Freiheit als trojanisches Pferd, Pränataldiagnostik und ideale Menschen

Manche neue Freiheiten werden als trojanische Pferde missbraucht. Das habe ich aus Axel Honneths Überlegungen in seinem Aufsatz „Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Individualisierung“ in „Das Ich im Wir“ von 2010 gelernt. Honneth  wundert sich, dass die Neuen Sozialen Bewegungen in den 60er und 70er zwar mehr Freiheiten erkämpft haben, weil viele Menschen der Generation meiner Eltern sich damals selbst verwirklichen und nicht mehr nur dem Staat, der Wirtschaft, der Familie und/oder der Kirche dienen wollten.

Aber obwohl im Arbeitsleben von Firmen und vom Staat anscheinend viele Angebote für Selbstverwirklichung gemacht werden, wenn Leute zum Beispiel in einem Konzern Projektstellen bekommen, in denen sie selbstbestimmt und kreativ arbeiten können, oder wenn der Staat  „Ich-AGs“ fördert, also Kleinstunternehmen, in denen die frischgebackenen Selbständigen dann scheinbar ganz frei arbeiten können, haben sich die Hoffnungen der generation meiner Eltern auf mehr Freiheit nicht wirklich erfüllt. Warum nicht?

Honneth antwortet: Weil die Firmen die normativen Intentionen der Arbeitenden nur scheinbar erfüllen, und statt den Leuten mehr Freiheit zu bieten, bekommen sie sogar noch schwierigere Forderungen gestellt als die Generation ihrer Eltern: Jetzt müssen sie nämlich sich selbstverwirklichen, müssen kreativ und selbständig arbeiten und kriegen halt auch keinen unkündbaren nine-to-five-job mit klaren Vorgaben und Hierarchien mehr, sondern stattdessen eine befristete Projektstelle, in der sie vollkommen frei und kreativ den Profit des Konzerns exponentiell steigern sollen, um dann in zwei Jahren wieder „freigesetzt“ zu werden (also um wieder arbeitslos zu sein).

Die Paradoxie besteht also darin, dass die Freiheit, die sich die Leute wünschen, ihnen jetzt komischerweise als Vorgabe entgegenkommt, die sie erfüllen müssen.

Das ist ein trojanisches Pferd. Die Gesellschaft agiert nach dem Motto: „Du bekommst diese und jene Freiheiten, wenn Du dafür diese und jene Bedingungen akzeptierst und schön funktionierst im Rahmen dessen, was vorgegeben wird.“ Trojanische Pferde sind, wie wir seit Homer wissen, in Kämpfen sehr wirksame Mittel, um Leute zu besiegen. Und die  68er sind aus meiner Sicht unter anderem durch diese Technik besiegt worden. Sie wollten eine freie Gesellschaft und auf dem Marsch durch die Institutionen haben sie sich Jahr für Jahr mit Beamtenstellen, höheren Jahresgehältern, mehr Mitbestimmungsrechten in Gremien, Ehrungen für Lebenswerke und politischen Kompromissen einfangen lassen, bis von ihren Idealen nicht mehr viel übrig war außer einem seltsamen Unwohlsein, dass irgendwe das Leben begleitet und nicht weggeht.

Leider sind Strategien trojanischer Pferde im Kampf gegen eine freiere Gesellschaft sehr verbreitet. Ein weiteres Beispiel hat mir eine gute Freundin von mir jetzt beschrieben: Als sie schwanger wurde, war sie bei Ihrer Frauenärztin und die hat ihr erstmal alle möglichen Verfahren der Pränataldiagnostik aufgezählt und was die kosten, und dann sehr verständnislos geschaut, als meine Freundin sagte, sie wolle diese Untersuchungen nicht machen und die meisten Behinderungen entstünden sowieso während oder nach der Geburt.

Der Kampf all der Frauen und Männer für die Abschaffung des Abtreibungsverbots in Paragraph 218 war lange und mühsam. Dass Frauen heute das Recht haben, eine ungewollte Schwangerschaft unter bestimmten Bedingungen abzubrechen, musste gegen massive Widerstände erkämpft werden.

Anscheinend wird diese seit 1974 bestehende neue Freiheit jetzt gerade zu einem trojanischen Pferd gemacht: Dass Ärztinnen und Ärzte heute Frauen suggerieren, sie handelten verantwortungslos, wenn sie keine Pränataldiagnostik machen, um dann ein wahrscheinlich behindertes Kind eben abtreiben zu können, folgt einer Logik des Zwangs und der Kontrolle. Dahinter steckt ein Wunsch nach „normalen“ Kindern: Kindern, die viel und schnell lernen, im Haushalt helfen, sozial kompetent und selbständig sind, nie schwierig sind und keine Probleme machen… also wenn ich so recht darüber nachdenke, eigentlich ein Wunsch nach idealen Kindern. Ich weiß nicht, wie es bei Dir ist, aber ich persönlich empfinde es allerdings als schrecklich, wenn ich merke, von mir wird erwartet, dass ich jetzt einem Ideal entspreche (zum Beispiel in der Lehrerausbildung war das dauernd so).

Also scheint es so zu sein, dass die Freiheit dazu, sich gegen ein Kind und für eine Abtreibung entscheiden zu können, jetzt wie ein trojanisches Pferd die soziale Vorgabe mittransportiert, möglichst ideale Kinder zu erzeugen. Dabei wird aus irgendeinem Grund die zentrale Frage gar nicht gestellt: Was ist denn ein „idealer Mensch“? Gibt es das überhaupt? Und wenn ja, wer entscheidet , welche Eigenschaften „ideal“ sind? Und welche nicht? Und werden die Eigenschaften, die wir heute für ideal halten, auch von den Menschen im Jahr 2100 für ideal gehalten werden, oder ganz andere Eigenschaften? Vielleicht wird es im Jahr 2100 viel wichtiger sein, ein humorvoller Mensch zu sein, als ein intelligenter Mensch zu sein. Da werden sich die ganzen hochintelligenten, aber total verbissen leistungsorientierten Menschen schön ärgern, die manche Leute jetzt mit aller Kraft heranzuzüchten versuchen. Und wäre eine Gesellschaft von lauter idealen Menschen, sollten die Medizin und die anderen Technologien sie jemals herstellen können, überhaupt ein schöner Ort zum Leben? Ich bezweifle es stark.