Früher war alles besser, aber sehr verschwommen

Ich versuche, mich an das erste Lied zu erinnern, dass ich in meinem Leben gehört habe: Das erste, was mir einfällt, ist „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“, das war in einem Liederbuch, das in meiner Erinnerung sehr groß und dick und weiß mit schönen Zeichnungen zu vielen Liedern ist, und da konnte ich auch die Gans sehen. An den Fuchs erinnere ich mich nicht (das kann daran liegen, dass, wie Hans Rosling schreibt, unser Nervensystem die negativen Erinnerungen wegsubtrahiert, deshalb glauben wir, dass früher alles besser war, und je länger es her ist, desto besser erscheint es uns dann auch).

Meine Mutter hat mir, als ich 4 oder 5 war, auf der Querflöte die Lieder aus dem Buch vorgespielt, ich erinnere mich auch an „Hänschen klein“, das fand ich traurig.

Das erste Mal bei einem Lied in Tränen ausgebrochen bin ich dann, als ich mit etwa 7 den Abspann von einer Folge „Lucky Luke“ gesehen habe, in dem er auf Jolly Jumper in den Sonnenuntergang reitet und singt „I am a poor lonesome Cowboy, far away from home…“. Meine Mutter musste mich trösten, sie hat ganz erschrocken gefragt, warum ich denn so traurig sei, und ich konnte das nicht so richtig beantworten, ich habe nur irgendetwas geschluchzt, an dass ich mich leider nicht erinnern kann.

Ich kann nicht sagen, ob ich Bilder und Musik zusammen als Kind eindrücklicher fand als Musik ohne Bilder, oder ob meiner Erinnerung sich diese Kombination nur besser eingeprägt hat. Klar ist allerdings, dass meine Mutter eine wichtige Rolle bei meinen ersten Musikerlebnissen spielte. Sie hat uns Geschwistern auch die Kassette „Die Rübe“ gekauft, die ich glaube ich immer noch habe. Da war drauf: „Der Cowboy Jim aus Texas“ (der nachts auf seinem Pferd saß, hat einen Hut aus Stroh, und darin sitzt ein Floh…ich kanns immer noch im Kopf mitsingen: Yippie Yei, Yippie Yeiei, Yippie YeiYeiYeiYeiYei). Ich glaube, Benjamin hätte seinen Aufsatz über die technische Reproduzierbarkeit von Kunstwerken nochmal umgeschrieben, wenn er die Nazis überlebt und gesehen hätte, dass Kinder in den 1980er Jahren unermüdlich immer dieselben Kassetten nochmal und nochmal hörten.

Es wird wahrscheinlich die Herausforderung meiner Generation, mit den nächsten klarzukommen, die schon mit Spotify und einem unmittelbar zugänglichen Pluriversum von Musik aufwachsen und, wenn sie nicht wollen, keinen Song mehr als einmal hören müssen.

Der Titelsong der Rübe brauchte nun gar kein visuelles Bild, um sich mir einzuprägen, der Text reichte, weil ich mir die Gruppe Kinder, die zusammen an einer riesigen Rübe ziehen und sie auch nur zusammen mit den italienischen Nachbarskindern rausgezogen bekommen können, so in einem inneren Bild ausmalte, als hätte ich daneben gestanden. Ich hatte das Glück, später mit 14 mit einem Freund, der eine italienische Mutter hatte, am Lagerfeuer zu singen, und er war wahrscheinlich der wichtigste Gesangslehrer, den ich jeh hatte – er weiß nichts davon. Das kommt auch sehr viel später auf dieser Tonspur. Aber vielleicht hat die Rübe dieser Freundschaft, die bis heute besteht, schonmal den Weg geebnet.

Ich glaube, ich bin neuroatypisch (und Judith Butler würde mir da wahrscheinlich recht geben)

Heute habe ich in der Marburger Philosophie einen Vortrag von Stefan Lang (Wien) unter dem Titel “ Selbst, Selbstbewusstsein und Affekt“ gehört.

Lang will das Subjekt untersuchen, indem er zunächst den Fokus auf „neurotypische erwachsene Lebewesen“ setzt und versucht, davon ausgehend zu klären, was ein Subjekt (oder ein Selbst) ist. Er sagte, er schließe mit dem Begriff „neurotypisch“ Kleinstkinder, (soweit ich es verstanden habe, meint er alle Menschen, die noch nicht das Wort „ich“ beherrschen), Tiere und psychopathologische Menschen erst einmal aus der philosophischen Untersuchung aus.

Er begründete seine Forschungsfragen „Existieren Subjekte?“ und wenn ja, was sind dann Subjekte? damit, er versuche, Antworten auf die philosophische Diskussion zu finden, in der aus buddhistischer Perspektive bezweifelt werde, dass es Subjekte gebe.

Leider ist mir das beste Argument gegen Langs philosophisches Vorgehen mit dem Begriff „neurotypisch“ erst nach der Veranstaltung eingefallen, so dass ich es nicht mehr äußern konnte:

Ich habe mich gefragt, wie wir als Philosoph*innen eigentlich festlegen, was „neurotypisch“ ist. Ein erstes Problem taucht dabei nämlich auf, wenn wir uns fragen müssen, ob träumende Erwachsene eigentlich in dem Moment, in dem sie träumen, „neurotypisch“ oder „neuroatypisch“ sind (Excuse my language).

Dieses Problem können wir vielleicht lösen. Ein anderes, das an dem Clash zwischen der buddhistisch inspirierten mit der christlich inspirierten Philosophie erkennbar wird, aber, wie ich glaube, mit Langs Methode nicht: Ich denke, dass „neurotypisch“ für alle Menschen genau das ist, was Lang von vornherein ausschließt: Dass wir alle als hilflose, auf unsere Bezugspersonen angewiesene Säuglinge geboren werden, deren Bewusstsein vor allem aus Affekten besteht, lange bevor wir Worte wie „Ich“ oder „Praxis“ oder „Subjekt“ oder „Bewusstsein“ lernen. Dagegen ist wahrscheinlich, wie aus dem Konflikt zwischen der buddhistischen Perspektive und der westlichen Philosophie schon zu ersehen ist, bei den Menschen und auch ihren sozialen Gruppen und Organisationen kulturell bedingt auf den biographisch später sich entwickelnden Ebenen unseres Bewusstseins sehr unterschiedlich, was ein Selbst ist (und ob es so etwas überhaupt gibt). Das hängt von der jeweiligen Sprache und ihrer Logik und der sozialen Praxis, in die diese Sprache eingebettet ist, ab, und es dürfte rettungslos sein, auf diesen Ebenen der Großhirnrinde etwas „Typisches“ zu finden, was bei allen Menschen unabhängig von ihrer Kultur gleich ist.

Ich würde die Existenz von etwas für alle Menschen aller Kulturen „neurotypischen“ auf den durch Sprache und kulturelle Praxis vermittelten Ebenen von menschlichen Nervensystemen daher erstmal generell bezweifeln. Es macht typischerweise einen Unterschied in der Wahrnehmung und im Bewusstsein, ob ich an das Nirvana glaube oder daran, dass ich nach dem Tod Gott im Jüngsten Gericht gegenüberstehe, und dieser Unterschied ist vermutlich so tief in die Geistesgeschichte eingegraben, dass die damit jeweils verbundenen Formen der Identität trotz der Säkularisierung nicht mehr auf etwas „Typisches“ reduziert werden könnten.

Daher finde ich es sinnvoller, genau bei einer der Existenzweisen anzufangen, die Lang von vornherein ausschließt, nämlich beim Bewusstsein von Kleinkindern, wenn wir etwas neurotypisches für alle Menschen aufspüren wollen. Denn mit Judith Butler lässt sich sagen, dass die existenzielle Hilflosigkeit und Verletzlichkeit und die daraus folgende Abhängigkeit von den Bezugspersonen, beides spürbar in starken Affekten der Säuglinge und Kleinstkinder, wahrscheinlich für alle Menschen gleich welcher Kultur ziemlich ähnlich sind – das sind deshalb viel aussichtsreichere Phänomene, wenn wir etwas „neurotypisches“ finden wollen.

Von hier aus können wir dann wahrscheinlich auch irritierende Phänomene wie Träume besser verstehen – und davon träumen, dass wir weniger kulturell bedingte Missverständnisse und Konflikte haben werden, wenn wir mit der Zeit besser verstehen, was ein Subjekt und was ein Affekt und was eine menschliche Beziehung ist.

Ein drittes Problem mit dem „Neurotypischen“ besteht darin, dass die meisten Menschen im Alter ein weniger leistungsfähiges Zentralnervensystem bekommen, bis hin zur Demenz. Ist das typisch für Menschen? Ich würde sagen: Ja. Verlieren alte Menschen dadurch die Eigenschaft, Subjekte zu sein? Offensichtlich nicht. In einem durch Anerkennung von Menschenwürde geprägten sozialen Umfeld lebt die neurologisch voll funktionierende mittelalte Person, die eine demente Person einmal war, in der Erinnerung und in den Erzählungen ihrer sozialen Bezugspersonen weiter. Auf der Basis dieser sozialen Identität, die weitgehend ohne eine korrespondierende „normale“ Neurologie der Person auskommt, treffen dann Angehörige Entscheidungen zum Beispiel über lebenserhaltende medizinische Maßnahmen. Der Begriff des „neurotypischen erwachsenen Lebewesens“ schattet diese soziale Dimension personaler Identität ab. Sie ist aber ein zentrales Element dessen, was wir ein Subjekt nennen und dessen, was unser subjektives Bewusstsein ausmacht.

So geraten die Subjekte, die Lang untersuchen will, zu geburtlosen, nicht alternden, außerhalb der Zeit, der Geschichte und der sozialen Beziehungen existierenden Entitäten. Was das beitragen soll zur Debatte über Subjekte, ist mir sehr schleierhaft. Vielleicht fängt aber auch bei mir schon die Demenz an mit 44, und ich verstehe es nur deshalb nicht. Dann betrachte bitte diesen Text als gegenstandslos. Möglicherweise war ich aber noch neurotypisch, als ich anfing, ihn zu schreiben, und bin erst beim Verfassen langsam neuroatypisch geworden. In diesem Fall bitte ich Dich, im Text den Punkt zu finden, an dem ich anfing, mich zu verlieren.