Postpatriarchale Trickkiste, Trick Nr. 4: Durchschaue rationale Aggression

Nicht jedes aggressive Verhalten ist durch Wut motiviert. Menschen greifen andere oft auch aus ganz rationalen Kosten-Nutzen-Berechnungen heraus an: Was gewinne ich, was verliere ich, wenn ich meine Mitmenschen aggressiv behandle? Kalkulieren wir mehr Nutzen, werden wir aggressiv, ohne das wir wirklich wütend auf die andere Person sind. Von außen kann das sogar wie Wut aussehen, das liegt aber oft nur daran, dass ich als aggressive Person weiß, dass Emotionen als verständliche Motive meiner Verhaltensweise gelten und kalter Egoismus nicht, und ich mich deshalb wütend gebärde, weil das sozial eher akzeptiert wird als rationale Berechnung. Deshalb entsteht auch keine echte Freude, wenn ich mit der Aggression erfolgreich bin, ich registriere einfach nur den Gewinn und mein Lachen fühlt sich hohl und unecht an.

Eine andere Form rationaler Aggression ist scheinbar neutrales und objektives Analysieren der Situation und der anderen Person, wenn diese wütend auf mich ist. Ich habe in einer früheren Liebesbeziehung, in der es zum Schluss dauernd Konflikte und heftig eskalierenden Streit gab, manchmal dieses Verhalten gewählt: Die Kommunikation rational analysiert, das zuvor Gesagte nochmal wörtlich zitiert, auf Vereinbarungen verwiesen, biographische Bezüge zur Interpretation von Verhalten herangezogen – und mir kam mein Verhalten dabei sehr konstruktiv und auf meine Partnerin bezogen vor. Heute denke ich, dass mein Verhalten eher rationale Aggression war. Der Angriff bestand nur darin, mit den Mitteln analytischen Denkens die Situation und die andere Person unter Kontrolle zu bekommen, statt mich emotional auf meine Partnerin einzulassen, mitzufühlen oder mit einem anderen Gefühl auf ihre Wut zu reagieren, und mich so selbst verletzlich zu machen, selbst angesichts ihrer Wut. Verstehen ist nicht immer Mitfühlen, nicht mal unbedingt immer überhaupt mit Fühlen verbunden. Manchmal ist Wut deshalb in Beziehungen eine bessere Resonanz auf die Wut meines Gegenübers als Verstehen, weil sie wenigstens eine emotionale Reaktion ist und keine distanziert-berechnende.

Auch diese Form von Aggression wurzelt in patriarchalen Strukturen, sie setzt in verwandelter Form die Rolle des Patriarchen als Repräsentant der Vernunft und des Denkens fort, der zwischen Konfliktparteien vermittelt, die Situation klärt und aufklärt und erhaben über den anderen steht, neutral das Wohl aller verwaltend.

Heute ist mir klar, warum meine Partnerin noch viel wütender wurde, wenn ich im Streit angefangen habe, alles zu analysieren. Ich vermute sogar, dass kalte, berechnende Aggression gesellschaftich das größere Problem ist als durch Wut motivierte Aggression, weil die damit verbundene Gleichgültigkeit und Unfähigkeit zu fühlen alle wirkliche Beziehung zwischen Menschen zerstört, ohne dass wir das überhaupt merken. Am Ende sind wir einsam und entfremdet voneinander und funktionieren nur noch vor uns hin wie Maschinen, und unsere heimliche Verzweiflung sucht sich seltsame Ventile wie Konsum oder Macht und Status, mit denen wir die fehlenden Beziehungen zu ersetzen oder Signale zu senden versuchen, um doch noch Nähe und Liebe zu erfahren.

Rationale Aggression ist meiner Wahrnehmung nach strukturell in den Institutionen patriarchal geprägter Gesellschaften sedimentiert, setzt sich also systemisch fort, egal, wer in diesen Institutionen Rollen einnimmt, welches Geschlecht die Personen haben oder welcher Generation sie angehören. Das gilt für Staat, Kirche, Marktwirtschaft und auch Wissenschaft.

Ich fürchte, das zum jetzigen Zeitpunkt kaum ein Leben in unserer Gesellschaft möglich ist ohne ein Mindestmaß an rationaler Aggression in ihren Formen nüchterner Berechnung und Analyse, die wir selbst dazu brauchen, die institutionellen Traditionen kritisch zu reflektieren und zu transformieren, weil wir ohne sie einem übermächtigen Gegner gegenüberstünden. Aber es ist mein Ziel, mich nicht dermaßen automatisieren zu lassen, und in meinen Beziehungen das analytische Denken zur Verfeinerung meines Mitgefühls für die anderen zu nutzen statt dazu, die Kontrolle über sie zu erlangen.