Identitätspolitik?

Manchmal führe ich innerlich Selbstgespräche mit Personen der Zeitgeschichte. Vor ein paar Tagen war meine innere Gesprächsparnerin Sarah Wagenknecht. Es ging um ihr neues Buch, in der sie der Linken Identitätspolitik und Vernachlässigung sozialer Gerechtigkeit und der Arbeitenden vorwirft. Soweit ich verstehe, was sie meint, soll es Identitätspolitik sein, wenn Menschen gegen Rassismus oder gegen das Patriarchat und die Geschlechterordnung vorgehen. Ich habe ihr dann das Argument entgegen gehalten, dass es ja auch viele Menschen gibt, die zugleich unter Klassismus (und der ungerechten Reichtumsverteilung) und Rassismus leiden. Das heißt dann Intersektionalität.

Dann habe ich mir überlegt, welche Struktur eigentlich mein Intersektionalitätsargument in einer Diskussion mit Wagenknecht hat. Und mir ist folgendes klar geworden: Mein Argument verweist eigentlich darauf, dass aktuell emanzipatorische Bewegungen und Personen sich entscheiden müssen, ob sie zum Beispiel gegen Klassismus und Armut oder gegen Rassismus vorgehen. Der eigentliche Skandal ist, dass die Linke nicht genug Ressourcen hat, um gegen die verschiedenen Diskriminierungs- und Unterprivilegierungssysteme zugleich vorzugehen, unter denen Menschen leiden. Wenn ich mich dazu entscheide, gegen Ableismus vorzugehen, reicht meine Zeit und Kraft vielleicht nicht mehr, gegen Rassismus oder Verteilungs-Ungerechtigkeit vorzugehen. Deshalb müssen wir in der Linken diese Debatten führen, in welchem Kampf wir eigentlich jetzt am besten situativ unsere Ressourcen für eine bessere Welt einsetzen.

Dahinter steckt natürlich die alte Logik des Teile und Herrsche – solange wir in diesem Zwist sind, sind wir schwächer, als wir sein könnten.

Ich bezweifle aufbauend auf meine Argumentation aber auch sehr stark, dass der Terminus linker „Identitätspolitik“ für den Kampf gegen rassistische Diskrimierung und die patriarchale Geschlechterordnung richtig gewählt ist. Tatsächlich bekämpfen wir damit soziale Strukturen – zum Beispiel das System des Rassismus und das Patriarchat – der Terminus „Identitätspolitik“ suggeriert irgendwie, dass das eine Art Selbstfindungsproblematik wäre und man sich doch bitteschön um die harten Fakten angesichts von Armut und Unterdrückung zu kümmern habe. Aber die sozialen Strukturen erzeugen die Identitäten von Personen mindestens so stark, wie diese sie wählen, oft sind Identäten größtenteils oder ausschließlich von äußeren sozialen Strukturen in Personen eingeschrieben worden. (Vgl. Bourdieu: Die feinen Unterschiede). Identität hat wenig oder gar nichts mit Luxus-Selbstverwirklichung zu tun. (Vgl. auch Goffman: „Stigma“ und „Wir alle spielen Theater“).

Das, was Wagenknecht „Identitätspolitik“ nennt, ist einfach Politik, die anerkennt, dass es nicht nur materielle Ungerechtigkeit gibt, sondern damit verschränkt auch Strukturen der Entrechtung, Mißachtung und der verweigerten Anerkennung, die teilweise genauso schmerzhaft oder noch schmerzhafter sein können wie materielle Armut.

Wenn wir zum Beispiel sagen, dass der Kapitalismus mit Ableismus, dem Patriarchat und dem System des Rassimus historisch schon sehr lange verschränkt ist, dann ist das auch eine materialistische Analyse der Fakten. Die Alternative wäre ein halbierter Materialismus, der glaubt, Verteilungsfragen ließen sich unabhängig von Fragen der Realisierung gleicher Rechte für alle lösen. Das ist ein Irrglaube.

Ich empfehle allen, die sich einem künstlichen Zwist über Linke „Identitätspolitik“ entziehen wollen, den Film „Pride“ über die Aktivist*innen von „Gays and Lesbians supporting the Miners“, die während der Thatcher-Konterrevolution die streikenden walisischen Bergarbeiter unterstützt haben. Danach erübrigt sich viel unnötiger Streit.

Pride - Film 2014 - FILMSTARTS.de