Heideggers Kritik am „man“ kann man widerlegen

Ich habe gestern über ein Kurzrefereat meiner philosophischen Freundin Hannah nachgedacht, in dem sie mir vor ein paar Jahren Heideggers Kritik an dem Wort „man“ erklärt hat. Anscheinend meinte Heidegger, dass sich Einzelne, wenn sie es benutzen, in eine „Anonymität“ einer Masse von Menschen zurückziehen.

Nun heißt ja „Anonymität“ wörtlich übersetzt so etwas wie „Ohne-Namen-Sein“, das bedeutet, wer etwas anonym tut, will, dass niemand ihn ansprechen, identifizieren, kritisieren kann. Deshalb sind anonyme Taten klassischerweise Taten, die sich gegen herrschende Gewalten richten. Wer genug Machtmittel hat, seinen Willen gegen den anderer durchzusetzen, kann das schließlich auch problemlos öffentlich tun. Deshalb ist es auch wohlfeil, aus einer Machtposition heraus Menschen für ihre anonymen Taten zu kritisieren. Heidegger hatte vor dem Hintergrund der Tatsache, dass er Nazi war, vielleicht auch mehr als nur philosophische Gründe, die „Anonymität“ zu kritisieren.

Mit Pfefferspray gegen Care-Demonstrant_in

Das folgende Interview habe ich mit einer Mitdemonstrant_in geführt, die ich am 1.6.2013 auf der Blockupy Demonstration in Frankfurt a.M. getroffen habe. Auf eigenen Wunsch bleibt die Demonstrant_in anonym.
Utopolitan: Wir haben uns das erste Mal auf der Blockupy-Demonstration getroffen. Wofür wolltest Du dort demonstrieren?
Ich wollte eigentlich im „Care“-Block demonstrieren, leider hatten wir den Block gerade zu dem Zeitpunkt erreicht, als die Demonstration von der Polizei gestoppt worden war. Ich wollte für eine feministische Perspektive in der Blockupy-Bewegung und in der linken Kapitalismuskritik demonstrieren. Es geht mir darum, dass die mit der „Finanz-Krise“ verbundene Krise der sozialen Reproduktionsverhältnisse, die sich im Bereich von Care-Arbeit zeigt, thematisiert wird. Es geht mir dabei um das Aufzeigen der Verschränkung der vielfachen Machtmechanismen in der Care-Arbeit und darum, dass es in der Diskussion um die Bewältigung der Finanzkrise nachrangig um die Bedürfnisse der Menschen geht und dass dies eine Perspektive zeigt, die auch in Nicht-Krisen-Situationen des Kapitalismus herrscht. Es geht um die Achtung der Care-Arbeit an sich, aber auch darum, dass den Bedürfnissen der Menschen generell mehr Bedeutung und Beachtung geschenkt wird und deren Missachtung nicht als nichtintendierte Nebenfolge des kapitalistischen Systems zu verstehen ist, sondern als politisch grundsätzliche Frage. Für mich geht es dabei um das Recht aller Menschen, ein Leben zu führen, in dem die vielfältigen und vielseitigen Bedürfnisse Platz und Raum haben.
Utopolitan: Du warst sehr aufgewühlt, als ich Dich nachmittags beim
Verdi-Lautsprecherwagen traf. Was war passiert?
Wir warteten die ganze Zeit auf der Höhe des „Care-Blocks“ darauf, dass die Demonstration weiterging. Wir standen mit einigen anderen wartenden Leuten in einem Durchgang zwischen dem hinteren Teil des Gebäudes der Oper Frankfurt und einem kleinen Park. In der Mitte des Durchgangs stand ein weißer Kombi der Polizei, auf dessen Dach eine Kamera montiert war, die sich drehte und während der gesamten Wartezeit offenbar die Umstehenden filmte. Die Leute im Demonstrationszug auf der Hofstrasse standen einige Meter von uns entfernt. Der Durchgang zum vorderen Teil der Oper war durch Zäune, die die Polizei dort angebracht hatte und dahinterstehenden PolizistInnen abgeriegelt.
Wir warteten an der beschriebenen Stelle ca. 2 Stunden, in denen wir immer wieder versuchten, herauszufinden, wieso die Demo überhaupt gestoppt worden war, jedoch verstanden wir weder die Durchsagen von den Lautsprecherwagen, noch konnten PolizistInnen uns eine plausible Auskunft geben. Um ca. 15 Uhr hatten sich an dem Durchgang mehrere Leute angesammelt, die alle wissen wollten, wie es mit der Demo weiterginge, unter anderem waren darunter drei ältere Menschen, die in meiner direkten Nähe standen; dann flog auf den erwähnten weißen Kombi der Polizei ein roter Farbbeutel. Zum gleichen Zeitpunkt hatten sich hinter der erwähnten Polizeiabsperrung ca. 15 PolizistInnen in einer Reihe versammelt. Ich stand bestimmt drei Meter von den PolizistInnen entfernt, als ich bemerkte, wie diese sich ohne Ankündigung in Bewegung setzten und die Leute in meiner Nähe anfingen, sich hektisch zu bewegen.  Ich duckte mich und wollte nur noch aus der Menge herauskommen, einige der DemonstrantInnen schrien und dann spürte ich auf einmal etwas Nasses auf meinem Gesicht. Meine rechte Gesichtshälfte und meine beiden Augen begannen fürchterlich zu brennen, weil mir über die anderen Menschen hinweg Pfefferspray ins Gesicht gesprüht worden war. Mein Freund zog mich aus der Menge heraus und ich versuchte, meine Augen und meine geschwollene Haut vom Pfefferspray zu reinigen.
Utopolitan: Es gibt die Meinung, dass die Polizei zurecht präventiv
gewaltbereite Demonstrierende gekesselt habe. Was meinst Du nach Deinen Beobachtungen dazu?
Was ich gesehen hatte, war eine Rakete gewesen, die aus dem Demonstrationszug abgefeuert worden war, außerdem hatte ich einen Busch gesehen, der qualmte und der von der Polizei mit einem Feuerlöscher gelöscht wurde. Meiner Meinung nach waren diese Taten kein Grund, die ganze Demonstration zu stoppen, weil es meiner Meinung nach eine politische Auslegung ist, diese Taten als gewaltbereit auszulegen oder nicht. Aus diesem Grund meine ich, dass die Interpretation und Beurteilung dieser Taten als „Bedrohung“ ein Anlass war, der gesucht wurde, um die Demonstration stoppen zu können und ein Versuch, die Bewegung und alle Teilnehmenden zu kriminalisieren.
Utopolitan: Wirst Du wieder Demonstrieren gehen und wenn ja, was wird anders sein?
Ja, ich werde auf jeden Fall und immer wieder demonstrieren gehen, weil das ein grundlegendes Recht ist. Allerdings habe ich bei dieser Demonstration zum ersten Mal in meinem Leben erlebt, wie ausgeliefert und zu unrecht man behandelt werden kann.
Es war für mich ein Schock zu merken, dass die Polizei als Vertreterin der staatlichen Macht mich körperlich angreifen kann, es in Kauf nimmt, mich zu verletzen, obwohl ich nichts getan hatte, sondern einfach an dem Durchgang gestanden hatte.
Für mich stellt sich nach diesem Erlebnis die Frage, inwiefern innerhalb der Polizei und bei den Polizeikräften die Macht und Gewalt, die ihnen verliehen wurde, reflektiert wird und es hat mir gezeigt, dass menschliche Kollateralschäden für offenbar politische Zwecke in Kauf genommen werden. Ich werde sicher nicht mehr darauf vertrauen, dass Polizeikräfte mich ausschliesslich schützen, sondern bin mir jetzt bewusst, dass sie meine körperliche Unversehrtheit verletzen können, ohne dass ich mich wehren kann.
Utopolitan: Danke für das Interview.

 

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Transhumanismus – eine alte Idee jetzt noch dümmer

Transhumanisten wollen den Menschen mit technischen Mitteln vervollkommnen. Die Kritik, Transhumanismus gleiche dem Übermenschenkonzept der Nazis, versucht Natasha Vita-More von De:Trans mit folgendem Argument abzuwehren:

„Wir sollten uns aber nicht von den Fehlern der Vergangenheit leiten lassen.“

(SZ vom 8./9. 6. 2013, S. 18)

http://www.sueddeutsche.de/wissen/verbesserte-menschen-die-vielleicht-gefaehrlichste-idee-der-welt-1.1691220-2

Moment mal. Lesen wir diesen Satz vielleicht nochmal zum Mitschreiben:

„Wir sollten uns aber nicht von den Fehlern der Vergangenheit leiten lassen.“

Man soll also nicht aus Erfahrungen lernen. Für die Selbst-Vervollkommnung des Menschen ist das ein wirklich überzeugendes Programm.

Ich habe in meinem Leben echt schon viele Fehler gemacht, wahrscheinlich die meisten wirklich schwerwiegenden in Liebesbeziehungen. Zum Beispiel dieses Fremdknutschen.

Nach Vita-More und den Transhumanisten sollte ich aber nicht verzagen, geschweige denn mein Verhalten ändern, sondern einfach ein paar Neuro-Enhancer Pillen einwerfen, die mich glücklich und aktiv machen. Dann kann ich fröhlich weiter fremdknutschen, und dazu noch davon überzeugt sein, dass ich ein optimalerer Mensch bin als die Frau, die mich zurecht verlassen hat.

Stell Dir dieses Verhalten mal als Massenphänomen vor: Eine Gesellschaft von Fremdknutschern, die sich fantastisch finden. Na herzlichen Glückwunsch. in 2 Monaten wäre alles zusammengebrochen, Mord, Totschlag, Eifersucht, Einsamkeit.

Und weil es so schön war:

„Wir sollten uns aber nicht von den Fehlern der Vergangenheit leiten lassen.“

(Natasha Vita-More von De:Trans)

Gewerkschaften zu Tode loben – Teil 1

Thomas Lobinger lobt in der SZ die Tarifautonomie und sieht den Mindestlohn als grundgesetzwidrige Übernahme von gewerkschaftlichen Aufgaben durch den Staat.Besser sei es, das System der Kombi-Löhne gerechter zu machen. Der Sozialstaat finanziere Niedriglohnarbeitsverhältnisse zugunsten mancher Unternehmer mit, durch eine Abgabe für diese Unternehmer solle das begrenzt werden.

Lobinger argumentiert mit der grundgesetzlich geschützten Vertragsfreiheit. Nun gilt die nicht absolut, sondern in Grenzen: Kein Vertrag hätte vor Gericht Bestand, in dem der Arbeitnehmer auf sein Wahlrecht verzichtet. Die Grenzen, in denen Verträge geschlossen werden, werden politisch durch Gesetze gezogen. Warum sollte ein Mindestlohn von 10 Euro hier eine unzulässige Einschränkung der Vertragsfreiheit darstellen, dient er doch erst einmal nur dazu, die grundgesetzlichen Rechte auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu realisieren?

Oberhalb von 10 Euro gibt es immer noch genug Verhandlungsmasse, um die Gewerkschaften vor der Bedeutungslosigkeit zu retten. Ich kenne keinen Gewerkschafter, der nicht lieber für eine Lohnerhöhung von 20 auf 22 Euro kämpfen würde als die Abwehrschlacht gegen eine Minderung des Reallohnes von 6 auf 4 Euro zu schlagen.

Ausbeutung im Authentizitätsmodus

Warum werden immer mehr Menschen depressiv und verstummen in ihrer Depression? Ich versuche im Folgenden eine sozialphilosophische Erklärung für diese Tatsache. Die grundlegende These lautet, dass kluge und ehrliche Menschen das Verstummen in der Depression wählen, um die Ausbeutung immer größerer Bereiche ihres Lebens durch ihre Arbeit zu unterbrechen.

 

Axel Honneth analysiert in seinem Aufsatz „Organisierte Selbstverwirklichung – Paradoxien der Individualisierung“ neue Typen sozialer Widersprüche, die die soziale Genese der Subjekte in der Gegenwart restrukturiert haben.1 Diese Widersprüche nehmen die Form von Paradoxien an. Darunter versteht Honneth soziale Widersprüche, die normativ strukturiertes Handeln von Individuen sozial so einbetten, dass die eigentlichen normativen Ziele der Subjekte nicht nur nicht erreicht werden, sondern sogar gegenteilige Folgen verursachen. Honneth analysiert Prozesse, in denen Anerkennungsforderungen durch neue Formen der Organisation von Arbeit, menschlichen Beziehungen und Freizeit scheinbar erfüllt werden, sich aber die vormaligen Anerkennungsforderungen der Subjekte in soziale Erwartungen an die Subjekte verwandeln und so scheinbare Legitimität ökonomischer Transformationsprozesse erzeugt wird, in Wirklichkeit aber die Organisationsformen, in denen das geschieht, Freiheiten in Zwänge verkehren.

 

Eine Reaktion auf diese Forderungen ist nach Honneth das „Verstummen“ vieler Menschen in depressiven Erkrankungen.2 Die diese Reaktion verursachende Dynamik kapitalistischer Entwicklungen lässt sich wie folgt zusammenfassen: Kapitalistische Gesellschaften eröffnen durch rationalisierte Arbeitsprozesse und durch sozialdemokratische Umverteilungspolitik gesteigerten Wohlstand und mehr Freizeit. In diesem sozialen Kontext entwickeln sich die romantischen Programme von Authentizität und Selbstverwirklichung, die, um mit Adorno zu sprechen, als kulturelles Reservoir der ideologischen Kompensation sozialer Widersprüche von kleinen subkulturellen Gruppen tradiert worden sind, zu Anerkennungsforderungen eines Großteils der Bevölkerung.3 Beispiele sind die Selbstverwirklichungsziele der 68er Bewegung. Dieser kulturelle Prozess verbindet sich nun mit Umstrukturierungen im ökonomischen Verwertungsprozess: Überall dort, wo aus standardisierter fordistischer Produktionsweise eine auf die Eigeninitiative, Kreativität und soziale Vernetzung der Arbeitenden basierende Produktionsweise hervorgeht, verwandeln sich die Anerkennungsforderung nach Selbstverwirklichung und individuellen Freiräumen in Forderungen an die Arbeitenden. Aus berechtigten normativ orientierten Forderungen nach individueller Freiheit werden im Zuge der Verknüpfung kultureller Strömungen mit ökonomischen Verwertungsimperativen neue Zwänge: Erwartet wird Flexibilität, die Bereitschaft, sich in seiner Biographie ständig neuen Bedingungen anzupassen und „sich neu zu erfinden“, einhergehend mit dem Abbau von institutionellen und finanziellen Sicherheiten, desgleichen das Einbringen vormals lebensweltlicher Ressourcen wie Vernetzung, Kreativität und sozialer Kompetenz in ökonomische Verwertungsprozesse und die Aktivierung der eigenen persönlichen Authentizität im Sinne dieser Verwertungsprozesse.

 

Honneth zufolge bleibt den Individuen angesichts der Paradoxie, dass ihnen die Möglichkeit vorgespiegelt wird, sich im Beruf selbst zu verwirklichen, damit aber tatsächlich die Freiheit der Selbstverwirklichung in einen Zwang zur Selbstverwirklichung verkehrt wird, nur die unattraktive Alternative zwischen „aus strategischen Gründen inszenierter Originalität“ und „krankhafter Verstummung.“4

 

Das Verstummen in der Depression ist damit soziologisch betrachtet ein Ergebnis der Tatsache, dass Menschen die Forderung, auch im Beruf ständig „authentische Selbstfindung“ zu praktizieren, nicht mehr erfüllen können:

 

„(…) der permanente Zwang, aus dem eigenen Innenleben den Stoff einer authentischen Selbstverwirklichung zu beziehen, verlangt den Subjekten eine dauerhafte Form der Introspektion ab, die an irgendeinem Punkt gleichsam in die Leere führen muß; und ein solcher Punkt, an dem auch bei starkem Vorsatz die psychischen Erlebnisse nicht mehr eine Richtung des Lebensvollzugs vorgeben, markiert nach Ehrenberg den Augenblick des Beginns einer Depression.“5

Das Verstummen, das Honneth hier skizziert, muss näher analysiert werden. Warum und auf welche Weise verstummen Menschen, die sich unter dem Druck der Arbeitsprozesse gegen inszenierte Originalität entscheiden und denen damit nur das Verstummen in der Depression bleibt? Handelt es sich dabei wirklich um eine Entscheidung oder geschieht den depressiven Menschen ihr Verstummen?

 

Ein Kopierladen in Marburg heißt „be authentic“. Genau diesen Ratschlag gab mir der geschäftliche Leiter einen freien Schule, bei der ich mich nach dem Referendariat beworben habe, als ich ihn fragte, was beim Vorstellungsgespräch von mir erwartet werde: „Seien sie authentisch.“ Es handelt sich bei dieser Aufforderung um einen klassischen performativen Selbstwiderspruch. Das Konzept der Authentizität beinhaltet zentral die Eigenschaft, spontan aus innerem Antrieb heraus zu handeln. So gesehen ist jedes Handeln im Rahmen von Institutionen per se so vorstrukturiert, dass vollendete Authentizität unmöglich ist, insofern es normative Erwartungen an alle Personen gibt, gemäß ihrer institutionellen Rolle zu agieren. Selbiges gilt natürlich auch für die Institution der freien Schule und das dort stattfindende Vorstellungsgespräch. Vorstellungsgespräche haben die Eigenschaft, institutionelle Räume für Kandidaten zu öffnen, die Rollen in diesen Räumen einnehmen könnten. Getestet wird in Vorstellungsgesprächen also auch die Fähigkeit, den normativen Erwartungen der Institution genüge zu tun. Die Institution der freien Schule erwartete von mir also anscheinend, authentisch agieren zu können (im Übrigen wird Authentizität inzwischen generell in der Lehrerausbildung als Gütekriterium für erfolgreiches Lehrerhandeln angesehen, ein Ergebnis auch der Transformationsprozesse, die freie Schulen als Folge der 68er Bewegung in der Pädagogik angestoßen haben). Insofern Rollen aber immer äußere, soziale Rollenerwartungen an Menschen herantragen, gerät die institutionelle Authentizitätsforderung in einen Widerspruch: Sie kreiert einen Raum der Unsicherheit, in dem nämlich unsicher ist, was als authentisch gilt. Offensichtlich öffnet sich die Institution für den Kandidaten nur, wenn er von den anderen als authentisch anerkannt wird. Das Paradox der Situation besteht darin, dass der Kandidat weiß, dass er von den anderen als authentisch anerkannt werden muss, wenn er in die Institution aufgenommen werden will. Daher wird er alle Formen der Inszenierung vermeiden, die als solche erkennbar sind. Genau das Bewusstsein dieser Strategie aber macht es unmöglich, nicht-reflexiv, nicht-strategisch und spontan zu agieren, und das sind alles notwendige Bedingungen für Authentizität. Die explizite Erwartung: „Seien Sie authentisch“ verwickelt also den Kandidaten in eine Situation, in der er strategisch nur erfolgreich sein kann, wenn er im vollen Bewusstsein der Erwartungen der anderen so handelt, als handelte er nicht aufgrund dieser Erwartungen, wie er handelt, sondern aufgrund innerer Antriebe. Außerdem kann er dies nur leisten, wenn er gleichzeitig verbirgt, dass er sich dieses Widerspruchs bewusst ist. Er wird also im Falle, dass er die Situation begreift, gezwungen, unauthentisch zu sein und zugleich zu verbergen, dass er es ist. Daraus folgt, dass nur Menschen, die zu einer so verlogenen Inszenierung auch moralisch fähig sind, im Authentizitätsspiel erfolgreich sein können, oder Menschen, die sich der Widersprüchlichkeit der Situation nicht bewusst sind. Die Authentizitätsnorm begünstigt also kluge Menschen, die gut lügen können und naive Menschen.

 

Mein Erklärungsansatz für das Verstummen von Menschen in der Depression besteht nun darin, dass dieses Verhalten Menschen wählen, die weder naiv sind, noch gut lügen können, und sich der paradoxen Authentizitätsforderung deshalb nicht erfolgreich beugen können. Die Depression wird aber von ihnen nicht als freie Wahl erlebt. Das muss erklärt werden, damit die These Bestand hat. Ich erkläre den Widerfahrnischarakter der Depressionserlebnisse damit, dass die in paradoxe Anforderungen verstrickten Menschen zuerst versuchen, Handlungen zu vollziehen, die als authentisch gelten können, ihnen aber irgendwann die Puste ausgeht in dem Sinne, dass sie bei der inneren Suche nach authentischen Ideen nichts mehr finden. Dass sie nichts mehr finden, hängt meiner These nach damit zusammen, dass sie die Balance zwischen reflexiver Transparenz (indem sie die die Differenz von Rolle und Person explizit ansprechen, etwa wenn ein Lehrer zu Schüler_innen sagt: „Ich muss von euch als Lehrer korrektes Verhalten verlangen, auch wenn ich selbst euch mehr Freiheiten geben will.“) und spontaner Selbstvergessenheit (etwa, wenn ein Lehrer sagt: „Die Individualisierung ist ein hochspannendes Thema, weil sie so widersprüchlich ist.“) im Handeln nicht mehr so hergestellt bekommen, dass sie die paradoxe Authentizitätsforderung erfüllen können.

 

Um die Balance zwischen Selbstvergessenheit (in der Psychologie als „flow“ verharmlost) und reflexiver Transparenz (die ebensowenig harmlos ist, weil sie die Unfähigkeit zeigt, Rollenerwartungen mit den eigenen Wünschen und Fähigkeiten zur Stimmung zu bringen) zu halten, muss eine Person ständig zwischen diesen zwei Strategien wählen, und für diese Wahl gibt es Gelingensbedingungen, weil nicht in jeder institutionell gerahmten Situation beide Strategien erfolgreich problemlösend wirken. Die ständige Analyse der Situation ist zermürbend, nicht nur, weil sie kognitiv anstrengend ist, sondern weil die Situation die Wahl zwischen zwei schlechten Alternativen auf Dauer stellt. Um diese ständige Wahl zwischen Skylla und Charybdis aushalten zu können, müssen Personen eine ganze Reihe außerinstitutioneller Motivationsquellen anzapfen: Ihre Familie, ihre Partner, ihre Freunde, ihre Hobbies, ihren Konsum, politische Gruppen, soziale Netzwerke aller Art. Manche Menschen wählen daher die Depression, weil es die einzige Möglichkeit ist, die Ausbeutung ihrer sozialen Ressourcen durch ihre Arbeit zu unterbrechen und aus der Mobilisierung all ihrer Kraftquellen für die Arbeit auszusteigen. Andere Depressive schützen mit dem Verstummen die Ausbeutung ihrer inneren, motivationalen Ressourcen: Ihre Interessen und die Art, wie sie sich auf Erlebnisse einlassen.

 

Insgesamt ist festzuhalten, dass die Authentizitätsimperative viele Menschen in Verhaltensweisen zwingen, die immer größere Bereiche ihres Lebens als Quellen für die Ausbeutung im Verwertungsprozess erschließen. Das Schweigen in der Depression unterbricht die diskursiven Achsen, auf denen diese Ausbeutung verläuft. Manche Menschen haben den Depressiven gegenüber den immensen Vorteil, dass sie sich für authentisch halten, wo sie bloß Handlungsweisen kopieren. Der Authentizitätsmodus der Ausbeutung macht die klugen Ehrlichen stumm und die klugen Verlogenen und die Naiven erfolgreich. Die Arbeitsgesellschaft geht schweren Zeiten entgegen.

 

Literatur:

Honnet, Axel: „Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie.“ Berlin: Suhrkamp 2010. S. 202-220.

1Vgl. Honneth 2010 S. 202ff.

2Honneth 2010, S. 220.

3Vgl. Adorno: „Studien zum autoritären Charakter.“ Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995.

4Honneth 2010, S. 220.

5Honneth 2010, S. 220.

Lesen Sie die Bibel, Herr Bouffier?

eine Frage anlässlich meiner Erlebnisse beim Polizeikessel auf der Blockupy-Demonstration am 1.6.2013 in Frankfurt a.M.

Die hessische CDU scheint es für ein Beispiel christlicher Nächstenliebe zu halten, Menschen, die für eine gerechte Welt demonstrieren, von der Polizei mit Knüppeln verprügeln und mit Pfefferspray verätzen zu lassen.Ich muss wohl meine Bibel nochmal lesen, denn ich hatte Jesus da irgendwie anders verstanden.

„Selig sind, die da hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.“

„Selig sind die Friedfertigen, denn sie sollen Gottes Kinder heißen.“

Ich will nicht auf den Himmel warten. Und ich will nicht von einer Partei regiert werden, die das „C“ in ihrem Namen anscheinend nur noch zu Publicityzwecken für eine Politik der Gewalt und Ungerechtigkeit missbraucht.

Herr Bouffier hat jetzt gütig angekündigt, von den etwa 270000 in Hessen benötigten Sozialwohnungen sage und schreibe 2000 zu bauen. Danke! Vielleicht können sie die restlichen 268000 Familien auch gleich verprügeln lassen, das wäre ehrlicher, als sie weiter bei überteuerten Mieten in engen Wohnungen einzusperren.

Bei Paulus heißt es: „Es bleiben diese drei: Glaube, Liebe Hoffnung. Am höchsten aber ist die Liebe.“

Ich hoffe ja auf eine Weltwirtschaft, in der keine  Näher_innen in einstürzenden Schrott-Textilfabriken in Bangladesch zu Tode gequetscht werden, damit Frankfurter Bürger_innen auf der Zeil ihre Plastiktüten mit 9,90-Euro-Jeans vollstopfen können. Und ich glaube an eine Gesellschaft, die nach andern Prinzipien als Profitmaximierung und Konkurrenz bis aufs Blut funktioniert, nämlich nach den Prinzipien der Solidarität, der Freiheit und der offenen Kommunikation.

Von Liebe habe ich allerdings nicht mehr viel gespürt, als ich vor dem nigelnagelneuen Wasserwerfer der hessischen Polizei stand. Dazu hatte ich zuviel Angst. Und meine Mitdemonstrant_in mit der Beule am Kopf wird sich ihr T-Shirt mit dem Herzen vorne drauf und dem Slogan „reloveUtion“ hinten drauf das nächste Mal vielleicht auch nicht mehr anziehen.

Eines meiner Lieblingsbücher neben der Bibel ist ja das Grundgesetz der Bundesrepublik deutschland. Dort kannst du die folgenden verfassungsmäßigen Grundlagen unserer Staatsordnung nachlesen:

Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden. (Artikel 2)

Weiter heißt es ebenda:

Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. (Artikel 20)

Wie würden Sie das 9stündige Festhalten von 1000Personen in einem Polizeikessel, ohne genügend Wasser oder eine Toilette allein mit der Begründung, einige der Eingekesselten hätten ein Tuch vor dem Mund gehabt und es seien Feuerwerkskörper geworfen worden, vor dem Hintergrund dieser Grundgesetzartikel beurteilen?

Schöne Grüße, Herr Bouffier, ich empfehle Ihnen wärmstens diese zwei Bücher:

Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Autorenkollektiv.

Die Bibel. Verfasser nur teilweise bekannt.

In welcher Reihenfolge Sie sie lesen und welches ihnen wichtiger ist, ist mir egal.

 

Polizei erstickt Demonstrationsrecht mit Pfefferspray

Ein Medienspiegel zur Blockupy Demonstration am 1.6.2013

Ich war dabei. Stellt gerne Fragen per Mail.

 

http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/blockupy-proteste-in-frankfurt-neun-stunden-im-kessel-1.1686594

 

http://www.hr-online.de/website/specials/extended/index.jsp?key=standard_document_48621415&jmpage=1&type=v&rubrik=81261&jm=1&mediakey=fs/hessenschau/130601195202_hs_blockupy_6990

 

http://ea-frankfurt.org/

 

http://www.fr-online.de/blockupy-frankfurt/blockupy-frankfurt-live-ticker-stimmung-wird-immer-aggressiver,15402798,23082772,view,asFirstTeaser.html

 

http://www.fr-online.de/frankfurt/blockupy-frankfurt-ende-einer-demonstration,1472798,23093936.html

 

http://www.grundrechtekomitee.de/node/581

 

http://www.fr-online.de/blockupy-frankfurt/blockupy-frankfurt-blockupy-tage-gehen-zuende,15402798,23090704.html

 

http://www.hr-online.de/website/specials/extended/index.jsp?rubrik=81261&key=standard_document_48633809

Das Geldrätsel, Brötchen und wann Freiheit erotisch ist

Geld ist ein Mysterium – wir wissen nicht genau, wie es funktioniert. Das trifft nicht nur auf diejenigen unter uns zu, die schlecht wirtschaften können, so wie ich. Fragen wir Ökonomen, wie die Geldwirtschaft funktioniert, werden wir sehr viele verschiedene Antworten bekommen, die sich nicht zu einem Ganzen fügen: Die letzte Erklärung liegt im Dunkeln. Ich persönlich glaube, dass geldbasierte Wirtschaft in letzter Konsequenz so etwas wie eine magische Praxis ist, die auf dem Glauben der Teilnehmer daran beruht, dass die Praxis funktioniert und ihre Richtigkeit hat. Geldwirtschaft ist eine Wirtschaft, die nicht auf Wissen beruht, die Aufklärung ist hier gescheitert. Wenn ich in der Bäckerei an meiner Ecke einen alten Mann ein Geldstück über die Theke reichen sehe, das die junge Bäckerin lächelnd annimmt und ihm daraufhin eine Tüte Brötchen hinüberreicht, dann sehe ich eine magische Verwandlung mit zwei Seiten: Das Geld hat sich in die Brötchen verwandelt und umgekehrt. Das funktioniert genau so lange, wie beide Tauschpartner daran glauben, dass diese Verwandlung das Normalste auf der Welt ist, was sich daran zeigt, dass sie praktisch darin vertrauen, dass der jeweils andere die Regeln der magischen Praxis kennt und einhält.

 

Dass sich überhaupt Geld in Brötchen verwandeln muss, wird durch das Recht auf Privateigentum notwendig: Hätte der Bäcker kein Eigentumsrecht an seinen Brötchen, könnte jeder die Brötchen im Laden einfach mitnehmen und müsste kein magisches Kaufritual vollziehen. Mit dem Privateigentum kommt das Problem auf, wie alle an Sachen kommen, die andere produzieren, ohne dass alles total umständlich ist und ich morgens erstmal dem Sohn des Bäckers Rechtschreibung beibringen muss, um mir meine Brötchen verdienen zu können, dann mittags für die Telekom Flugblätter verteilen, um meine Telefonkosten zu begleichen und abends noch schnell bei der Näherin das Fenster reparieren muss, damit ich mir eine neue Hose verdiene. Stellt man sich vor, dass Millionen von Leuten täglich so Arbeit tauschen, merkt man schnell, dass das auf ein Chaos von kosmischen Ausmaßen hinausläuft.

 

Zauberhafterweise hat deshalb jemand das Geld erfunden: Es begrenzt das Chaospotential des Privateigentums, so dass wir im Alltag erstmal klarkommen und mit einem universellen Tauschmittel ganz unterschiedliche Werte tauschen können. Den Wert einer Arbeitsstunde eines Schreiners tauschen wir gegen den einer Arbeitsstunde einer Buchhalterin und den gegen den Wert eines Goldnuggets, den irgendein lucky bastard im Fluss gefunden hat, wofür er nur den ganzen Tag die Beine lang machen und sich dann kurz bücken musste.

 

Das Problem ist jetzt, dass die Praxis des Geldbenutzens einen Riesennachteil hat: Eigentlich dient ja Geld dafür, unsere Wünsche und Bedürfnisse zu erfüllen, ohne dass wir alles selbst können und machen müssen: Ich muss also nicht Nähen können, um mir den Wunsch nach einer neuen Hose erfüllen zu können, es reicht, wenn ich Kindern Rechtschreibung beibringe und den Lohn dafür für die Hose ausgebe. Geld befriedigt aber illusionärerweise noch einen weiteren Wunsch: Den Wunsch, sich alle Wünsche erfüllen zu können, die jemals auftauchen werden. Ottfried Höffe hat den Wunsch nach Geld deshalb einen Wunsch zweiter Ordnung genannt: Wir wünschen uns, ein Mittel zu haben, mit dem wir alle Wünsche erfüllen können.1

Scheinbar bietet ein solches Mittel uns eine Menge Freiheit, weil es sozusagen unspezifisch genug ist, um damit viele verschiedene Wünsche erfüllen zu können.

Ulrike Ackermann lobt dann auch einen vom Kapitalismus ermöglichten „Eros der Freiheit“.3 Sie will die Freiheiten des kapitalistischen Wirtschaftssystems gegen den Zwang zu Gleichheit und staatlicher Verwaltung verteidigen. Das finde ich erstmal richtig. Aber was ist eigentlich Freiheit? Der Philosoph Harry G. Frankfurt hat folgendes Konzept von Willensfreiheit: Den Willen von Personen bezeichnet er als Wunsch zweiter Ordnung: Was wir wollen, sei davon abhängig, welche Wünsche wir uns wünschen. Wer sich nicht bestimmte Wünsche aussuchen und andere vernachlässigen kann, ist nach Frankfurt ein „Wanten“, jemand, der von seinen eigenen Wünschen durch die Gegend getrieben wird und sich nicht vernünftig überlegen kann, was er machen will. Im Volksmund bezeichnet man solches Verhalten dann auch als „willenlos“. Manche Männer im Vollrausch graben zum Beispiel unter Missachtung aller guten Sitten Frauen sehr platt an, weil der Alkohol ihre Fähigkeit, sich bestimmte Wünsche wünschen zu können und andere nicht handlungswirksam werden zu lassen, ausgeknipst hat.

 

Jetzt hat der Willensbegriff nach Frankfurt einen riesigen Haken: Personen haben nämlich nicht nur Wünsche, sondern auch Bedürfnisse, zumindest, wenn sie Menschen sind und keine Computer oder Vulkanier wie Dr. Spock. Und Bedürfnisse kann man sich jetzt wünschen oder nicht wünschen, die hat man einfach. Die katholische Kirche experimentiert zum Beispiel seit Jahrhunderten damit, das Bedürfnis ihrer Priester nach Sex mit Wünschen zweiter Ordnung auszuschalten, hat dazu ausgefeilte Techniken der spirituellen Belohnung und drakonische Strafen ausprobiert, und alles, was dabei herausgekommen ist, sind eine Menge unglücklicher Leute und missbrauchte Ministranten. Frankfurts Modell der Willensfreiheit funktioniert also nur für Wünsche, die wir auch zurückstellen können, nicht für Bedürfnisse.

 

Zu diesen Bedürfnissen gehört meines Erachtens alles für das Überleben der Spezies Mensch notwendige: Zum Beispiel Essen, Sex und Schutz vor Krankheit und einer feindlichen Natur. Das unterdrückerische, repressive am Kapitalismus ist jetzt, dass manche Leute mit ihren Eigentumsrechten die Bedürfnisse anderer Leute ausnutzen können, um ihre eigenen Wünsche zu erfüllen. Sie können nämlich Geld mit Eigentumsrechten verdienen, die ihnen die Kontrolle über die Bedürfnisbefriedigung anderer Menschen geben, zum Beispiel an Brötchen, oder Wasser, oder Häusern. Deshalb machen sie die Bedürfnisse anderer Menschen zu Instrumenten für ihre Wünsche. Deshalb sind Märkte, auf denen Verträge über solche Dinge abgeschlossen werden, nicht frei, denn einige Menschen instrumentalisieren andere, um ihre Wünsche zu erfüllen.2 Diese Möglichkeit zur Unterdrückung nutzen nicht nur Aktienmillionäre aus, sondern auch Lotte Schlichter von nebenan, die bei KiK eine Hose für 9,90 kauft, die von einer 14jährigen Näherin in Bangladesch zu einem Stundenlohn von 3 Cent genäht wurde.

 

 

Das uns Geld als etwas erscheint, was frei macht, hat meiner Meinung nach folgenden Grund: Im Kapitalismus wird für uns das Geld zum Modell für unsere Freiheit: „Wer den Zweck will, will auch das Mittel“, hat Kant geschrieben. Wir wollen frei sein, also überlegen wir, welches Mittel wir brauchen, um diesen Wunsch erfüllen zu können. Dabei drängt sich Geld auf: Denn Geld ist wie unser Wille eine Struktur zweiter Ordnung: Der Wille ist die Fähigkeit, Wünsche wünschen oder nicht wünschen zu können, und Geld ist ein Instrument, mit dem wir alle anderen Instrumente herstellen können.

 

Nehmen wir an, ich wünsche mir eine Hose. Deshalb kaufe ich mir die Arbeitskraft von Profi-Näherinnen mit meinem Geld. Damit mache ich sie zu einem Instrument für meine Wünsche, aber so lange die den Deal freiwillig eingehen, ist das erstmal keine Unterdrückung. Die Unterdrückung fängt da an, wo ich die Bedürfnisse anderer Leute ausnutze, um sie zu zwingen, für meine Wünsche die Instrumente zu sein. Das Problem an Frankfurts Freiheitsbegriff und dem des Kapitalismus ist jetzt meiner Meinung nach, dass beide systematisch verdecken, dass Leute auf breiter Front die Tatsache, dass wir alle Bedürfnisse haben, die wir uns nicht aussuchen können, ausnutzen, um andere Leute auszubeuten. Wenn wir jetzt noch ein psychologisches Modell menschlicher Bedürfnisse einbeziehen, das von Maslow entwickelt worden ist, können wir sehen, dass selbst unsere scheinbare Freiheit im Reich der Wünsche bloß eine Scheinfreiheit wird, wenn der Kapitalismus voll auf alle Lebensbereiche durchschlägt: Maslow zufolge bauen bei Menschen folgende Bedürfnisse pyramidenförmig aufeinander auf: 1. Physiologische Grundbedürfnisse (Essen, Sex), 2. Bedürfnis nach Schutz, 3. Bedürfnis nach Gemeinschaft, 4. Bedürfnis nach Anerkennung, 5. Bedürfnis nach Selbstverwirklichung.

 

Ich würde meine These von oben also insofern revidieren, als ich glaube, dass wir zwar, wie Frankfurt meint, wirklich teilweise frei zwischen Wünschen entscheiden können, aber dass wir das auf Ebene 1 und 2 von Maslows Bedürfnispyramide gar nicht, auf Ebene 3 vielleicht ein bisschen, auf Ebene 4 ein bisschen mehr und erst auf Ebene 5 dann ganz können. Da aber die unteren Ebenen Voraussetzung für Ebene 5 sind, wird unsere Freiheit als Person in einer Gesellschaft, die Bedürfnisse nutzt, um Profit zu generieren, immer wieder zunichte gemacht. Wenn mir zum 20. Mal die Selbstverwirklichung zusammenkracht, weil die Gesellschaft mein Bedürfnis nach Anerkennung nutzt, um mich zu Lohnarbeit zu zwingen, dann gebe ich vielleicht diese 5. Ebene irgendwann ganz auf. Und genau das passiert im Kapitalismus flächendeckend mit unserer Freiheit. Deshalb ist er ein unvernünftiges System, das nur funktioniert, solange wir alle glauben, mehr Geld bedeute mehr Freiheit. Die geldvermittelte Freiheit des Kapitalismus ist aber, weil sie die Bedürfnisse von Menschen zu deren Unterdrückung benutzt, ziemlich unerotisch. Echte Freiheit ist, da würde ich Ackermann zustimmen, tatsächlich erotisch. Aber echte Freiheit gibts nur dort, wo der Kapitalismus nicht herrscht.

 

1Ottfried Höffe: Lebenskunst und Moral. C.H. Beck.

2Vgl. Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhetik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

3Vgl. Ulrike Ackermann: Eros der Freiheit. C.H. Beck 2008.