Eine Frage an Dich: Ist es Dir wichtiger, das System von Wirtschaft und Gesellschaft zu verstehen, oder wichtiger, die Strategien von Menschen und Klassen und großen Gruppen (wie „dem Proletariat“ als Protagonist der Geschichte und „der Bourgeoisie“ als Antagonist) zu verstehen? Ich glaube, es ist wichtiger, zuerst das System zu verstehen und danach die Akteure, die in seinem Rahmen agieren. Denn wer die Spielregeln eines Spiels nicht versteht, versteht auch nicht richtig, was die Spieler* auf dem Feld eigentlich genau machen und warum sie es tun. Zum Verständnis der Spielregeln des kapitalistischen Systems soll dieser Text einen Beitrag leisten.
Im Marxismus gibt es die klassische Formulierung, das Kapital sei ein „sich selbst verwertender Wert“. Ich habe darüber nachgedacht und mir eine Ergänzung dieses theoretischen Konzepts ausgedacht: Für die Gesellschaftsanalyse könnte es nützlich sein, den Kapitalismus als ein sich selbst vernetzendes Netz zu verstehen.
Wenn ich mir die klassische Definition vom „sich selbst verwertenden Wert“ genauer anschaue, steckt dahinter das Bild, der Kapitalismus als System habe im Zentrum diese fast mathematisch beschreibbare Funktion: Aus einem Wert (z.B. einem Kapital in Form des Eigentums an Maschinen) wird mithilfe der Arbeitskraft einer gegen Lohn angestellten Arbeiter*in ein Mehrwert erzeugt, der Gewinn daraus wird zu dem ursprünglichen Kapital addiert und ergibt dadurch einen zweiten Wert, nämlich das im ganzen Prozess um eine bestimmte Größe gewachsene Kapital. Mathematisch gesagt wird also ein Input – Wert (Kapital 1, auch „g“ genannt) durch eine bestimmte Funktion (Produktion und Verkauf einer Ware) auf einen durch diese Funktion genua bestimmten Output – Wert abgebildet (Kapital 1+ Gewinn = Kapital 2, auch g’ genannt).
Ein sich selbst vernetzendes Netz macht jetzt in meiner Metapher mehr als das: Ein Wert, der als Information in ein Netz von Funktionen statt in eine einzelne Funktion eingespeist wird, bildet sich, wenn er einen Netz-Knoten durchläuft, von dem mehrere andere Netzverbindungen zu anderen Knoten abgehen, gleichzeitig auf mehrere andere Werte ab (die Outputs, die jeweils spezifisch über die jeweilige Verbindung an die anderen Knoten weiterlaufen). Ein Impuls durchläuft das Netz so auf multiplen Funktions-Wegen und erzeugt multiple weitere Informationsflüsse (von Werten). Im konkreten Fall ist der Lohn der Arbeiter*in zum Beispiel ein solcher Wert, aber auch der Kredit, der von der Firma für den Kauf der Maschine bei einer Bank aufgenommen wurde, und die Information, die über den Markt beim Kauf der mit der Maschine produzierten Ware an eine Konkurrenzfirma weitergegeben wurde, weil das Produkt statt deren Konkurrenzprodukt gekauft wurde, was sich auf deren Gewinn auswirkt.
Mit Selbst-Vernetzung des Kapitalismus meine ich, dass ein konkretes „Kapital“ (wie das Eigentum an bestimmten Maschinen) einen Knoten im Netz des Kapitalismus bildet, das sich durch immer mehr neue Knoten (zum Beispiel Unternehmen, Konzerne, Privatvermögen, Geldinstitute und ökonomische Privilegien von Gruppen und Personen) ausdehnt, dabei immer mehr Verbindungen zwischen weit entfernten Elementen des Netzes bildet und die nah beieinander liegenden Knoten dichter verflechtet, wodurch der Impuls, den ein Wert als Input in das Netz gibt, über immer mehr gleichzeitig ablaufende Funktionen auf immer mehr andere Werte im Netz abgebildet wird.
Wer sich ein bisschen in der Kognitionsbiologie auskennt, hört sicher schon die Nachtigall trapsen: Meine Metapher ähnelt stark den kognitionsbiologischen Modellen von neuronalen Netzen. Lernen heißt dann in dieser Metapher für den Kapitalismus, dass dessen Netz auf Umwelteinflüsse (zum Beispiel Entscheidungen von Menschen, neue Gesetze in Staaten oder Überschwemmungen) reagiert, indem bestimmte Verbindungen zwischen bestimmten Knoten des Netzes verstärkt werden (der Input – Wert also schneller und leichter zu einem Output-Wert über die gestärkte Verbindung führt) und andere Verbindungen geschwächt oder abgebaut werden (diese Verbindungen also einen Input – Wert kaum oder gar nicht mehr weitergeben). Das können Pleiten oder das Schrumpfen von Firmen und Banken oder ein zahlungsunfähiger Staat sein.
Dass der Kapitalismus als Kommunikationsstruktur durch die Selbst-Vernetzung schneller lernt und Informationen global und regional schneller weitergegeben werden, wäre eigentlich ein hoffnungsvoller Befund – es ist nur so, dass dieses Lernen scheinbar primär dem Überleben und Wachsen des Kapitalismus selbst dient und nicht dem Überleben und dem guten Leben aller Menschen weltweit. Das Lernen und Selbst-Vernetzen des Kapitalismus verbessert unsere Gesellschaft deshalb nur, insoweit es für dessen eigenes Lernen und Wachsen notwendig und nützlich ist. Wenn andere Kommunikationsstrukturen, zum Beispiel die Machtprozesse in Demokratien, mit seinen Zielen in Konflikt kommen, lernt er als Netz von Funktionen durch seine Selbst-Vernetzung dann leider aber auch immer schneller, den Einfluss von Demokratie auf das menschliche Zusammenleben und die Natur zurückzudrängen. Das Ergebnis sind dann zum Beispiel Steuersenkungen für die Kapitaleigner und parallel dazu Schuldenbremsen, die die öffentliche Infrastruktur zum Beispiel in den Bereichen Wohnen, Verkehr, Bildung, Gesundheit, Verwaltung und Medien langsam erodieren, während gleichzeitig Menschen, nicht-menschliche Lebewesen und die Ökosysteme schutzlos dem Kapital zur Ausbeutung überlassen werden, indem zum Beispiel die Klimaziele ausgesetzt werden und das Tariftreuegesetz nicht zustandekommt.
Falls sich die vernünftigen Personen in der FDP jetzt einseitig marxistisch angegriffen fühlen: Ich möchte mit diesen Argumenten nicht für einen Angriff auf den Kapitalismus werben, sondern dafür, das Kommunikationsnetz des Kapitalismus davor zu schützen, dass es seine eigenen Existenzbedingungen zerstört. Denn es hat materielle und kommunikative Existenzbedingungen, die es nicht selber schaffen kann. Wenn Straßen und Datenkabel um eine Firma herum durch Überschwemmungen zerstört sind, kann das tollste Produkt ihr keinen Gewinn mehr bringen, weil sie es an niemanden verkaufen kann, nicht mal die Information darüber, dass es existiert, erreicht irgendjemanden. Wenn das Gesundheitssystem kaputt ist, wird es nicht genug Arbeitskraft geben, um die Maschinen und Rechner zu warten und zu bedienen, die zur Gewinnerwirtschaftung nötig sind, und die Funktionen werden gestoppt. Wenn das Bildungssystem kaputt ist, wird niemand mehr die Kommunikationen im Netz des Kapitalismus verstehen und es werden massenweise Fehlerimpulse eingespeist. Wenn die Demokratie nicht mehr funktioniert, oder auch nur viele Menschen glauben, dass sie nicht mehr funktioniert, wird es Aufstände geben, und Aufstände sind schlecht fürs Geschäft, außer natürlich für die Geschäftsmodelle Diebstahl und Raub. Das sind zwar auch Impulse, die ins Netz gegeben werden, aber sie führen zu einer Art informationellem Nullsummenspiel, bei dem ein Plus durch ein Minus eliminiert wird und am Ende gar keine Informationsverarbeitung mehr stattfindet. Das System hört dann auf, zu lernen. Und so kapitalismuskritisch ich auch denke: Wir haben im Moment keine alternative Kommunikationsstruktur, die das lernende Netz des Kapitalismus in seinen Funktionen für die Menschen weltweit adäquat ersetzen kann. Karl Marx möge mir verzeihen.