Christian Lindner spart an der Freiheit

Was durchdachter und begründeter Liberalismus ist, können wir in John Rawls „Theorie der Gerechtigkeit als Fairness“ aus den 1970er Jahren nachlesen: „Gleiche Rechte für jede Person!“ ist das Grundprinzip, Ungleichheiten sind nur dann fair, wenn sie auch den Schwächsten in der Gesellschaft mehr Vorteile bringen, als sie durch absolute Gleichheit hätten.

Ich habe Christian Lindner gut zugehört, als er vor der hessischen Landtagswahl letztes Jahr im Marburger Cineplex sprach. Kern seiner Rede war die Forderung, dass Leistung sich lohnen muss und dass diejenigen, die Leistung bringen, nicht bestraft werden dürfen. Deshalb sei er dagegen, Steuern zu erhöhen.

Heute lese ich in der Neuen Zürcher Zeitung, dass Lindner sich gegen das Tariftreuegesetz und das Lieferkettengesetz ausgesprochen hat, die beide im Koalitionsvertrag der Ampel vereinbart waren.

Außerdem will er die Klimaziele abschaffen und die Sozialleistungen kürzen und sagt, es dürfe bei Gesetzesänderungen zum Asylrecht „keine Denkverbote“ geben, das Grundgesetz könne man also auch ändern, wenn man dadurch mehr Menschen abschieben kann.

Diese Vorschläge sind Frontalangriffe auf die Fairness, wie sie der Liberale John Rawls als Kern gerechter Politik begründet hat.

Der destruktivste Angriff ist fast unsichtbar: Er zielt auf das Fundament jeder guten menschlichen Beziehung, die nicht durch Liebe, sondern durch wechselseitige Interessen zustande kommt: Auf die Achtung von Verträgen. Im religiös geprägten Mittelalter entwickelte sich der Rechtsgrundsatz: „Pacta sunt servanda“ – „Verträge sind einzuhalten“. Nach Immanuel Kant sind Verträge die Grundlage jeder Rechtsordnung. Christian Lindner orientiert sich aber mehr an Captain Jack Sparrow, Pirat der Karibik, der seine Haltung zu Verträgen und Absprachen so zusammenfasst: „Bei einem unehrlichen Mann kannst du sicher sein, dass er unehrlich ist. Bei einem ehrlichen Mann weißt du nie, wann er etwas unglaublich Dummes tut.“

Die Absprachen, die Lindner jetzt für ungültig erklärt, hat er aber nicht nur mit der SPD (Tariftreuegesetz und Rentenreform) und den Grünen (Lieferketten und Klimaziele). Es gibt auch geltende europäische Absprachen zum Klimaschutz und internationale Absprachen im Rahmen des Pariser Vertrags, die er damit aufkündigt.

Wenn Personen wie Lindner eine Kultur durchsetzen, in der Verträge nicht mehr gehalten werden müssen, haben alle verloren, die motiviert sind, zwischen Menschen mit gleichen Rechten auf gleicher Ebene Kompromisse zu machen und diese in Verträgen festzuschreiben. Konkurrenz wird zum alles beherrschenden Prinzip, in dem sich letztlich mangels vertraglich vereinbartem Recht die Stärksten, Mächtigsten, Reichsten und Unehrlichsten durchsetzen.

Das kann ich auch schon an den Punkten, die Lindner aufkündigt, erkennen: Die Klimaziele aufzukündigen, bedeutet, alle Chancen und Gewinne den jetzt lebenden erwachsenen Menschen zuzuspielen, und die Risiken und Kosten den jungen und ungeborenen Menschen aufzudrücken. Lindner hat irgendwie die alte Hippie-Parole „Lebe jeden Tag, als wenn es dein letzter wäre“ als politisches Prinzip auf die staatliche Zukunftsplanung einer ganzen Gesellschaft übertragen. Finde den Fehler.

Das Bundesverfassungsgericht hat schon die bisherige zaghafte Klimaschutzpolitik als grundgesetzwidrig verurteilt, weil die Eigentumsrechte zukünftiger Generationen verletzt werden. Statt die Politik rechtskonform zu ändern, hat Lindner eine besser Idee: Nach dem Motto: Schlechte Politik ist nur noch nicht radikal schlecht genug, legt er jetzt nochmal klimapolitisch ein Schüppchen drauf. Reichtum für heute, Armut für alle, die leider zu spät geboren wurden.

Dasselbe Prinzip zeigt sich auch in den anderen Vorschlägen seiner Wirtschafts-“Wachstums“ – Politik: Er will das Lieferkettengesetz nicht mehr, die Gewinne sollen also die deutschen Unternehmen einfahren, die Kosten und Risiken sollen die Menschen in den Zulieferländern des globalen, in Armut abgedrängten Südens tragen. Das gleiche zeigt sich beim Tariftreuegesetz: Management und Unternehmenschefs sollen gestärkt und die lohnabhängig Arbeitenden in den Firmen geschwächt werden. Ebenso bei den Sozialleistungen: Die Unternehmen und die Reichen sollen ihr Geld behalten, die Armen sollen die Risiken und Kosten tragen.

Ich habe mich sehr gefreut über die Vorhaben der FDP zur Einführung einer Verantwortungsgemeinschaft und habe große Hoffnungen gehabt, weil der Satz „Familie ist, wo Kinder sind“ wirklich eine zukunftsweisende und gerechte Alternative zum bisherigen Familienbild ist, aber das Ehegattensplitting, das die FDP dann real verteidigt, bedeutet weiter, dass reiche kinderlose Paare gegenüber allen Lebensgemeinschaften, in denen Kinder aufwachsen, riesige Reichtumsvorteile bekommen. Mit dieser FDP-Realpolitik ist die „Verantwortungsgemeinschaft“ ein bloßes Papier-Statement ohne materielle Realität.

Linders Politik verfolgt also ein Prinzip: Konkurrenz ist gut, alles, was sie behindert (Verantwortungsgefühl für ungeborene Generationen, Rücksicht gegenüber Armen und unverschuldet Benachteiligten, Respekt auch gegenüber denen, die wenig Macht und Reichtum haben) ist schlecht. Gleiche Rechte für alle sind der FDP auch nicht so wichtig. Sobald sich damit Stimmen gewinnen lassen, kann man das Asyl-Recht auf Schutz in einem friedlichen und demokratischen Land schonmal zur Diskussion stellen. Lindner denkt laut nach, ob man nur noch handverlesene Personen vor dem Unrechtsregime der Taliban schützt, für die anderen das Grundrecht auf Asyl aber abschafft.

Die FDP behauptet zwar, für das ganze Land und die EU Politik zu machen, schaut man sich die Politik, die sie machen, aber real an, hat sie nur ein Grundprinzip: „Individuelle Freiheit ist das Wichtigste!“ Verantwortung braucht man, wenn man so ein tolles Prinzip hat, dann auch nicht zu übernehmen, weder für zukünftige Generationen, noch für die eigenen Zusagen, die man Partnern in der Vergangenheit gemacht hat. Verantwortung steht bei der FDP dann auch konsequenterweise nicht hoch im Kurs, wie man im Text von Marco Buschmann über den liberalen Soziologen Max Weber nachlesen kann:

„Man habe, so Weber, der sich klar auf die Seite einer Verantwortungsethik stellt, für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen, nicht nur für die unmittelbaren, auch für die in der weiteren Zukunft. Dabei wisse man, dass wir Menschen absolute Gerechtigkeit auf Erden nicht schaffen können. (…) All dies atmet eine Härte und Strenge, die von manchem als Widerspruch zu Menschenfreundlichkeit oder Zuversicht empfunden wird.“ (https://www.bmj.de/SharedDocs/Interviews/DE/2024/0418_FAZ-Einspruch_Gastbeitrag.html)

Buschmann merkt leider nicht, dass Webers Verantwortungsethik eine Ethik der Fürsorge und der Menschenfreundlichkeit ist, die auch mitdenkt, dass wir Menschen die Folgen unserer Entscheidungen nur begrenzt absehen können, und uns damit von zu viel Verantwortungsdruck entlastet. Die Prinzipien-Gesinnung der FDP dagegen „atmet“ gnadenlose „Härte und Strenge“: „Konkurrenz belebt das Geschäft!“ ist das unbarmherzige Prinzip einer Gesellschaft, in der nur Leistung allein zählt. Armer John Rawls! Die FDP vertritt einen irrationalen Liberalismus, in dem Ungleichheit als Leistungsanreiz zum einzigen Prinzip wird und gleiche Rechte für alle nicht mehr so wichtig sind, wenn sie Geld kosten und Wähler*innenstimmen.

Das wird schiefgehen. Wer so Politik macht, macht mehr kaputt, als er Gutes schafft. Verantwortungsgemeinschaften können nicht nur kleine Gruppen sein, sondern müssen auch Nationen und die internationale Gemeinschaft sein. Die gemeinsam geteilte und verabredete Verantwortung, die im Grundgesetz, in der EU-Menschenrechtskonvention und in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN gut definiert wurde, gilt allen Menschen weltweit und auch denen, die in der Zukunft geboren werden, so gut und so weit wir die Folgen unserer Politik absehen können. Vielleicht sollte Christian Lindner „Fluch der Karibik“ anschauen, und im Bezug auf seine Grund-Prinzipien: „Konkurrenz“ und „Individuelle Freiheit“ den Satz von Captain Barbossa beherzigen: „The code – thats more guidelines“ – Prinzipien sind mehr Richtlinien als strikte Vorschriften, und wenn wir gerechte Politik machen wollen, müssen wir uns zwar am Prinzip individueller Freiheit orientieren, aber wir haben auch einen Auslegungsspielraum, in dem wir konkret bestimmen müssen, was das genau heißt, und wie Politik zum Beispiel in einem Staat und international für alle individuellen Personen Chancengleichheit schaffen kann. Wir müssen das Prinzip Freiheit richtig auslegen und können uns nicht an schematischen Programmen orientieren, weil das Prinzip individueller Freiheit auf reales Leben trifft, und Leben ist meistens komplizierter, als unsere Prinzipien uns vortäuschen. Zu dieser Kompliziertheit gehört, dass wir nur gemeinsam frei sein können, wie Erich Mühsam gegen den simplen liberalen Individualismus einerseits und den desaströsen Kollektivismus totalitärer Ideologien andererseits argumentierte. Und gemeinsam frei sein können wir nur, wenn wir uns alle darauf verlassen können, dass Verträge und Versprechen auch gelten, und nur begründet aufgekündigt werden können. Diese Begründung kann nicht der Reichtums- und Machterhalt der eigenen Gruppe allein sein.