Die Autos, Kaffee und die Sehnsüchte

Vor ein paar Tagen fuhr ich mit meinem Fahrrad über eine Marburger Straße und da hatte ich plötzlich eine Idee, warum das Auto in Deutschland so eine immens große Rolle spielt: Ich glaube, dass viele Menschen sich in ihrem Leben als Sesshafte, in der Sicherheit ihres Alltags und in ihrem Haus, in der Routine ihres Jobs, in der Gemeinde ihres Heimatortes eingerichtet haben, aber insgeheim die Sehnsucht haben, einfach zu verschwinden und auf Reisen zu gehen, alles hinter sich zu lassen und alle Bindungen zu kappen.

Das würden sich die Menschen aber weder ein- noch zugestehen, und deshalb gibt es eine tiefe Kraft in ihnen, die sich gegen ihr sonst so klares Lebensgefühl stemmt. Um diese Kraft zu bändigen, kaufen sie sich ein Auto, weil das als Symbol die Synthese des Sicherheitsbedürfnisses und des Freiheitsbedürfnisses zu sein scheint. Es ist ein abgeschlossener, abgeschirmter Raum, wohltemperiert, mit Musik, und zugleich kann man damit von 0 auf hundert in wenigen Momenten beschelunigen und nach Timbuktu fahren, wenn man will.

Wenn ich mir manchmal Autowerbung in Magazinen oder im Fernsehen anschaue, dann bin ich oft überrascht, dass da ein einsames Auto durch wunderschöne Landschaften fährt, wobei unser Verkehrsalltag ja genau das Gegenteil davon ist, wir uns in einem riesen Wust von anderen Autos durch enge, laute Straßen bewegen. Ganz zu schweigen davon, dass unser Autofahren die großartigen natürlichen Landschaften zerstört, die dort in der Werbung gezeigt werden, indem durch sie Autobahnen gebaut werden und die Abgase die Ökosysteme zerstören.

Aber die Werbungsbilder sind natürlich Sehnsuchtsbilder, die so etwas ausdrücken wie den Wunsch, frei und naturverbunden zu leben, aber gleichzeitig den Wunsch, dabei nicht dauernd dem Nassen und Kalten der Natur ausgesetzt zu sein, am Ende noch richtig draußen zwischen Käfern, Mücken und Matsch. Ästhetisch gesehen ist auch der Kontrast zwischen modernem schnittigen Autodesign und der Naturlandschaft schick, weil die Landschaft erst die glänzende Kontur der Karosse so richtig zur Geltung bringt.

Man sagt, dass erst mit der Fähigkeit zu weitreichender Naturbeherrschung, etwa zur Zeit der Renaissance, abzulesen an Texten von Petrarca, die Natur als reines ästhetisches Objekt, als Gegenstand reinen Wohlgefallens, wahrgenommen werden konnte. Die Autowerbung drückt das im Prinzip aus, das Auto ist unsere technische Besucherkabine, in der wir das Museum der Natur besuchen und uns an ihm erfreuen wie an einem Bild von Caspar David Friedrich. So gesehen ist solche Autowerbung eine Feier unserer weitgehenden Entfremdung von der Natur und der ästhetischen Erfahrung, die diese Entfremdung möglich macht.

Irgendwie steckt aber noch eine Wahrheit über uns in den Bildern, nämlich dass wir einen Wunsch danach haben, alleine oder in kleinen Gruppen in der Natur zu sein, um zu uns und zur Ruhe zu kommen und frei zu sein, also die Entfremdung zu überwinden.

Also auf meinem Fahrrad ist es gerade meistens ziemlich kalt und nass, und ich hoffe, dass es jetzt mal bald wärmer wird. Ich habe aber einen riesigen Vorteil gegenüber den Autofahrenden: Wenn ich nach Hause komme, denke ich oft, wie gut ich es habe, eine schöne Wohnung zu haben, in der es warm und trocken ist. Und ich denke an die Menschen, wie die Geflüchteten in Griechenland und die Obdachlosen hier in Deutschland zum Beispiel, die ich manchmal unter den Brücken liegen sehe, unter denen meine Fahrradwege vorbeigehen, die alle dieses Glück nicht haben. Und deshalb fühle ich mich in meinem Alltag dann doch ziemlich wohl, obwohl er mich einengt. Ich würde mich noch wohler fühlen, wenn ich noch mehr spenden könnte an Menschen, die in Not sind, aber dazu reicht mein Geld gerade nicht. Ich frage mich, wie jemand dazu kommt, ein Auto für mehrere zehntausend Euro zu kaufen, während zugleich andere Leute hungern und frieren.

Gut, aber damit bin ich wieder bei meiner 1000 Euro teuren Kaffeemaschine, über die ich schon geschrieben habe, die rechtfertige ich ja auch damit, dass ich einen schwierigen und belastenden Job mache und dass ich, damit ich nicht zusammenklappe, mir auch mal was gönnen muss. Wahrscheinlich machen dass die Autofahrenden ganz genau so, nur in anderen Dimensionen.

Aber ich fühle mich ihnen gegenüber trotzdem in der moralisch überlegenen Position, weil ich wenigstens versuche, maßzuhalten und irgendwie eine stimmige Balance zwischen Lebensgenuss, Umweltschutz, Umweltverbrauch und sozialer Verantwortung zu basteln. Vielleicht ist meine Kaffeemaschine mein Symbol für das Gewicht des Lebensgenusses in meiner persönlichen Balance. Bei meinem jetzigen Spendenverhalten muss ich noch bis 2020 warten, bis ich mir das nächste Symbol für Lebensgenuss leiste, damit es einigermaßen fair ist. Mal sehen, ob ich das schaffe.