In den politischen Reden von Tarek al Wasir und von Robert Habeck, die ich in Marburg gehört habe, sagten beide, dass wir gerade mehrere Krisen zugleich erleben würden: Die Corona-Krise hätten wir gerade hinter uns, zugleich seien wir in der Ukraine-Krise und in der Klimakrise.
Wladimir Kaminer diagnostiziert uns Deutschen ironisch, die Bevölkerung würde sich in Krisengemeinschaften aufteilen, die jede um ihre eigene besonders schlimme Krise gruppiert sei – und ergänzt zu den grünen Diagnosen noch die rechte Variante: „die Migrationskrise“, und die ökonomische Variante: die Wirtschaftskrise. Es wird auch eine Demokratiekrise diagnostiziert.
Aber was ist eigentlich eine Krise? Ich habe darüber nachgedacht und stelle hier mal ein paar Definitionen in den Raum.
Zuerst habe ich versucht, verschiedene Arten von Krisen zu unterscheiden. Ich unterscheide grob folgende 3 Kategorien: individuelle Krisen, die einzelne Menschen durchleben; das können Krankheiten oder Lebenskrisen sein; soziale Krisen, die Gruppen von Menschen oder ganze Gesellschaften durchleben, das können zum Beispiel politische oder wirtschaftliche Krisen sein, und natürliche Krisen wie die Klimakrise, in die ganze Ökosysteme geraten können.
Dies ist die Idee der Systemtheorie davon, was eine Krise ganz allgemein ist: Der Prozess, in dem ein System sich entweder erfolgreich verändert oder desintegriert, indem es sich in seiner Umwelt auflöst und damit zu existieren aufhört. Ich finde es aber etwas zu technisch, Lebendiges wie Menschen, Gruppen von Menschen oder einen Wald als ein „System“ zu beschreiben. Um das zu vermeiden, schlage ich vor, ein „System“ als diejenige Beziehung zwischen einer Ordnung und einem Chaos zu begreifen, die ein Leben möglich und gut macht. Eine Krise entsteht, wenn diese Beziehung zwischen Ordnung und Chaos das Leben schlechter oder unmöglich macht.
Warum ist eine Krise für das Lebendige gefährlich? Und was ist eine lebensfördernde Beziehung zwischen Ordnung und Chaos? Ich frage jetzt für die drei Krisenkategorien (individuell, sozial, natürlich) jeweils genau nach.
Individuelle Krisen können körperlich oder psychisch sein. Eine Viruserkrankung als Beispiel für eine körperliche Erkrankung kann eine Krise des infizierten Organismus hervorrufen. Der Organismus versucht, seine Funktionen zu erhalten, indem er die unkontrollierte Instrumentalisierung seiner Zellen durch die Viren begrenzt (etwa durch Fieber und Immunreaktionen) und so die Funktionen der Zellen soweit sichert, dass der Organismus integriert bleiben kann. Das Chaos ist das unkontrollierte Zweckentfremden von Zellen, die Ordnung ist die Funktionalität der Zellen im integrierten Ganzen des Körpers. Ist andererseits die Immunreaktion zu stark, schadet es dem Organismus auch, weil eine Autoimmunerkrankung entsteht, er muss also eine Balance zwischen Ordnung und Chaos finden.
Psychische Krisen dagegen würde ich so als gestörte Beziehung zwischen Ordnung und Chaos beschreiben: Sinnerleben und Glück sind eine bestimmte emotionale Balance zwischen Vernunft (Ordnung) und Trieben (Chaos); Wenn die Psyche zum Pol der Ordnung kollabiert, versucht sie, alles unter Kontrolle der Vernunft zu bringen und Leben wird zu bloßem Berechnen; wenn sie zum Pol des Chaos kollabiert und nur noch aus unzusammenhängenden Impulsen besteht, wird Leben unverständlich und sinnlos. Die gelingende Balance zwischen Vernunft und Trieben im emotionalen Kern der Psyche einer Person bewirkt, dass sie motiviert ist, ihr Leben zu leben, weil sie Wünsche, Gefühle, Gedanken und Ziele hat, die ihr auch entsprechen, die sie also als ihre eigenen erlebt und selbst mitgestaltet.
Ob diese Balance einem Menschen gelingt, hängt offensichtlich auch von der sozialen Situation ab, in der die Person lebt. Was aber, wenn diese durch soziale Krisen geprägt ist?
Ein Beispiel für eine soziale Krise ist eine politische Krise. Politik entsteht überall da, wo Menschen zusammenleben. Dadurch entsteht Chaos, wenn die unterschiedlichen Wünsche und Ziele der einzelnen Menschen zu Konflikten zwischen ihnen führen. Das kann in eine Krise führen, weil die Situation so chaotisch wird, dass es immer unwahrscheinlicher wird, dass alle ihre Ziele und Wünsche halbwegs verwirklichen können.
Am anderen Pol des Spektrums kann eine Gruppe auch so organisiert werden, dass die Wünsche und Ziele der einzelnen Mitglieder dem Wohl der Gruppe komplett untergeordnet und unterworfen werden. Dann kollabiert das Gleichgewicht zum Pol der Ordnung.
Ein drittes Krisenszenario in politischen Krisen ist eine misslingende Balance zwischen beiden Extremen Ordnung und Chaos, so dass die einzelnen Personen den Sinn der jeweiligen Balance zwischen Konflikten und Unterordnung unter die Gruppe nicht erkennen können und deshalb das Zusammenleben als absurd empfinden.
In der Wirtschaft sehe ich zwei Prinzipien, die beide ein eigenes Koordinieren von Chaos und Ordnung leisten: Konkurrenz und Kooperation. Konkurrenz ist nicht reines Chaos, sondern ein Prinzip, wie chaotische Prozesse (wie z.B. Kreativität) in einen Ordnungsrahmen (Regeln, nach denen der Wettbewerb abläuft) integriert werden und so Reichtum generiert wird. Kooperation erfordert zwar Ordnung und Absprachen, hat aber auch chaotische Elemente, weil oft die eine Partner*in nicht genau weiß, was die andere tun wird. Deshalb bedeutet gelingende Kooperation oft, die anderen machen zu lassen und dann irgendwie spontan damit umzugehen, was dabei herauskommt.
Diese beiden Prinzipen können auch kollabieren: Zum Pol der Konkurrenz kollabieren soziale Gefüge, wenn der Reichtum extrem ungleich verteilt wird, zum Pol der Kooperation kollabieren sie, wenn durch Stillstand und Erosion des Geschaffenen keine Erhaltung der Werte mehr gelingt und deshalb alle ärmer werden. Beide Formen von Kollaps können dazu führen, dass nicht alle Personen genügend mit knappen Gütern versorgt werden, die Wirtschaft ist dann dysfunktional. (Die Weltwirtschaft war noch nie in einem anderen Zustand).
Diese Dysfunktionalität verweist auf die natürlichen Krisen, weil Knappheit aus der Lage der Biosphäre in einer lebensfeindlichen natürlichen Umwelt notwendig folgt.
Die Biosphäre ist das Zusammenleben aller lebendigen Wesen auf dem Planeten, die sich selbst die Bedingungen ihres Weiterlebens und ihrer Entwicklung schaffen, z.B eine bestimmte Zusammensetzung der Atmosphäre; ein bestimmtes Klima; funktionierende Stoffkreisläufe wie Wasserkreisläufe. Die Biosphäre scheint auch nach zwei einander teilweise widersprechenden Prinzipien organisiert zu sein, nämlich Weiterleben und sich Entwickeln. Sobald der Pol des Weiterlebens (z.B. einer bestimmten Spezies) überbetont wird, wird Entwicklung verlangsamt oder kommt zum Stillstand, und umgekehrt, sobald Entwicklung zum dominanten Prinzip wird, sterben Spezies aus. Beide Prinzipien vermitteln zwischen Ordnung und Chaos und nur eine gelingende Ausbalancierung der Prinzipien kann das Lebendige lebendig halten.
Aus diesen Überlegungen ziehe ich die Schlussfolgerung, dass Leben immer neue Balancen zwischen den Polen Ordnung und Chaos finden muss, um lebendig zu bleiben. Scheinbar tauchen, sobald auf einer Ebene Prinzipien des Ausbalancierens gefunden wurde, auf der nächsten Ebene wieder Probleme beim Ausbalancieren der Prinzipien auf.
Meine Abschlussthese ist, dass es auf der Ebene der Biosphäre gar nicht lebenserhaltend wäre, einen statischen Zustand der endgültigen Balance zu finden, weil die Ökosysteme dann nicht mehr daran gewöhnt wären, sich an neue anorganische natürliche Umweltbedingungen anzupassen. Das würde in einem höheren Risiko münden, dass das Leben ganz stirbt. Es ist für die Biosphäre weniger riskant, in Krisen ständig neue Balancen finden zu müssen, als in einem krisenlosen statischen Zustand überzugehen, weil das Ausbalancieren besser darauf vorbereitet, mit veränderten Umgebungen im All zu leben. Und die sind wahrscheinlicher als ihr Gegenteil.
Ich weiß nicht genau, ob dieses Argument richtig ist und ob und inwieweit es sich auch auf die anderen Ebenen sozialer und individueller Krisen übertragen lässt, aber ich denke, dass wir im Moment in Deutschland etwas zu panisch auf Krisen reagieren und tendenziell mehr diesen Aspekt von Krisen fokussieren sollten: Dass alle lebendigen Wesen und auch die ganze Biosphäre in Krisen durch das Ausbalancieren zwischen extremen Polen und zwischen Ordnung und Chaos lernen, sich entwickeln, wachsen und Probleme lösen.