Angst vor der Freiheit

someone to shame us
someone to blame us
someone to rule us
someone to follow
we want you Big Brother
 
David Bowie, Diamond Dogs
 

Menschen, die sich unterordnen wollen, finden immer einen Weg, das zu realisieren, solange die Gesellschaft Strukturen und Prozesse der Herrschaft bereithält.

Hitlers Worte „…dass ihr mich gefunden habt unter so vielen Millionen“ haben deshalb so stark auf mich gewirkt, weil sie eine Wahrheit aussprechen, die man gerne verdrängt: Dass Millionen von Menschen in der Weimarer Republik einen Ausweg aus der Freiheit, die ihnen zu gefährlich war, gesucht haben und diesen Menschen Hitler zu ihrem Mittel zu diesem Zweck gemacht haben: Sie haben ihn an die Spitze ihrer totalitären Bewegung gesetzt, und er konnte sich auserwählt fühlen, allerdings hätte es auch jemand anderes sein können, entscheidend war das Prinzip der Unterordnung, nicht, wer an der Spitze stand.

Deshalb ist die Dämonisierung Hitlers, die Mär, es habe sich um ein außerordentlich begabtes, wenn auch böses Genie gehandelt, im Grunde nur der ferne Schatten der Prozesse, in denen die meisten Deutschen ihre Freiheit an ihn abgaben, weil sie ihnen zu schwierig zu bewältigen war. Im Nachhinein soll nun Hitler verantwortlich gewesen sein für eine kollektiv erzeugte Katastrophe, soll dieselbe Funktion historisch wieder erfüllen: Die Millionen Menschen von ihrer Verantwortung zu befreien.

Männer, we’re free at last!

Mir wurde gerade klar, welche Leiden die männliche Herrschaft den Familienvätern, Wirtschaftsbossen und patriarchalen Mächtigen dieser Welt eigentlich seit Jahrtausenden abverlangt hat.

Immer sollte der Vater, der Chef oder sonst ein Bartträger in den kompliziertesten und vertracktesten Situationen wissen, was für alle das Beste ist: Egal, ob die Geliebte des Sohnes dem der Mutter verhassten Nachbarclan angehörte, ob in der ökonomischen und gesellschaftlichen Situation völlig unklar war, welche Ausbildung die Kinder in eine prosperierende Zukunft führt, ob hunderte von Interessengruppen im Königtum um Einfluss buhlten: Immer sollte der Vater, König, Chef, Pabst wissen, was zu tun ist.

Meistens hatte der jeweils Betroffene von meinen Geschlechtsgenossen genauso wenig Ahnung wie alle anderen, was das Beste ist, und musste dennoch ständig so tun, als wüsste er’s. Welch lange Jahrhunderte der Lüge, der Fehlentscheidungen, der vergeblichen Mühsal und Plackerei! Wie oft musste sich ein armer Hansel wie ich verstellen, um das Bild des charakterlich starken, weisen, mutigen und besonnenen Herren des Schicksals aufrechtzuerhalten!

Thank Goddess, we’re free at last! Die Frauen haben uns befreit. Es hat ein Ende mit der langen Qual des Patriarchats. Zeit zu feiern.

Utopia: Es gibt kein Rezept

Ich habe über die These nachgedacht, dass wir uns in der Postmoderne in einer Zeit befinden, in der die großen Erzählungen vom Sinn der Geschichte nicht mehr glaubhaft sind. Die Aufklärung, der Liberalismus, der Kommunismus, auch die Religionen können nach dieser These keine stimmige Geschichte mehr erzählen, in der die Menschheit auf ein gutes Leben in der Zukunft zusteuert. Was bleibt, so heißt es, sind Bruchstücke von Sinn, aber keine zusammenhängende Orientierung, die uns sagt, wozu wir leben, woher wir kommen und wohin wir gehen.

Nun habe ich weiter überlegt, ob ich mir eigentlich noch so etwas wie ein sinnvolles Ende der Geschichte der Menschheit in der Zukunft vorstellen kann. Und ich bin zu dem Ergebnis gekommen: Ja, ich glaube daran, dass die Menschen es schaffen können, in einer fernen Zukunft friedlich, frei und ohne ihre eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören zusammen leben können. Ich stelle mir das Ganze ein bisschen so wie einen Garten Eden mit Internet vor.

Ich glaube aber auch nicht mehr an meine früheren persönlichen großen Erzählungen, nämlich Christentum, Kommunismus, Anarchismus, Buddhismus, Liberalismus und Aufklärung, an die ich in genau dieser Reihenfolge in meinem Leben geglaubt habe. Die bitterste Enttäuschung ist mir immer noch der Liberalismus, vielleicht, weil ich den offensichtlichen Widerspruch zwischen Menschenrechten, Freiheit und Toleranz, die die Liberalen bei jeder Gelegenheit beschwören, und der realen Bilanz liberaler Politik in einer Welt der kapitalistischen Verschärfung von Elend, Flucht, Diktatur, Krieg, Ungerechtigkeit und Chaos besonders empörend finde.

Ich glaube trotzdem, dass wir es schaffen können, aus dieser desaströsen Lage herauszukommen. Aber es gibt keine Karte, die uns nach Utopia führt. Es gibt kein Rezept. Die Kommunisten haben es mit staatlicher Planung der Wirtschaft und Rätedemokratie versucht, aber sie haben nicht einkalkuliert, wie viele Zwänge sie damit errichten, und die Leute haben die Kommunisten in den meisten Ländern der Welt inzwischen nach Hause geschickt.

Die Aufklärer haben es mit Wissen und Erkenntnis und der Kraft öffentlicher Diskussion mit vernünftigen Gründen versucht, aber sie haben die emotionalen und dunklen Seiten der menschlichen Seele unterschätzt, ebenso wie sie die menschliche Geduld, Frustrationstoleranz und Aufmerksamkeitsspanne, die für endlose rationalistische Prozeduren gebraucht werden, überschätzt haben.

In einem haben die Postmodernen also recht – es gibt keine Wegweiser ins goldene Zeitalter. Alles, was wir haben, sind Bruchstücke von Sinn, kleine Geschichten, die sich zu keinem großen Ganzen fügen wollen. Aber genau das ist ja der Clou an einem echten Utopia – dass es kein großes Ganzes sein darf, damit alle Menchen ihr Leben darin leben können. So gesehen ist die Postmoderne ein Puzzleteil, dass wir auf dem Weg zum guten Ende der menschlichen Geschichte dringend gebraucht haben. Aber die Geschichte geht noch weiter, und wir wissen nicht, wohin – ich persönlich möchte ja wie gesagt eine Art Garten mit Internet.

Good Old Bullshit

Tobias Kniebe meint, wir würden ohne das „good old Urheberrecht“ den superreichen Künstler vermissen. Ohne „fuck-you-money“ für geniale Ideen wie Harry Potter und Star Wars, deren Urheber sich niemandem unterordnen müssen, verkäme alle Kultur zu einer lauen und dienstbeflissenen Langeweileshow. („Zählt ihr nur eure Erbsen“, SZ vom 15./16.9.2012)

Wie es sich für einen gehobenen Bildungsbürger gehört, versieht Kniebe seinen Artikel mit einer Ouvertüre, in der er sanft Adornos „Verblendungszusammenhang“ streift und sehr harmonisch passend dazu die Kapitalismuskritikharfe kurz anzupft. Das dient aber nur dazu, bei dem ebenfalls bildungsbürgerlich sozialisierten Leser die passende Stimmung für die Lektüre einer ordentlichen Portion Gesellschaftskritik herzustellen.

Die besteht vor allem darin, die Forderungen der Commons-Bewegung, kulturelle Inhalte im Netz frei verfügbar zu machen, als Anschlag auf Freiheit und Genie in der Kunst zu diskreditieren.

Ich finde es ja löblich, dass Kniebe die ohne ordentliche Arbeit superreich gewordenen Künstler als Symbole für die Möglichkeit, ohne Duckmäuserei und Plackerei seinen Weg zu machen, im Sinne der gesellschaftlichen Förderung von Freiheit vor den bösen Communarden der neuen Medien retten will. Was ich mich frage, ist aber: Ab welchem monatlichen Einkommen habe ich eigentlich die „fuck-you-money“-Grenze erreicht und bin endlich frei? Reichen 1000 Euro für meinen persönlichen kleinen Haushalt, Essen, Miete und gelegentlich die neue Scheibe von eels, nicht aus, um dem Chef im Büro den Finger zu zeigen? Wieso brauche ich dazu die Milliarde? Und wäre die Milliarde nicht im Sinne der gesellschaftlichen Förderung von Freiheit und Genialität besser angelegt, wenn sie gleichmäßig auf viele kleine monatliche 1000-Euro-fuck-you-Förderungen verteilt würde? Mehr noch, wieso brauche ich für meine eigene kleine Fuck-you-Einstellung eigentlich J.K. Rowling als Symbol für den Erfolg kreativer Ideen?

Ein Freund von mir ist Lastwagenfahrer. Als wir auf einer Party im Spaß anfingen, unsere persönliche Denkerpose vorzuführen, sagte er: „Meine Denkerpose sieht so aus.“ Dabei er fuhr sich bedächtig mit dem ausgestreckten Mittelfinger über die Augenbraue. Ich glaube, in Sachen „fuck-you-Einstellung“ könnte Tobias Kniebe von meinem Freund einiges lernen, genauso wie von all den anderen Menschen auf der Welt, die ohne die Milliardengrenze geknackt zu haben täglich ihre „fuck-you-Einstellung“ gegenüber Chefs und dem ganzen autoritären Gesocks, das versucht, unser Leben zu kontrollieren, aufrechterhalten, und zwar ohne, dass sie dabei mit glasigem Blick auf Symbole wie George Lucas starren. Solche Symbole von Freiheit werden im Kapitalismus vor allem dazu geschaffen, echte, reale Freiheit zu ersetzen durch die bloße Hoffnung auf mögliche zukünftige Freiheit.

Das „Good Old Urheberrecht“ will ich aber trotzdem nicht abschaffen. Von mir aus sollen J.K. Rowling, George Lucas und Phil Collins vor sich hinsymbolisieren, soviel sie wollen. Ich will bloß nicht in einer Zeitung, die ich monatlich bezahle, Pseudoargumente über symbolische Freiheit im Kapitalismus lesen müssen, die jetzt dazu geführt haben, dass ich eine Stunde lang statt an meinem Roman zu schreiben diesen Blogartikel schreiben musste.

Democon: Idee für eine Suchmaschine für strategischen Konsum

Internetportal democon: Eine Idee zur Förderung strategischen Konsums

Entwickelt wird eine Ratingmaschine, die das Internet nach verfügbaren Konsumenteninformationen von non-profit-organisationen (Staatl. Prüfstellen, Umweltverbänden, Gewerkschaften, unabhäng. wiss. Institute etc., NGOs) absucht und dem Konsumenten, der ein Produkt kaufen will, eine ethisch begründete und geprüfte Kaufempfehlung gibt.

Der Vorteil liegt darin, dass eine Fülle von Informationen automatisch gesichtet und ausgewertet wird und der Konsument sein Kaufverhalten auf seine Prioritäten abstimmen kann, ohne viel Zeit dafür verausgaben zu müssen.

Der Benutzer kann die Ratingmaschine so konfigurieren, dass die Gewichtung der Einzelcluster prozentual den eigenen Prioritäten entspricht. Kein Cluster des objektiven Kriterienteils kann auf null gesetzt werden. (Ausgewogenheitsgebot, principle of balance).

Zugleich gibt es eine „default“-Konfiguration der Maschine, die in Abhängigkeit zu der ökonomischen, politischen und ökologischen Situation, die zur Zeit der Abfrage im Bezug auf das gesuchte Produkt relevant ist, die Kriterien gewichtet (Rückkopplungskreis Produkt-Kriteriengewichtung). Die default-Konfiguration wird von Expertenräten unter Beachtung der statistischen Präferenzgewichtung erstellt.

Bei jeder individuellen Konfiguration werden die Abweichungen der Gewichtung und der damit verbundenen Kaufpräferenz zur default-Konfiguration angezeigt. (Informationsgebot principle of information)

Der Nutzer hat zugleich die Möglichkeit, ein individuelles Profil zu erstellen, das sowohl seine Historie der Suchabfragen und deren Ergebnisse, sowie die Historie seiner Gewichtungsverschiebungen in der Konfiguration und das Verhältnis beider speichert. Außerdem kann er hier vermerken, welchen Kaufempfehlungen er tatsächlich gefolgt ist.

Diese Information kann vom individuellen Nutzer privat gehalten, der Administration zur Verfügung gestellt oder direkt veröffentlicht werden. Aus den verfügbaren und veröffentlichten Daten wird eine Nutzungsstatistik der Maschine erstellt und veröffentlicht.

Ergänzend gibt es ein Wiki, dass zu Marken/Firmen/Produkten die wichtigsten ethisch relevanten Informationen verfügbar macht (Firmenstruktur, Investitionspolitik, Lohnpolitik, betriebliche Mitbestimmung, vgl. unten zum Kriterienraster)

(Reflexivgebot principle of reflexivity): Das Portal kann selbst von individuellen Nutzern geratet werden im Verhältnis zu anderen Konsumenteninformationsseiten. Die dabei veranschlagten Prioritätensetzungen müssen bei der Weiterentwicklung berücksichtigt werden.

Das Portal muss in regelmäßigen Abständen von der Verwaltung geratet und so geprüft werden.

Kategorien des Rating:

I. Allgemeiner Teil (Objektive Seite) (mindestens 25 Prozent des Gesamtratings):

1. Sozialverträglichkeit:

a) Löhne der Produzenten im Verhältnis zum Gesamtgewinn

b) Arbeitsverhältnisse in den Produktionsstätten/bei der Distribution

c) Arbeiterrechte/ Mitbestimmung

d) Investitionspolitik des Unternehmens (wie, wofür und wo werden die Gewinne reinvestiert?)

2. Umweltverträglichkeit:

a) Rohstoffnutzung (relative Recyclingrate im Vergleich zu anderen Produkten und Recyclingmaterialmenge im Vergleich zur Gesamtmaterialmenge)

b) Energie (Art der genutzten Energiequellen, Wirkungsgrad, Energiemengenverbrauch)

c) Senken (wie viel Emissionen werden im Vergleich produziert, wie werden sie abgelagert)

d) Ökologischer Flurschaden (wie große Beeinträchtigung von welchen Ökosystemen welcher Bedeutung?)

 

II Individueller Teil (subjektive Seite):

3. individuelle Gesundheit

a) welche Schadstoffe enthält das Produkt (chemische Zusammensetzung und Forschungsergebnisse)

b) welche Wirkung hat das Produkt auf den Organismus (vor allem Ernährung)

c) welchen Effekt hat die mit dem Produkt verbundene Verhaltensänderung auf die Gesundheit des Käufers? (z.B. Auto, Fahrrad, Zugfahrkarte, Computer, Buch, Fernseher, Werkzeug, Drogen)

4. individueller Nutzen

a) wie viel Zeit und Geld spart das Produkt?

b) wie haltbar ist das Produkt (Qualität)? Problem: Wie objektivieren?

c) wie viel Lebensqualität erzeugt das Produkt?

Probleme:

1. Welche Informationen sind verlässlich, welche Organisationen werden in den Pool aufgenommen? – Lösungsmöglichkeiten:

Beirat des Alternativen Nobelpreises als Entscheidungsgremium/unabhängiger Beirat

demokratisch legitimierte und geprüfte Gemeinnützigkeit als Kriterium

2. Wie werden die Informationen technisch ausgewertet und gebündelt?

Lösungsmöglichkeiten:

als Wiki und als Open source – Projekt

Problem: Öffnung für Konsuminteressen/Kommerzinteressen möglich!

Lösungsmöglichkeit: Demokratische Wahl von Administratorenräten

3. Profile – Datenschutz und Instrumentalisierungsgefahr

Für die Möglichkeit der Datenspeicherung spricht, dass 1. die Nutzer selbst darüber entscheiden können und das 2. Der Nutzer sich selbst so Auskunft über die Entwicklung seiner Konsuminteressen und seiner Kaufkriterien geben kann. Das ist ein wirksames Instrument der Eigensteuerung und Selbstbeobachtung beim Kaufen. Der Käufer sollte Fragen stellen können wie: „Wie wichtig oder unwichtig ist meine Gesundheit für meine Kaufentscheidungen in den letzten Monaten geworden?“ „Wie liege ich damit zum Mittel der Konsumenten insgesamt?“

Zusätzlich kann über die statistische Veröffentlichung der Summendaten geprüft werden, wozu die Maschine größtenteils genutzt wird und wohin die Tendenz geht, wodurch im Selbstverwaltungsprozess die Informationsbasis bereitgestellt wird, die Weiterentwicklung der Maschine entsprechend der gemeinsamen Zielvorstellungen zu steuern.

Die angedachten Strukturen sind auf die Wahl des Arbeitgebers, die Investition von Kapital in Unternehmen und Aktien sowie auf die Wahl der Geldanlage, der Bank und der Heimat ausdehnbar.

Exklusivität

Das größte Problem ist, dass das Portal den überwiegenden Teil der Weltbevölkerung ausschließt, der weder Konsumentscheidungen oder eine der anderen oben genannten Entscheidungen frei treffen kann, noch technischen Zugang zum Internet hat. Es droht also eine Maschine der Herrschaft einer Minderheit zu werden. Die Maschine muss also so konfiguriert werden, dass sie die Tendenz befördert, eine zunehmende Zahl von Menschen in den Entscheidungsprozess mit einzubeziehen beziehungsweise die dazu nötigen Rahmenbedingungen zu schaffen.

Copyright (C) 2012 Arne Erdmann.

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Camper aller europäischen Länder, vereinigt euch!

Thomas Steinfeld vermisst das „politische Subjekt“ einer gemeinschaftlichen europäischen Haftung für Schulden. (Thomas Steinfelds Kritik an Habermas, Bofinger und Nida-Rümelin : „Gemeinschaft der Konkurrenz.“ SZ Nr. 181 vom 7.8.2012) Die Nationen in Europa konkurrierten wirtschaftlich miteinander, täten dies aber in einem gemeinsamen Währungsraum, so die brilliante Analyse des SZ-Feuilletonisten. Mon Dieu, es gibt in Europa tatsächlich Interessengegensätze! Wie um alles in der Welt soll man da zu gemeinsamen Entscheidungen kommen? Welche Nieten halten den europäischen Kahn noch zusammen, wenn es schon kein „politisches Subjekt“ gibt, das ihn steuert? Der Untergang des Abendlandes steht kurz bevor, wir raten allen Zahnärzten, ihr mühsam in Immobilienfonds, die in Spanien überflüssigen Wohnraum finanzieren, angelegtes Geld flüssig zu machen und es stattdessen in Immobilienfonds anzulegen, die auf den Bahamas überflüssigen Wohnraum finanzieren.

Ja, das dürfte die schlimmste Krise erstmal abmildern, bleibt eine Frage: Wo ist das „politische Subjekt“ Europas? Und viel entscheidender: Was ist es? Ein Satzglied im Nominativ, mit dem sich Sätze wie „Das europäische Subjekt will die europaweite Besteuerung von Millionenvermögen zugunsten strukturschwacher Regionen!“ bilden lassen? Ein Satzglied, das im Gegensatz zu „europäischen Objekten“ steht, die zum Beispiel im Dativ oder im Akkusativ stehen und in Sätzen wie dem folgenden vorkommen: „Die Troika zwingt europäischen Krisenländern den Ausverkauf ihres Staatseigentums auf.“? Oder ist vielleicht gar nichts Grammatisches gemeint? Meint Steinfeld mit „Subjekt“ etwa eine philosophische Kategorie? Das Subjekt also als dasjenige, das selbstbestimmt handelt, einen autonomen Willen besitzt und sich denkend selbst erkennt? Machen wir die Probe aufs Exempel: Nach Steinfeld müsste ja ein souveräner Staat wie Deutschland ein „politisches Subjekt“ haben, das im Falle Europas so schmerzlich vermisst wird. Der Zufall will es, dass ich deutscher Staatsbürger bin und sozusagen aus dem inneren Körper des deutschen „politischen Subjekts“ berichten kann, weil ich ja offensichtlich Teil davon bin. Ich wähle, gehe regelmäßig zu Demonstrationen und schreibe Blogartikel. Jetzt ist es so, dass die Regierung meines Landes, obwohl ich sie nicht gewählt habe, ständig das genaue Gegenteil von dem macht, für was ich demonstriere: Ich bin für die stärkere Besteuerung von großen Vermögen. Ich bin für eine Solarförderung, die diesen Namen auch verdient. Ich bin für ein solidarisches Gesundheitswesen. Wenn mein autonomer Wille Teil des autonomen Willens des „politischen Subjekts“ der Bundesrepublik Deutschlands ist, dann muss da irgendwo der Wurm drin sein in diesem „Subjekt“, weil dauernd die anderen Leute ihren Willen gegen meinen durchsetzen, und mein Wille gar nicht berücksichtigt wird, habe ich das Gefühl. Und den meisten meiner Freunde geht es genauso. Anstatt aber aus dem politischen Subjekt auszusteigen, einige Uzis zu kaufen und auf Manager der Deutschen Bank und FDP-Politiker zu schießen, gehen wir weiter auf Demonstrationen und wählen und schreiben Blogartikel, wie man liest. Wir tun das, weil wir friedliebende Menschen sind, vom Grundgesetz der BRD überzeugt sind und glauben, dass wir mit den politischen Institutionen dieses Staates besser fahren, als wir mit den Institutionen der meisten anderen Staaten dieser Welt fahren würden.

Wenn uns das zu Teilen des „politischen Subjekts“ der BRD macht, sehe ich keinen Grund, warum es uns nicht auch zu Teilen des „politischen Subjekts“ Europas machen sollte: Im politischen Feld gibt es Interessengegensätze, egal ob auf nationaler oder europäischer Ebene, und man zieht regelmäßig den Kürzeren. Man kann sagen, dass Politik nichts anderes ist als der einigermaßen geregelte Umgang von Leuten, die Unterschiedliches wollen, sich aber auf für alle geltende Entscheidungen einigen müssen.

Früher haben Deutsche das, was Steinfeld nebulös „politisches Subjekt“ nennt, das „Volk“ genannt. Der Grundgedanke demokratischer Nationalstaatlichkeit konnte so ausgedrückt werden: „Das Volk entscheidet.“ Im Zeitalter des Pluralismus reden Politiker mit gutem Grund aber nicht mehr vom „Volk“, sondern sie reden von den „Bürgerinnen und Bürgern der Bundesrepublik Deutschland“ oder einfach den „Menschen im Lande“, weil sie genau wissen, dass es kein einheitliches „Volk“ gibt, und nie gegeben hat. Neulich war ich auf der Blockupy Demonstration in Frankfurt. Dort traf ich zwei französische Aktivist_innen, die mich baten, mich um ihr von der deutschen Polizei konfisziertes Zelt zu kümmern. Während wir redeten, kamen deutsche Yuppies in Polohemden vorbei und befleißigten sich des Zurufs: „Hier ist kein Campingplatz!“ Sie können mir glauben: Mit den deutschen Teilnehmern dieser Szene verband mich nichts außer eine gemeinsame Muttersprache und die Tatsache, dass wir alle auf zwei Beinen gehen. Mit den französischen Aktivist_innen verbanden mich eine gemeinsame Kultur, politische Überzeugungen, Solidarität und Sympathie. Das sind doch ideale Bedingungen für ein politisches Subjekt eines europäischen Bundesstaates. Die deutschen Yuppies dürfen auch mitmachen, obwohl sie Polohemden tragen und es ihnen an Solidarität noch etwas mangelt. Die wird ihnen dann eben vorläufig durch eine europäische Steuergesetzgebung verordnet.

Der kleinste gemeinsame Feind

Ach, was waren das noch für schöne Zeiten, als die Welt sich im Titanenkampf zwischen Kommunismus und Demokratie befand. Irgendwie war alles so klar und eindeutig.

Heute lese ich in der Süddeutschen, wie Erwin Strittmatter sich in der DDR angepasst und doch nicht angepasst hat. Gelitten habe er unter dem „Kleinbürgerdiktator“ Ulbricht und seine Funktionärsrolle im Schriftstellerverband nur widerwillig gespielt.

Ein ähnliches Leiden und doch Mitarbeiten wird über Brigitte Reimann berichtet in dem von Ina Merkel herausgegebenen Band „Das Kollektiv bin ich“. Reimann, auch sie Schriftsteller_in, identifizierte sich mit der sozialistischen Idee und lag trotzdem mit der Realität der DDR ständig im Clinch.

Bertolt Brecht, der seine letzten Lebensjahre in der DDR fristete und sich schonmal beschwerte, weil seine staatlich zugeteilte Bierration für die kreative Schöpfungstätigkeit zu klein sei, hat zu den Volksaufständen am 17. Juni 1953 in der DDR geschrieben: „Wäre es unter diesen Umständen nicht besser, die Partei löste das Volk auf und wählte ein neues?“ Volker Braun, auch er Kommunist, nannte einen Gedichtband „Training des aufrechten Ganges“. Auch ihm fiel derselbe in der DDR nicht leicht.

In meiner persönlichen Zeitgeschichte versammeln sich Schreiber_innen, die sich ständig im Spagat zwischen ihrem kommunistischen und kritischen Idealismus und dem gängelnden Alltag der DDR-Bürokratie befanden.

Soweit, so klar. Es ist nur auch interessant, wie jetzt in der Geschichtsschreibung der liberalen Presse über die Schriftsteller berichtet wird, die, obwohl Kommunisten, sich mit der DDR nicht vollends identifizieren konnten und wollten, obwohl oder gerade weil sie dort lebten. Ich will die Einstellung, die die liberalen Schreiber gegenüber Kommunisten wie Brecht einnehmen, einmal als geprägt vom „Das- Leben-der-anderen-Schema“ beschreiben.

Die werte Leser_in erinnere sich an den gleichnamigen Film, in dem gezeigt wird, wie ein Schriftsteller von der Stasi zugrundegerichtet wird. Das Schema des Filmes ist einfach: Der kritische Freidenker wehrt sich mit seinen literarischen Waffen gegen die Unterdrückung durch den DDR-Staatsapparat und gerät unter dessen Stasi-Räder. Freiheit gegen Zwang, Zwang gewinnt, zum Glück gewinnt am späten Ende, im Jahr 1989, wie der Zuschauer weiß, dann doch noch das Gute. Wir gehen kathartisch gereinigt aus dem Kino und wissen: Es war gut, dass die DDR abgeschafft wurde.

Für dieses Schema sind Menschen wie Strittmatter, Braun, Brecht und Reimann ein Problem. Sie haben die DDR gestützt, obwohl sie unter der Repression gelitten haben, die durch dieses System ausgeübt wurde. Sie haben die DDR nicht verlassen, obwohl sie einen ständigen Seiltanz zwischen Kritik und Anpassung vollziehen mussten.

Diese Lebensläufe und ihre Dokumente legen der Leser_in nahe: In der DDR kann nicht restlos alles schlecht gewesen sein. Da diese Erkenntnis aber nicht ins „Das-Leben-der-anderen-Schema“ passt, muss uminterpretiert werden. Nicht die Strahlkraft der kommunistischen Idee war gut, sondern des Kommunisten Brechts gute Seiten waren zu schwach, um sich gegen den sozialistischen Staat zu entscheiden.

Brigitte Reimann hat lange in der sozialistischen Musterstadt Hoyerswerda gelebt und gelitten, weil die sozialistischen Planer keine Freiräume für kulturelles Leben in ihrer Reißbrettstadt eingeplant hatten. 1991, kurz nach der Wende, wurde Hoyerswerda zum Symbol für sinnlose Gewalt gegen Ausländer_innen. Ostdeutsche Neonazis warfen Molotow-Cocktails auf ein Heim für Vertragsarbeiter_innen aus Vietnam. Damals konnte die deutsche Polizei diese Verbrechen nicht verhindern. Vor Kurzem wurde bekannt, dass Ermittler im Zuge der NSU-Mordserie-Ermittlungen ein Medium aufsuchten, um Kontakt zu einem der Ermordeten aufzunehmen. Während in Dresden die Polizei illegalerweise systematisch alle Telefondaten der Teilnehmer_innen einer Anti-Nazi-Demonstration erfasst, halten Polizisten bei der Suche nach Mörder_innen an Ausländer_innen Seancen ab.

Der siegreiche Kapitalismus hat, das zeigen Hoyerswerda und die NSU-Morde, seine Schattenseiten. In Spanien sind 50 % aller Jugendlichen ohne Job, die Hypothekenblase in den USA ist auf Kosten der Mittel- und Unterschicht geplatzt. Die Einkommensunterschiede zwischen arm und reich nehmen selbst im boomenden Deutschland stetig zu. Die Finanzkrise zeigt, dass weder Politik- noch Wirtschaftseliten der westlichen Länder langfristig tragfähige Lösungen für die Krisen des Kapitalismus parat haben.

Der Kapitalismus beherrscht die westliche Welt, und dennoch geht es unserer Welt nicht gut. Antonio Gramsci, der italienische Kommunist, definierte Herrschaft als „Hegemonie, gepanzert mit Zwang“. Hegemonie des Kapitalismus bedeutet: In der Süddeutschen werden Geschichten über Schriftsteller erzählt, denen es in der DDR schlecht ging. Zwang bedeutet: In Frankfurt werden bei den Blockupy-Protesten gegen die Troika aus Europäischer Kommission, IWF und EZB, die Südeuropa in die Depression stürzt, mehrere tausend Polizist_innen in Stellung gebracht gegen tausend friedliche Demonstrant_innen. Sicher: Die Situation war kritisch. Als 20 Demonstrant_innen in weißen Gewändern und langen schwarzen Perücken vor dem Frankfurter Römer ein satirisches Lied auf die Finanzkrise sangen, dachte ich auch für einen Moment, dass sie gleich die Regierung stürzen und die Demokratie abschaffen. Ich war regelrecht erleichtert, als endlich 50 Polizist_innen mit Helmen, Schilden und Schlagstöcken aufmarschierten, um ein kritisches Transparent vom Römer wieder abzureißen und so die Demokratie im letzten Moment zu retten.

Ich könnte mir vorstellen, dass die Polizist_innen in Frankfurt vorher zu Schulungszwecken gezwungen wurden, „Das Leben der anderen“ zu schauen. Leute wie ich wollten, so wurde ihnen wahrscheinlich suggeriert, dem Kommunismus doch noch zum Sieg verhelfen. Jetzt ist es so, dass ich die Geschichten über Brecht, Braun, Reimann und Strittmatter doch so abschreckend finde, dass ich mir die Stasi nicht zurückwünsche. Trotzdem möchte ich öffentlich zeigen, dass ich den Kapitalismus, weil er Profite systematisch über Menschen stellt, für eine strukturell undemokratische Wirtschaftsordnung halte.

Damit werde ich zum Problem: Ich passe irgendwie nicht ins „Das-Leben-der-anderen-Schema“. Ich bin weder Stasi-Kommunist noch verfolgter Freidenker. Ich kann diesen Blog schreiben und vor dem Römer Straßenmusik während einer Demonstration gegen den Kapitalismus machen und muss mich nicht vor dem Verfassungsschutz rechtfertigen oder meinen Computer in einem Geheimfach im Fußboden verstecken.

Ich denke, die Stasi und die Kommunismus-Variante der DDR sind der kleinste gemeinsame Feind, auf den sich die miteinander im Clinch liegenden Eliten der Republik einigen können und auf den sie rituell einschlagen, um sich zu erklären, dass sie trotz Neonazis, Massenarbeitslosigkeit, niedrigen Löhnen, politischer und wirtschaftlicher Grabenkämpfe, Unterdrückung linker Demonstrant_innen und Schuldenkrise zurecht an der Macht sind.

Ich habe eine Nachricht für die Eliten: Der Kapitalismus hat gewonnen. Sie können aufhören, auf den Kommunismus einzuschlagen. Dann bekommen sie vielleicht das Blickfeld frei, um zu prüfen, ob im Kapitalismus Menschen in Würde, das heißt frei, gleich und solidarisch, zusammenleben können. Meine Erlebnisse in Frankfurt haben da gewisse Zweifel gesät.

 

Neue Fehlinformationen über Iran und Israel

Ein sogenannter Experte namens Michael Lüders behauptet in der Onlineausgabe der Tagesschau, dass Ahmadinejad in seiner umstrittenen Rede von 2005 nicht die Abschaffung des Staates Israel gefordert habe. (http://www.tagesschau.de/iraninterview104.html)

Herr Lüders hätte sich aber nur die Mühe machen müssen, nach dieser Rede zu googlen, dann wäre der zweite Treffer eine Übersetzung der Rede von der Bundeszentrale für politische Bildung gewesen, die auch die Redesituation kurz darstellt: Auf dem Kongress, auf dem Ahmadinejad die Rede gehalten hat, waren auch Vertreter der Hisbollah, einer Terrororganisation, die Iran unterstützt und die Raketen auf israelische Wohngebiete schießt. (http://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/37989/rede-ahmadinedschads) Ahmadinejad hat, bevor er seine Rede begann, die Zuhörer aufgefordert, wenn sie „Tod Israel“ skandierten, sollten sie das aus vollem Herzen tun. Ahmadinejad beschränkt seine Feindschaft gegen Israel also nicht auf Drohungen mit atomarer Aufrüstung, sondern er macht sich gemein mit Terroristen in der Forderung nach der Abschaffung des Staates Israel. Entscheidend für Menschen, die sich über den Konflikt informieren wollen, ist aber nicht der Wortlaut einer politischen Rede, die ein rhetorischer Profi wie Ahmadinejad angesichts der internationalen Lage natürlich so gestaltet, dass er sich herausreden kann, wenn die internationale Gemeinschaft ihn angreift, sondern die Antwort auf die Frage, welche Einstellung der iranische Präsident zu Gewalt gegen Israel hat. Das hat er mit seinem Verhalten deutlich gezeigt: Gewalt gegen Israel unterstützt er. Ahmadinejad will Israel abschaffen.
Wie kann es sein, dass das öffentlich rechtliche Fernsehen einen Menschen, der wie Lüders sich offensichtlich nicht die Mühe macht, seine Informationen sorgfältig zu prüfen, als „Experten“ bezeichnet und ihm eine Plattform für das Verbreiten von Fehlinformationen gibt? Wer verschweigt, welche Verbindungen zur Hisbollah die iranische Regierung unterhält, der sollte keine öffentliche Anhörung finden. Danke auch an die ARD, sie hat sich vorbildlich als Fehlinformationssender diskreditiert.

Über welche Waffendeals reden wir eigentlich und warum?

 

Günther Grass hat ein Gedicht geschrieben, in dem er sich unter anderem gegen die Lieferung eines deutschen Unterseebootes an Israel ausspricht. Ich finde grundsätzlich nichts schlecht daran, den Export eines atomwaffenfähigen Unterseebootes in eine Krisenregion zu kritisieren. Allerdings möchte ich einwenden, dass Israel in einer Lage ist, die mit der Lage anderer Staaten in Krisenregionen nicht vergleichbar ist: Das Territorium Israels ist umgeben von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren, die seine Vernichtung als Staat Israel anstreben. Zudem sind innerhalb des Territoriums zwei wesentliche Gruppen bestrebt, den demokratischen Staat Israel in seiner bisherigen Form abzuschaffen: Die Hamas und andere Teile der islamistischen Opposition einerseits und rechte und ultraorthodoxe Israelis andererseits, die sich in den Siedlungen im Westjordanland kleine Staaten der Rechtgläubigkeit schaffen.
Die israelische Regierung befindet sich also in einer doppelten Zwangslage: Sie muss gegen ihre Feinde wie den Staat Iran nach außen und nach innen gegen ihre extremistische Opposition gleichermaßen Stärke demonstrieren, ohne zugleich sich selbst als Kriegs- und Gewaltherrschaft zu diskreditieren. Ein Staat, der unter diesen Umständen demokratische Entscheidungsstrukturen und die Freiheit der öffentlichen Meinungsäußerung aufrechterhält, ist aber keinesfalls mit der DDR oder Birma zu vergleichen, wie es Grass tut.
Die größte Gefahr, die ich sehe, ist, dass der Arabische Frühling durch eine Eskalation des Iran-Israel-Konflikts seine befreiende und demokratisierende Wirkung verliert. So gesehen ist Ahmadinejads Atomwaffendrohpolitik ein geschicktes Kalkül: Sie lenkt die Menschen von der eigentlich wichtigen politischen Frage ab, die lautet: Wie schaffen es die Völker der Region, ihre Gemeinwesen zu demokratisieren? Insbesondere Irans einziger Verbündeter in der Region, Syrien, ist in Gefahr, zu einem Beispiel für das Scheitern eines Demokratisierungsprozesses zu werden. Die eigentlich notwendige Debatte in Deutschland wäre also: Was tut die Regierung der BRD für den Demokratisierungsprozess in Syrien und gegen das Assadregime? Dass Grass als politischer Intellektueller die Öffentlichkeit von dieser Frage ab- und auf die Frage zulenkt, wie sich die deutsche Regierung zu Israel verhält, ist ein Fall von Übersichtslosigkeit, schlimmer noch aber sind die Intellektuellen Kreise in der deutschen Medienlandschaft, die sich diese Ablenkung zueigen machen, indem sie auf Grass öffentlichkeitswirksam verbal einprügeln. Sie alle verhalten sich wie ein Prüfling, der versucht, sich mit der Maus-Elefantentechnik aus der Affäre zu ziehen, die mir ein Freund vor einer Uniprüfung einmal verraten hat. Diese Technik funktioniert so: Auf die Frage des Prüfers, was man über den Elefanten wisse, antworte man: “ Ja, ein hochinteressantes Tier, dieser Elefant, sehr groß, ganz im Gegenteil zu einer Maus, die sehr klein ist, zur Familie der Nagetiere gehört, und …“ Hier beginnt man dann einen Vortrag über die Spezies der Mäuse, der die gesamte Prüfungszeit lang andauert.
Insofern ist eine fast richtig gestellte Frage, nämlich: „Warum beliefert eine deutsche Firma Israel mit Waffen?“ Tatsächlich verheerender für den politischen Diskurs, als eine vollkommen richtig gestellte Frage, nämlich: „Was tut Deutschland eigentlich für Frieden und Demokratie und Freiheit in der Region des Nahen Ostens?“
Die letzte Heldentat der Bundesregierung ist die scheinbar erteilte Genehmigung des Verkaufs von 200 deutschen Panzern an ein undemokratisches Regime, das von Saudi-Arabien. (http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,802257,00.html) Das ist genau das falsche Signal eines Landes, das erst vor 67 Jahren durch die Alliierten von der selbstverschuldeten Gewaltherrschaft befreit wurde und sich seit einiger Zeit als Botschafter von Freiheit und Demokratie versucht.