Oscar Wilde, die A49 und die Fledermäuse

„Ein Zyniker ist ein Mensch, der von allem den Preis und von nichts den Wert kennt.“ – Oscar Wilde, Lady Windermeres Fächer, 3. Akt / Lord Darlington

Der kapitalistische Markt erzieht die Menschen zu Zynikern, weil auf ihm nur der Preis zählt, und nicht der Wert. Dieser Markt rechnet nicht damit, dass wir uns alle irren können – wir können Dinge für wertvoll halten, die es nicht sind, und den wahren Wert von Dingen verkennen. Wenn nur genug Marktteilnehmer*innen sich so täuschen, kommen Preise zustande, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben.

Gemeinwohlökonomie versucht, diese falsche Struktur zu korrigieren, und die Wirtschaft daran zu orientieren, was wertvoll ist, und nicht allein an den Preisen. Wie es Findus bei der großen Demo für den Dannenröder Wald auf der Kundgebung gesagt hat: Wir sollten darüber nachdenken, was wir wirklich brauchen. Das, was wir wirklich brauchen, ist das, was den größten Wert hat.

Mein Philosophielehrer Michael Weingarten hat mir aber in einem Seminar über die Wirtschaftstheorie von Ludwig Mises beigebracht, dass es unmöglich ist, „echte“ von „falschen“ Bedürfnissen zu unterscheiden. Was tun? Offensichtlich haben viele Menschen das Bedürfnis, Produkte von Ferrero in Stadtallendorf zu essen, und diese könnten kostensparend zu den Konsument*innen über die A49 transportiert werden. Und die Bedürfnisse der Dannenröder*innen, nicht neben einer Autobahn zu wohnen und saubere Luft zu atmen, müssten dann eben zurückstehen.

Ich muss Michael jetzt aber in einem Punkt widersprechen: Es gibt Bedürfnisse, die echter sind als andere. Mein Bedürfnis, Luft zu atmen, ist auf jeden Fall echter als mein Bedürfnis nach Ferrero Küsschen (das ich auch oft habe), aber warum? Weil ich ohne Luft mir auch keine Ferrero Küsschen mehr wünschen könnte. Mein Bedürfnis zu atmen muss erfüllt werden, damit ich das Bedürfnis nach Ferrero Küsschen überhaupt haben kann. Die Erfüllung mancher Bedürfnisse ist also die Bedingung dafür, andere Bedürfnisse überhaupt haben zu können. Lebensnotwendige Dinge wie saubere Luft haben also unbedingt einen höheren Wert als Dinge, auf die wir auch verzichten könnten, ohne dass unsere Fähigkeit, überhaupt Bedürfnisse und Wünsche zu entwickeln, darunter leiden würde. Und wenn uns etwas als ein Bedürfnis erscheint, dessen Befriedigung uns oder anderen die Luft zum Atmen nimmt, dann nenne ich das ein falsches Bedürfnis.

Ist doch logisch? Tja, der kapitalistische Markt funktioniert aber nach einer anderen Logik. Weil Luft eine „Allmende“ ist – ein Gemeingut, das (noch) nicht privatisiert wurde, hat sie keinen Preis – und deshalb ist die Atmosphäre dem kapitalistischen Markt sowohl als Ressource als auch als Senke (also als etwas, das er verschmutzen kann) schlicht egal – er rechnet nicht damit. Emissionshandel ist der Versuch der Staaten, das zu ändern und Luft mit einem Preisschild zu bekleben – ihre Verschmutzung soll etwas kosten. Im Prinzip ist das nicht schlecht – nur glaube ich, dass, sobald die Staaten die Luft eingepreist haben, der Kapitalismus die nächste Allmende ausbeuten wird, ob das nun Meerwasser, die Mineralien auf dem Mars oder Sonnenlicht oder Liebe ist. Tut mir leid, aber ich glaube nicht, dass wir den ganzen Laden retten können, indem wir einfach allem einen Preis geben – eben weil sich auch alle Marktteilnehmer*innen zugleich täuschen können. Daran wird auch der schlaueste Green Deal nichts ändern. Ganz zu schweigen von dem Problem, dass auf dem Markt nicht alle gleich reich, nicht alle gleich informiert sind und noch nicht einmal alle teilnehmen können.

Das N in Kapitalismus steht für Naturschutz – fotografiert am 7.10.2020 im Danni

Das Problem der gemeinsamen Täuschung ist übrigens auch das zentrale Problem der Gemeinwohlökonomie. Sie bietet immerhin die Möglichkeit, darüber zu diskutieren und zu entscheiden, was wertvoll (gemeinwohlorientiert) ist.

Faktisch können in unserer Demokratie im Moment nicht alle an einer Diskussion über das Allgemeinwohl gleichberechtigt teilhaben. Die Entscheidung für den Bau der A49, die 2015 im Rahmen des Bundesverkehrswegeplans im Bundestag getroffen wurde, ist ein gutes Beispiel. Gewählt wurden die Abgeordneten, die dort diskutiert und abgestimmt haben, nur von Menschen, die die deutsche Staatsbürgerschaft haben und über 18 sind. Die Klimakrise betrifft aber vor allem die unter 18jährigen, weil sie länger als wiir Älteren auf diesem Planeten leben werden und deshalb das größte Interesse an einer nachhaltigen, zukunftsfähigen Politik haben, die die Ökosysteme und die Ressourcen auch noch in 60 Jahren intakt hält. Die nächste Gruppe, die von der Klimakrise betroffen ist und keine Stimme in der Diskussion hatte, sind die Menschen des globalen Südens. Die ca. 800 Millionen Menschen zum Beispiel, die dort unter Hunger leiden, unter anderem wegen der Dürren, die die Klimakrise erzeugt, haben im Bundestag keine Vertretung.

Es gibt noch ein weiteres Problem: Selbst wenn alle betroffenen Menschen eine Stimme hätten, bliebe die Diskussion anthropozentrisch, auf die Menschen zentriert. Die Ecuadorianer*innen haben deshalb in ihrer Verfassung der Natur im Rahmen des buen vivir Konzepts den Status einen Rechtssubjekts gegeben. Sie versuchen damit, Probleme zu lösen wie dieses: Die Fledermäuse im Danni können über die A49 nicht mitreden – und sind auf Fürsprecher*innen wie die Aktivistis angewiesen, die versuchen, sich vorzustellen, wie es wäre, eine Fledermaus zu sein. In der Ethik nennt man das dann pathozentrisch (nicht nur der Mensch zählt, sondern alle Lebewesen, die Schmerzen empfinden können) oder biozentrisch (alle Lebewesen zählen).

Ich denke, wir müssen in diese Richtung gehen, weil ein konsequenter Anthropozentrist zugeben muss, dass die Menschen als isolierte Spezies nicht überlebensfähig sind, sondern nur als Teil eines Ökosystems mit vielen unterschiedlichen anderen Lebewesen zusammen.

Thomas Nagel hat geschrieben, kein Mensch könne wissen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein – und möglicherweise ist das wahr. Aber der Versuch, es sich vorzustellen, kann die Diskussion darüber, was Wert hat und was echte Bedürfnisse sind, in eine Richtung lenken, die uns Menschen davor schützt, uns alle gemeinsam in diesen wichtigen Fragen zu täuschen.

Auch die zukünftigen Generationen von Menschen können keine Stimmen in der Diskussion über den Wert haben – wir können uns wieder nur vorstellen, was sie wohl zu unserer Diskussion beitragen würden, wenn sie schon leben würden. Auch das setzt unserer Fähigkeit Grenzen, in einer Diskussion zu entscheiden, was echt wertvoll ist – und diese Grenzen sollten wir in der Diskussion immer mitdenken.

Ich bin aber ziemlich sicher, dass in 60 Jahren noch keine Technik erfunden sein wird, die es Menschen ermöglichen würde, zu leben, ohne zu atmen – deshalb bin ich auch ziemlich sicher, dass die im Jahr 2040 geborenen Menschen (übrigens genau wie die Fledermäuse, die heute im Danni leben) dafür stimmen würden, das Bedürfnis nach Ferrero Küsschen zurückzustellen und sich erstmal um einen Wald zu sorgen, der saubere und sauerstoffreiche Luft produziert, statt eine Autobahn zu bauen, die das Gegenteil macht.