Utopia: Es gibt kein Rezept

Ich habe über die These nachgedacht, dass wir uns in der Postmoderne in einer Zeit befinden, in der die großen Erzählungen vom Sinn der Geschichte nicht mehr glaubhaft sind. Die Aufklärung, der Liberalismus, der Kommunismus, auch die Religionen können nach dieser These keine stimmige Geschichte mehr erzählen, in der die Menschheit auf ein gutes Leben in der Zukunft zusteuert. Was bleibt, so heißt es, sind Bruchstücke von Sinn, aber keine zusammenhängende Orientierung, die uns sagt, wozu wir leben, woher wir kommen und wohin wir gehen.

Nun habe ich weiter überlegt, ob ich mir eigentlich noch so etwas wie ein sinnvolles Ende der Geschichte der Menschheit in der Zukunft vorstellen kann. Und ich bin zu dem Ergebnis gekommen: Ja, ich glaube daran, dass die Menschen es schaffen können, in einer fernen Zukunft friedlich, frei und ohne ihre eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören zusammen leben können. Ich stelle mir das Ganze ein bisschen so wie einen Garten Eden mit Internet vor.

Ich glaube aber auch nicht mehr an meine früheren persönlichen großen Erzählungen, nämlich Christentum, Kommunismus, Anarchismus, Buddhismus, Liberalismus und Aufklärung, an die ich in genau dieser Reihenfolge in meinem Leben geglaubt habe. Die bitterste Enttäuschung ist mir immer noch der Liberalismus, vielleicht, weil ich den offensichtlichen Widerspruch zwischen Menschenrechten, Freiheit und Toleranz, die die Liberalen bei jeder Gelegenheit beschwören, und der realen Bilanz liberaler Politik in einer Welt der kapitalistischen Verschärfung von Elend, Flucht, Diktatur, Krieg, Ungerechtigkeit und Chaos besonders empörend finde.

Ich glaube trotzdem, dass wir es schaffen können, aus dieser desaströsen Lage herauszukommen. Aber es gibt keine Karte, die uns nach Utopia führt. Es gibt kein Rezept. Die Kommunisten haben es mit staatlicher Planung der Wirtschaft und Rätedemokratie versucht, aber sie haben nicht einkalkuliert, wie viele Zwänge sie damit errichten, und die Leute haben die Kommunisten in den meisten Ländern der Welt inzwischen nach Hause geschickt.

Die Aufklärer haben es mit Wissen und Erkenntnis und der Kraft öffentlicher Diskussion mit vernünftigen Gründen versucht, aber sie haben die emotionalen und dunklen Seiten der menschlichen Seele unterschätzt, ebenso wie sie die menschliche Geduld, Frustrationstoleranz und Aufmerksamkeitsspanne, die für endlose rationalistische Prozeduren gebraucht werden, überschätzt haben.

In einem haben die Postmodernen also recht – es gibt keine Wegweiser ins goldene Zeitalter. Alles, was wir haben, sind Bruchstücke von Sinn, kleine Geschichten, die sich zu keinem großen Ganzen fügen wollen. Aber genau das ist ja der Clou an einem echten Utopia – dass es kein großes Ganzes sein darf, damit alle Menchen ihr Leben darin leben können. So gesehen ist die Postmoderne ein Puzzleteil, dass wir auf dem Weg zum guten Ende der menschlichen Geschichte dringend gebraucht haben. Aber die Geschichte geht noch weiter, und wir wissen nicht, wohin – ich persönlich möchte ja wie gesagt eine Art Garten mit Internet.