Lange Zeit habe ich innerlich meine Position zum Krieg in Gaza so bestimmt: Die Regierung Netanjahu ist rechtsreaktionär bis rechtsextrem und zusammen mit der terroristischen fundamentalistisch-islamistischen Hamas-Führung schuld an dem Leid der Menschen in Israel, Gaza und im Westjordanland.
Dann habe ich mich aber gefragt, warum Benjamin Netanjahu diese Politik macht, und den Wikipedia-Artikel über ihn gelesen. Dabei bin ich auf folgende Informationen über seinen Bruder, Yonatan Netanyahu, gestoßen:
Yonatan Netanyahu wurde am 4.7.1976 in Entebbe, Uganda, getötet.
„Als Oberstleutnant war er Kommandeur der Spezialeinheit Sajeret Matkal, die von Israel zur Befreiung der zum größten Teil israelischen Geiseln palästinensischer Terroristen der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) und zweier deutscher Terroristen der Revolutionären Zellen entsandt wurde. Während dieser Operation in Entebbe, Uganda, wurde er als einziger israelischer Militärangehöriger während der Befreiungsaktion getötet.“ (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Jonathan_Netanjahu; abgerufen am 21.8.2024)
„Die Operation Entebbe, Operation Thunderbolt oder Operation Yonatan (Mivtsa Yonatan) war eine militärische Befreiungsaktion in der Nacht zum 4. Juli 1976 auf dem Flughafen von Entebbe in Uganda, mit der israelische Sicherheitskräfte die einwöchige Entführung eines Passagierflugzeugs der Air France durch palästinensische und deutsche Terroristen beendeten.
Die israelischen Elitesoldaten wurden unerkannt nach Entebbe eingeflogen, wo sie sich insgesamt nur 90 Minuten aufhielten. 102 überwiegend israelische Geiseln, einschließlich der Air-France-Besatzung, wurden schließlich mit einem Zwischenstopp in Kenia nach Israel ausgeflogen. Bei der Befreiungsaktion wurden alle sieben anwesenden Geiselnehmer getötet. Drei der zuletzt noch 105 Geiseln, etwa 20 ugandische Soldaten sowie der Oberstleutnant Jonathan Netanjahu der israelischen Einsatzkräfte kamen bei Feuergefechten ums Leben. Die in einem Krankenhaus der nahen Hauptstadt Kampala verbliebene Geisel Dora Bloch wurde später von ugandischen Offiziellen entführt und ermordet.“ (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Operation_Entebbe; abgerufen am 21.8.2024)
Ich habe in den letzten Monaten viele Gespräche über den Krieg in Gaza mit Freund*innen mit palästinensichen Wurzeln und auch mit linken deutschen Freund*innen geführt. Die deutsche Linke ist, nicht nur in ihren radikalen Teilen, mit dem Israel-Palästina-Konflikt auf eine Weise verwoben, die uns eine gerechte Haltung zum Krieg historisch fast unmöglich macht. Joschka Fischer zum Beispiel war in den 60er Jahren Mitglied des „Revolutionären Kampfes“, in dem auch spätere Mitglieder der „Revolutionären Zellen“ waren. Er nahm 1969 an einer Konferenz zur Unterstützung der PLO in Algier teil. (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Joschka_Fischer#Politische_Militanz, abgerufen am 21.8.2024).
Nachdem Joschka Fischer die Grünen von ihrem Grundsatz der Gewaltfreiheit wegbewegt und die Bundeswehr im Kosovokrieg und im Afghanistankrieg zum Einsatz gebracht hat, hat er schließlich eine politisch richtige Entscheidung getroffen: „I must say, I am not convinced.“ sagte er 2003 im Weltsicherheitsrat, als US-Außenminister Colin Powell falsch behauptete, der Irak habe Massenvernichtungswaffen, um den militärischen Angriff auf den Irak zu rechtfertigen. (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Irakkrieg#Politische_Entscheidungen, abgerufen am 21.8.2024)
Personen in Führungspositionen haben auch biographische Gründe, die Entscheidungen zu treffen, die sie treffen. Und diese biographischen Gründe sind mit meinen eigenen in einer Weise verwoben, die „Neutralität“ für mich zu einer unmöglichen Aufgabe machen. Meine politische Sozialisation wurde von meinen 68er-Eltern und den jungen Grünen in den 1990er Jahren geprägt.
Ich kenne Menschen in Israel und Menschen, die Verwandte in Palästina haben. Die einzige Position, die ich wirklich klar und eindeutig formulieren kann, ist: Ich will, dass das Töten und die strukturelle Gewalt sofort aufhören. Ich denke, dass es ein Fehler Fischers war, den grünen Grundsatz der Gewaltfreiheit im Kosovo-Krieg und im Afghanistan-Krieg aufzugeben.
Ich glaube nicht, dass es für das Stoppen der Gewalt im Moment eine hilfreiche Strategie ist, jemandem Schuld zuzuweisen. Wenn wir das wirklich tun wollen wollen, müssen wir ein so komplexes Geflecht persönlicher, familiärer und sozialer Beziehungen analysieren, dass noch viel mehr Menschen getötet werden, während wir das zu tun versuchen. Die Frage nach der Schuld sollte dann gestellt werden, wenn das Töten und die strukturelle Gewalt gestoppt sind. Ich weiß aber nicht, wie das gelingen kann. Meine Hoffnung sind Gespräche und Abkommen.
Ich trauere um alle getöteten Menschen. Was würden sie in unseren Gesprächen heute sagen, wenn sie an ihnen teilnehmen könnten?