Angriff auf die Freiheit

Warum Geschlechtervielfalt für die Rechtsextremen so ein zentrales Problem ist

Die postfaschistische Regierung von Giorgia Meloni greift Aufklärung über Genderfragen in Schulen an. (Taz vom 12.-18.10.2014, Nr. 101; S.5) Die rechtsextreme AfD, rechtspopulistische und faschistische Organisationen sind sich einig, dass das bloße Wissen über Geschlechtervielfalt uns schon dem Weltuntergang näher bringt. Warum eigentlich? Es ist doch nur eine relativ kleine Minderheit von Menschen, die trans*, inter* oder nicht-binär sind oder eine andere nicht ins Mann-Frau Schema passende Geschlechtsidentität haben. Das einzige echte Ziel, was die Autoritären haben, die Macht, ließe sich in einer Mehrheitsdemokratie doch auch locker gegen diese kleine Gruppe und ihre Unterstützer*innen aus den liberalen, linken und progressiven Lagern erreichen.

Ich habe bisher gedacht, dass Genderwissen deshalb bekämpft wird, weil es den Rechtsextremen die Tür zu weiten Teilen der bürgerlichen Mitte öffnet: Auch viele Konservative haben starke Aversionen gegen Formen geschlechtergerechten Sprechens und reagieren empfindlich auf die Brüche tradierter Konventionen in der Geschlechterordnung. Ich habe bisher gedacht, dass die Rechtsextremen dies bloß strategisch ausnützen, um die konservative Mitte in ihre Bündnisse einzubinden.

Inzwischen denke ich, dass das zwar stimmt, aber nur die halbe Wahrheit ist: Die andere Hälfte ist, dass Geschlechterkonventionen nicht nur irgendwelche Konventionen unter anderen sind (zum Beispiel der Konventionen, höflich und respektvoll miteinander zu sprechen), sondern die wichtigsten Konventionen für zwischenmenschliche Beziehungen. Wie wir mit anderen in Beziehung gehen, welche Art Beziehung mit wem überhaupt möglich ist, wie diese Beziehung definierbar ist, all das wird von der Geschlechterordnung gerahmt.

Trans*- und nicht-binäre Menschen machen wahrnehmbar, dass wir viel mehr Möglichkeiten haben, diese Beziehungen zu gestalten, als die starre Ordnung uns zu denken erlaubte. Dies müssen die Autoritären bekämpfen, weil es ihre Denkstruktur zentral in Frage stellt, nämlich die Denkstruktur, dass Freiheit eine Gefahr ist und dass Macht, Zwang, Disziplin und Autorität nötig sind, um diese Gefahr zu bannen.

Nun haben die Autoritären in einem Punkt tatsächlich recht: Freiheit ist prinzipiell gefährlich. Mit den Worten von Niklas Luhmann: Mit mehr Freiheit steigert sich auch die doppelte Kontingenz von Begegnungen. Ich weiß nicht, was Du tun wirst und Du weißt nicht, was ich tun werde. Ich weiß auch, dass Du das alles weißt und vice versa, was den Verlauf und das Ergebnis der Interaktion hochkomplex und unberechenbar macht. Jede kennt das aus ihrem Alltag, du denkst, du kannst voraussehen, was die Mitbewohnerin mit dem Gartengrundstück macht, und dann kommst du aus dem Urlaub wieder und der von dir gepflanzte Estragon ist durch Salat ersetzt. Du wirst wütend, womit wieder deine Mitbewohnerin nicht gerechnet hat. Es stellt sich raus, dass gar nicht geklärt war, wer wie entscheidet, was in dem Beet gepflanzt wird. Doppelte Kontingenz nervt.

Klassischerweise lösen wir solche Probleme mit Kommunikation – und oft klappt das auch ganz gut. Wenn aber eine gemeinsame Sprachkonvention fehlt, klappt auch das nicht fehlerfrei, weil wir immer übersetzen müssen, und beim Übersetzen, dass weiß jede noch aus dem Englischunterricht, passieren noch leichter Fehler, als beim Reden in einer gemeinsamen Sprache sowieso schon. Deshalb werden gendergerechte Sprechweisen als so bedrohlich wahrgenommen, weil sie scheinbar der Kommunikation den Boden für die Bewältigung doppelter Kontingenz entziehen.

Übersetzungsfehler lassen sich aber erkennen und klären, das braucht nur Zeit. Ich denke, wir sollten unsere Kommunikation zuallererst entschleunigen und akzeptieren, dass es Zeit braucht, sich zu verstehen. Das ist sowieso immer so, und wenn wir freier werden und sich deshalb viele unterschiedliche Lebensweisen entwickeln, noch viel mehr. Wenn Konservative und Progressive sich ohne Zeitdruck in gegenseitiger Toleranz und Akzeptanz über Geschlechterfragen austauschen, können wir sicher die meisten Missverständnisse aufklären und zu einem gegenseitigen Verständnis finden, das uns zumindest erlaubt, sicher und ohne Angst in einer Gesellschaft zusammenzuleben.