Postpatriarchale Trickkiste, Trick Nr. 2: Ent-Identifizierung und Re-Identifizierung

Im Trick Nr. 1 habe ich über den patriarchalen Anteil geschrieben, der darin gründet, dazu erzogen zu sein, die eigene Trauer und den eigenen Schmerz nicht wahrzunehmen, sondern nur die eigene Wut.

Mir ist beim nochmaligen Lesen von Trick Nr. 1 aufgefallen, das etwas wichtiges fehlt. Denn woher kommt die Wut, die ich empfinde? Aus Trauer und Schmerz folgt ja nicht unbedingt notwendig Wut, sie können auch in Angst, Scham, Schuld und Verzweiflung münden.

Eine typische heutige Wutszene ist: Eine Mitbewohner*in klopft an meiner Tür. Ich werde wütend, fühle mich gestört und lasse sie, wenn überhaupt, nur widerwillig in mein Zimmer. Dabei muss ich mich dann oft innerlich sehr zusammenreißen, freundlich und nicht abweisend und schroff zu sein.

Biographische Szenen, in denen meine Wut gründet, sind die Wutausbrüche meines Vaters, der in mein Kinderzimmer kam und sich mir gegenüber aggressiv verhielt. Paradoxerweise passieren bei meiner Übertragung dieser biographischen Szenen auf die Situationen heute in meinem Wohnprojekt zwei gegenläufige Prozesse gleichzeitig: Ich empfinde die Wut noch einmal, die ich als Junge auf meinen Vater hatte, aber nicht zeigen konnte, weil ich körperlich unterlegen war, und die ich also unterdrücken musste. Und ich identifiziere mich zugleich mit der Aggressivität meines Vaters, und kopiere sein Emotionsmuster.

Die erste Wutempfindung richtet sich also auch gegen meine*n Mitbewohner*in als Stellvertreter*in für den nicht mehr präsenten Vater, weil ich mich aggressiv abgrenzen und mein Zimmer verteidigen möchte, was mir als Kind nicht so gut möglich war.

Zum anderen Teil richtet sich in meiner Identifikation mit dem inneren Aggressor meine Wutempfindung aber auch gegen mich selbst, weil ich mich dabei gleichzeitig daran erinnere, wie ich als Junge unter der Wut meines Vaters gelitten habe. Ich projiziere also in der Situation doppelt, setze mich als Vaterstellvertreter ein und projiziere mein kindliches Ich auf meine Mitbewohner*in.

Ich merke dann meistens irgendwie, dass meine Wutempfindung der heutigen Situation nicht wirklich angemessen ist, weil sich die Projektionen gegenseitig widersprechen und weil ich meine Mitbewohner*innen außerdem mag und mich eigentlich meistens freue, sie zu sehen. Aber da passende Empfindungen wie Freude, Empathie oder Neugier unter der alten Wut oft untergehen, bleibt mir dann nur, meine Wut innerlich gegen mich selbst zu wenden und als Energie für Selbstdisziplin zu verwenden. Dann mache ich die Tür auf, sage ein paar freundliche Worte und bin froh, wenn ich wieder alleine bin und keine Selbstdisziplin mehr ausüben muss.

Dass viele Männer im Alter Depressionen bekommen, Misstrauen ihr vorherrschendes soziales Gefühl ist und sie vereinsamen, ist vor dem Hintergrund solcher Muster echt kein Wunder. Eine Lösung kann eine Ent-Identifizierung mit dem inneren Aggressor sein.

Statt die Wut in Selbstdisziplin zu verwandeln und deshalb nicht wirklich in Beziehung treten zu können, kann ich mich mit anderen inneren Anteilen identifizieren, mit der Freude an der Beziehung zu nahen Menschen, dem Interesse an Ihnen und der Interaktion mit ihnen und der Sensibilität für deren Gefühle. Es gab es in meiner Kindheit viele biographische Szenen, in denen diese Gefühle und Haltungen prägend waren, und an die ich mich erinnern kann, auch mit meinem Vater. Ich kann also die Ent-Identifizierung mit dem inneren Aggressor mit einer Re-Identifizierung mit dem inneren Geschwisterkind, dem umsorgten Kind und den umsorgenden Eltern ergänzen. Gleichzeitig ist es sicher gut, sich der Erfahrungen, aus denen Wut sich speist, bewusst zu bleiben und diese Seite des eigenen Selbst nicht zu verdrängen oder zu vergessen.

Die Funktion apokalyptischen Denkens

Viele utopische Gedanken haben einen apokalyptischen Schatten. Die Vision einer Gesellschaft in Harmonie mit der Natur zum Beispiel taucht oft zugleich mit dem Schreckensszenario einer planetaren ökologischen Katastrophe auf. Der apokalyptische Schatten hat dann meistens die Funktion, Menschen zu motivieren, sich in die Richtung des utopischen Gedankens zu bewegen, obwohl sie dafür Mühe, Zeit, Kraft und Ressourcen brauchen und große Risiken eingehen müssen.