Über den Genuss daran, von Musik überwältigt zu werden

Ich habe vor einigen Tagen das Konzert D-Dur Nr. 77 von Johannes Brahms in der Interpretation von Yehudi Menuhin gehört. Ich hatte schon lange keine klassische Musik mehr gehört, weil mir das immer zu anstrengend war mit den vielen Instrumenten im Orchester und der unglaublichen Fülle und Wucht dieser sinfonischen Werke. Außerdem gibts da keine klare Struktur von Strophe, Refrain und Bridge wie in der Pop-Musik und ich blicke nie durch, wie das Thema entwickelt wird und erkenne keine Strukturen und bin ehrlich gesagt auch zu faul dazu, mir die nötige Kultur anzueignen, um zu verstehen, was Beethoven, Brahms und Bruckner da eigentlich genau machen in ihren Kompositionen.

Aber nun hatte mir mein Vater diese Menuhin-CD geschenkt und in einer ruhigen Minute habe ich mich der Musik überlassen. Und war überwältigt. Und das hat sich gut angefühlt.

Jetzt bin ich ziemlich verdutzt, weil ich keine Ahnung habe, wieso ich das manchmal genieße, wenn mich etwas überwältigt. Konkret sah das bei Brahms so aus, dass ich auf meinem Sofa saß und geweint habe, weil ich gleichzeitig Trauer, Sehnsucht, Freude und Erleichterung empfunden habe. Das ist auch verrückt, weil das Emotionen sind, die normalerweise nacheinander auftreten. Und sich scheinbar auch gegenseitig widersprechen. Die Erleichterung ist am einfachsten zu erklären: Es war unglaublich entlastend, mich nicht mehr selbst kontrollieren zu müssen. Die ganzen Emotionen, die Brahms, Menuhin und die anderen Musiker*innen in mir hervorgerufen haben, haben nämlich die Wächter in meinem Geist, die Rationalität, die Reflexivität und den bewussten Willen, einfach weggespült. Gleichzeitig haben mir die Rhythmen, Harmonien und die Strukturen der Musik einen orientierenden Rahmen gegeben, und dadurch hat mir der Kontrollverlust keine Angst gemacht (was mir Kontrollverlust normalerweise ziemlich sicher macht).

Das ist wohl eine Erfahrung, die Herbert Marcuse als eine spielerische Andeutung nicht-entfremdeten Lebens gesehen hätte. Daher kommt, denke ich, das Gefühl der Sehnsucht, der Freude und der Trauer: Die Musik gab mir eine Idee, wie das Leben in einer zukünftigen Gesellschaft sein könnte, in der sehr viele unterschiedliche Menschen mit Eigenheiten trotzdem harmonisch zusammen leben und gemeinsam etwas Schönes schaffen. Und die Trauer und die Sehnsucht kommen aus dem Bewusstsein, dass ich in dieser Gesellschaft noch nicht lebe, und dass das oft schmerzt.

Die Frage ist nur: Kommen wir zu einer solchen besseren Gesellschaft, wenn wir dauernd Lust dabei empfinden, uns überwältigen zu lassen? Das kommt nämlich ziemlich oft vor, öfter, als man denkt. Einige Beispiele aus meiner eigenen Erfahrung: wenn ich die Szene in „Last Samurai“ mit Tom Cruise anschaue, wo das Heer der Samurai, die sich den Traditionen des alten Japan verschrieben haben, von den Maschinengewehren der japanischen kaiserlichen Armee niedergeschossen wird. Wenn ich auf Demonstrationen in Sprechchöre einstimme, wo wir alle das gleiche brüllen, wie zum Beispiel „This is what democracy looks like“. Wenn ich beim Karate die Anweisungen meines Lehrers genauestens befolge.  Wenn ich auf der Arbeit meine Rolle als Lehrer vollkommen korrekt ausfülle, wenn ich auf einem Konzert von den Hellacopters poge. Wenn ich total verliebt bin mit Haut und Haaren. Wenn ich am Meer den Sonnenuntergang sehe. Das sind alles Momente, in denen ich von etwas überwältigt bin, was irgendwie größer und mächtiger ist als ich, und obwohl ich meine Freiheit liebe, finde ich diese Überwältigung schön. Das ist doch irgendwie seltsam.

Bei anderen Leuten nimmt dieselbe Lust andere Formen an: Eine Freundin hat mir kürzlich erzählt, dass Christen einen Stand in Marburg gemacht haben, und in einer Anleitung zum Beten, die sie da verteilt haben, stand die Gebetsvorlage „Lieber Gott, verzeih mir, dass ich mein Leben selbst bestimmt habe.“ Ich stelle mir vor, dass es vielen Menschen irgendwie dieselben Gefühle der Freude, Erleichterung, Trauer und Sehnsucht macht, so zu beten, die es mir macht, Brahms zu hören. Der Unterschied ist nur, dass ich da kein Lebensprogramm draus mache und nicht von mir verlange, dass ich dauernd in Demut alles akzeptiere, was das Leben so mit sich bringt. Brahms würde das sicher auch nicht von mir fordern, ich denke, für Brahms wäre es ok, wenn ich stinksauer bin, weil zu wenig Geld in die Schulen fließt und ich in schadhafter Infrastruktur zu große Oberstufenkurse unterrichten muss, während Hedgefondmanager ihre gigantischen Profite nicht versteuern müssen.

Aber eins ist auch klar: Diese Idee, die Welt, die Natur, die anderen Menschen und unsere Gefühle und unsere Körper seien mit der richtigen Technik und Strategie komplett kontrollierbar und verfügbar, die uns manchmal leitet, wenn wir an einem besseren Leben arbeiten, die ist auch einseitig und illusorisch. Das heißt, die Lust an meiner eigenen Überwältigung kann die Lust an einer Wahrheit sein, die ich manchmal vergesse: Dass ich es sehr oft nicht in der Hand habe, wie mein Leben verläuft. Ich kann meine Oberstufenkurse nicht auf 15 Leute verkleinern. Und ich kann die Hedgefondmanager nicht besteuern.

Deshalb werde ich jetzt bestimmt nicht um Verzeihung dafür bitten, dass ich die Freiheit, die mir dieses Leben gibt, so nutze, wie ich das für richtig halte. Ich werde bestimmt nicht Demut an die Stelle von Autonomie setzen, um dann am Ende in einer Art innerem Mittelalter zu landen und mich mit Freude für meine Sünden geißeln zu lassen. Nein, vielen Dank. Aber die Wahrheit, die in meinem Brahmserlebnis steckt, ist für meine Freiheit keine Gefahr, sondern eine Chance. Denn sie hilft mir, mich nicht zu verschätzen, was meine Macht und meine Selbstbestimmungsfähigkeit angeht. Danke, Johannes Brahms, Danke, Yehudi Menuhin. Wenn ich einen Hedgefondmanager kennen würde, würde ich ihm die CD mal schicken.