zu verstehen, was Beethoven, Brahms und Bruckner da eigentlich genau machen in ihren Kompositionen.

Aber nun hatte mir mein Vater diese Menuhin-CD geschenkt und in einer ruhigen Minute habe ich mich der Musik überlassen. Und war überwältigt. Und das hat sich gut angefühlt.

Jetzt bin ich ziemlich verdutzt, weil ich keine Ahnung habe, wieso ich das manchmal genieße, wenn mich etwas überwältigt. Konkret sah das bei Brahms so aus, dass ich auf meinem Sofa saß und geweint habe, weil ich gleichzeitig Trauer, Sehnsucht, Freude und Erleichterung empfunden habe. Das ist auch verrückt, weil das Emotionen sind, die normalerweise nacheinander auftreten. Und sich scheinbar auch gegenseitig widersprechen. Die Erleichterung ist am einfachsten zu erklären: Es war unglaublich entlastend, mich nicht mehr selbst kontrollieren zu müssen. Die ganzen Emotionen, die Brahms, Menuhin und die anderen Musiker*innen in mir hervorgerufen haben, haben nämlich die Wächter in meinem Geist, die Rationalität, die Reflexivität und den bewussten Willen, einfach weggespült. Gleichzeitig haben mir die Rhythmen, Harmonien und die Strukturen der Musik einen orientierenden Rahmen gegeben, und dadurch hat mir der Kontrollverlust keine Angst gemacht (was mir Kontrollverlust normalerweise ziemlich sicher macht).

Das ist wohl eine Erfahrung, die Herbert Marcuse als eine spielerische Andeutung nicht-entfremdeten Lebens gesehen hätte. Daher kommt, denke ich, das Gefühl der Sehnsucht, der Freude und der Trauer: Die Musik gab mir eine Idee, wie das Leben in einer zukünftigen Gesellschaft sein könnte, in der sehr viele unterschiedliche Menschen mit Eigenheiten trotzdem harmonisch zusammen leben und gemeinsam etwas Schönes schaffen. Und die Trauer und die Sehnsucht kommen aus dem Bewusstsein, dass ich in dieser Gesellschaft noch nicht lebe, und dass das oft schmerzt.

Die Frage ist nur: Kommen wir zu einer solchen besseren Gesellschaft, wenn wir dauernd Lust dabei empfinden, uns überwältigen zu lassen? Das kommt nämlich ziemlich oft vor, öfter, als man denkt. Einige Beispiele aus meiner eigenen Erfahrung: wenn ich die Szene in „Last Samurai“ mit Tom Cruise anschaue, wo das Heer der Samurai, die sich den Traditionen des alten Japan verschrieben haben, von den Maschinengewehren der japanischen kaiserlichen Armee niedergeschossen wird. Wenn ich auf Demonstrationen in Sprechchöre einstimme, wo wir alle das gleiche brüllen, wie zum Beispiel „This is what democracy looks like“. Wenn ich beim Karate die Anweisungen meines Lehrers genauestens befolge.  Wenn ich auf der Arbeit meine Rolle als Lehrer vollkommen korrekt ausfülle, wenn ich auf einem Konzert von den Hellacopters poge. Wenn ich total verliebt bin mit Haut und Haaren. Wenn ich am Meer den Sonnenuntergang sehe. Das sind alles Momente, in denen ich von etwas überwältigt bin, was irgendwie größer und mächtiger ist als ich, und obwohl ich meine Freiheit liebe, finde ich diese Überwältigung schön. Das ist doch irgendwie seltsam.

Bei anderen Leuten nimmt dieselbe Lust andere Formen an: Eine Freundin hat mir kürzlich erzählt, dass Christen einen Stand in Marburg gemacht haben, und in einer Anleitung zum Beten, die sie da verteilt haben, stand die Gebetsvorlage „Lieber Gott, verzeih mir, dass ich mein Leben selbst bestimmt habe.“ Ich stelle mir vor, dass es vielen Menschen irgendwie dieselben Gefühle der Freude, Erleichterung, Trauer und Sehnsucht macht, so zu beten, die es mir macht, Brahms zu hören. Der Unterschied ist nur, dass ich da kein Lebensprogramm draus mache und nicht von mir verlange, dass ich dauernd in Demut alles akzeptiere, was das Leben so mit sich bringt. Brahms würde das sicher auch nicht von mir fordern, ich denke, für Brahms wäre es ok, wenn ich stinksauer bin, weil zu wenig Geld in die Schulen fließt und ich in schadhafter Infrastruktur zu große Oberstufenkurse unterrichten muss, während Hedgefondmanager ihre gigantischen Profite nicht versteuern müssen.

Aber eins ist auch klar: Diese Idee, die Welt, die Natur, die anderen Menschen und unsere Gefühle und unsere Körper seien mit der richtigen Technik und Strategie komplett kontrollierbar und verfügbar, die uns manchmal leitet, wenn wir an einem besseren Leben arbeiten, die ist auch einseitig und illusorisch. Das heißt, die Lust an meiner eigenen Überwältigung kann die Lust an einer Wahrheit sein, die ich manchmal vergesse: Dass ich es sehr oft nicht in der Hand habe, wie mein Leben verläuft. Ich kann meine Oberstufenkurse nicht auf 15 Leute verkleinern. Und ich kann die Hedgefondmanager nicht besteuern.

Deshalb werde ich jetzt bestimmt nicht um Verzeihung dafür bitten, dass ich die Freiheit, die mir dieses Leben gibt, so nutze, wie ich das für richtig halte. Ich werde bestimmt nicht Demut an die Stelle von Autonomie setzen, um dann am Ende in einer Art innerem Mittelalter zu landen und mich mit Freude für meine Sünden geißeln zu lassen. Nein, vielen Dank. Aber die Wahrheit, die in meinem Brahmserlebnis steckt, ist für meine Freiheit keine Gefahr, sondern eine Chance. Denn sie hilft mir, mich nicht zu verschätzen, was meine Macht und meine Selbstbestimmungsfähigkeit angeht. Danke, Johannes Brahms, Danke, Yehudi Menuhin. Wenn ich einen Hedgefondmanager kennen würde, würde ich ihm die CD mal schicken.