Das Ende der Nerdigkeit

Der Nerd in mir muss weg. Er bastelt bis nachts an seinen technischen Problemen und fuchst sich ein, es macht ihm Spaß, Nerd zu sein. Aber alles, was er tut, tut er nur um des Tuns willen, nicht für irgendein Ziel.

Heute habe ich meinen CD-Player repariert. Abnerden. Mein Nerdigkeitsglück währte nur 10 Minuten, jetzt geht er wieder. Ich hatte ein Ziel, ich habe es erreicht, over and out. Mein innerer CD-Reparier-Nerd hatte seinen Job gemacht.

Der Nerd lässt sich so wunderbar für fremde Ziele einspannen, weil ihm bloß seine Tätigkeit etwas bedeutet, nicht, mit welchem Ziel sie verwendet wird.

Setzt eure ostentativen Nerdbrillen ab und kommt zurück ins Leben.

8.1.2012

 

SZ Jahresrückblick 2011

Mein Bild des Jahres 2011 zum Thema Krieg und Medien: Osama bin Laden bedient seinen Fernseher, während Hillary Clinton und Barack Obama seine Exekution durch ihre Soldaten filmen lassen und sie sich live anschauen. Die Zeitung veröffentlicht die Bilder, nachdem die Unterlagen auf Clintons Laptop verpixelt wurden. Ich fotografiere die Zeitung und stelle sie mit meinem Kommentar ins Internet. Wer weiß, was dort damit passiert. Wer oder was beherrscht hier eigentlich wen oder was? Und was oder wer bedient was oder wen? Der mit der Uniform tippt jedenfalls.

Der Zins ist nicht der Teufel und die Banker sind nicht schuld

Die Finanzkrise jagt uns Angst ein. Da ist die Versuchung groß, zugleich Schuldige zu benennen und das Problem an der Wurzel zu packen, damit das nicht wieder passiert. Wenn beides, die Schuldigen haftbar zu machen und das Problem an der Wurzel auszurotten, gleichzeitig geht, sind wir geneigt, sofort „ja“ zu brüllen, damit wir es hinter uns haben und das Nötige getan ist.

Auf der Demonstration „Banken in die Schranken“ in Frankfurt im Dezember 2011 gaben viele dieser Versuchung nach. Der Kabarettist Georg Schramm prangerte unter Applaus den Zinswucher als die Wurzel allen Übels an und hätte wohl auch gerne die Banker wie am mittelalterlichen Pranger vor aller Augen erniedrigt gesehen. Unter wieviel Applaus auf einer linksorientierten Demonstration ein mittelalterlicher Papst zitiert werden kann, weil er den Zinswucher verdammt hat, das ist erstaunlich.

Noch erstaunter war ich, als ich auf der Rückfahrt mit einem Freund und Mitdemonstranten in Streit geriet, weil er auch der Überzeugung ist, dass der Zins ein zentrales Problem des Kapitalismus ist und eine zinslose Geldwirtschaft viel Ungerechtigkeit beseitigen würde, weil niemand mehr vom bloßen Besitz eines großen Geldvermögens leben könnte, während andere hart für ihr Geld arbeiten müssen. Ich bin da anderer Meinung.

Der Zins ist nicht das Problem. Die Gier der Banker auch nicht. Wer das glaubt, hat einen gedanklichen Kurzschluss. Berechtigte Angst und Wut haben da einige synaptische Umwege abgekürzt. Folgen wir kurz solchen Umwegen.

Ein altertümliches Wort, das viele von uns in einem Vertrag unterschrieben haben, lautet: „Mietzins“. Ich zum Beispiel zahle für mein Zimmer etwa 240 Euro Mietzins monatlich. Mein Vermieter überlässt mir einen Teil seines Eigentums, und ich entrichte ihm Zinsen dafür. Jetzt kann man mit guten Gründen sagen, dass das Wohneigentum in unserer Gesellschaft ungerecht verteilt ist, dass Spekulanten mit überhöhten Mieten die Mieter ausbeuten und dass eine Gesellschaft, in der alles Wohneigentum in öffentlicher Hand wäre, viel besser wäre. Wenn da nur nicht mein Vermieter wäre. Er hat bloß dieses eine Haus, das viel zu groß für ihn und seine Frau ist, und er ist ein netter Kerl. Ich denke, er wäre nicht so begeistert davon, wenn er enteignet würde, damit ich für mein Zimmer keine 240 Euro Mietzins mehr zahlen müsste. Ich überlege mir nun, was ich an seiner Stelle tun würde, wenn ich Eigentümer dieses Hauses wäre, und ob ich den zwei anderen WGs und meinem Vermieter und seiner Frau ihre Wohnungen mietzinsfrei überlassen würde. Ich denke nicht. Und ich glaube auch nicht, das Georg Schramm und die anderen Zinsgegner das tun würden.

In einer Republik, in der es ein verfassungsmäßig garantiertes Recht auf Eigentum gibt, wäre es ökonomisch gesehen fatal, wenn jede Form, Eigentum anderen zur Nutzung zu überlassen und dafür Gegenleistungen in Form von Geld zu verlangen, abgeschafft würde. Dabei ist es ganz egal, ob es sich um Mietzins für Wohneigentum, Zinsen für geliehenes Geldkapital oder die Miete für eine Schleifmaschine oder ein Auto handelt: Das Prinzip ist das gleiche. Es ermöglicht, dass ich in den Baumarkt gehen kann und mir eine Dielenschleifmaschine für 90 Euro leihen kann, die ich nur ein- bis zweimal in meinem Leben brauchen werde, weshalb ich sie mir nicht kaufen will. Sie zu kaufen lohnt sich aber auch für den Baumarkt nur, weil er von mir Miete dafür nehmen kann.

Zins ist ein Grundprinzip einer Ökonomie, die auf Privateigentum basiert. Dieses Prinzip ist ökonomisch sinnvoll, weil nicht immer der, der etwas braucht oder nutzen will, es auch als Eigentum erwerben kann oder will. Ich will mein Recht auf Privateigentum nicht abgeben. Ich will aber Dinge nutzen, die mir nicht gehören, wie eine Wohnung und die Bahn. Also muss ich wohl mit irgendeiner Form von Zins leben.

Man kann meinen subjektiven Unwillen, mein Privateigentum abzugeben, als Argument zurückweisen, indem man diesen Unwillen als krankhafte, durch die Lebensbedingungen im Kapitalismus verursachte Störung meiner Psyche deutet. Ich halte dem entgegen, dass ich das Recht auf Privateigentum als zentralen normativen Bestandteil einer freien Organisation von Gesellschaft begreife. Ich denke, dass eine Bedingung für eine solche Organisationsform ist, den Menschen die Wahl zu lassen, ob und wieweit sie sich individualistisch oder kollektivistisch verhalten. Ich zum Beispiel bin froh, viele Entscheidungen alleine und ohne Rücksprache mit anderen treffen zu können und nicht alle Bereiche meines Lebens komplexen kollektiven Entscheidungsprozessen unterwerfen zu müssen.

Die Grenze vom akzeptablen Zins zum Zinswucher ist aber sicher fließend. Gerade in Bereichen, in denen es keinen transparenten Markt gibt, der dem Entleiher einen realistischen Vergleich der Leihbedingungen ermöglicht, wird Zinswucher begünstigt, ebenso auf Märkten, auf denen es zu einer Konzentration von Marktmacht gekommen ist, die Konkurrenz unter Verleihern ausschaltet. Beides ist im Falle des Geldmarkts im Moment der Fall. Das bedeutet, dass hier die politische Öffentlichkeit per Gesetz klare Grenzen ziehen muss, die verhindern, dass sich die Gesellschaft in eine Klasse von wenigen reichen Besitzenden, die durch die Zinsen für ihr Eigentum immer reicher werden, und eine Klasse von vielen Besitzlosen, die im Elend leben, weil sie zum Beispiel die Mietzinsen kaum noch mit ihrem Arbeitslohn zahlen können, aufspaltet.

Der Titel der Demonstration hieß deshalb ja auch nicht „Banken enteignen“, wie es die Linke fordert, sondern „Banken in die Schranken“, womit klare gesetzliche Grenzen für Geschäfte gemeint sind, in denen mit Geldeigentum noch mehr Geldeigentum erwirtschaftet wird. Ganz nüchtern betrachtet sind solche Grenzen keine bloß humanistische Möglichkeit, mit der man den Kapitalismus menschenfreundlicher machen kann, sondern sie sind wegen ihres humanitären Effekts einfach notwendig, um den Kapitalismus und die Demokratie langfristig zu erhalten. Denn wenn die Mehrheit im Kapitalismus kein menschenwürdiges Leben führen kann, weil Eigentum zu ungleich verteilt ist, wird sie den Kapitalismus sowieso abschaffen, es sei denn, der Kapitalismus schafft vorher ihre demokratischen Rechte ab.

Ich komme zum zweiten Wunsch, der uns durch Angst und Wut eingegeben wird: Den Wunsch, Schuldige zu finden und zu bestrafen. Eins ist ja klar: Wir, die wir in Frankfurt demonstriert haben, können nicht schuld sein. Wir haben viel zu wenig Einfluss auf den Finanzmarkt, um schuld sein zu können, weil wir so wenig Geldeigentum haben und so gut wie keinen Einfluss auf die Wege, auf denen die großen Mengen des Geldkapitals gegen Zinsen verliehen werden.

Das Ohnmachtsgefühl, das uns befällt, ist ja teilweise realistisch. Die Finanzkrise fühlt sich für mich wahrscheinlich ein bisschen so an, wie sich für einen mittelalterlichen Bauern eine Dürre- und Hungerperiode in einem Nachbarland angefühlt hat: Mir geht es eigentlich noch gut, aber ich weiß, dass ich keinen Einfluss darauf habe, ob es mich im nächsten Jahr genauso trifft wie meine Nachbarn. Im Mittelalter haben viele, um ihrer Hilflosigkeit und ihrer Ohnmachtsgefühle Herr zu werden, die Juden für solche Notsituationen zu Sündenböcken gemacht. Man erklärte sich so, warum rechtschaffene fromme Christen mit Hunger und Dürre gestraft wurden, obwohl Gott doch barmherzig und gerecht ist, genau wie der König, der von Gottes Gnaden regiert.

Heute ist die Situation so ähnlich, und doch anders. Wir wollen genauso von zwei Ideen nicht ablassen: Wir wollen einerseits glauben, dass Privateigentum im Grunde eine gute Sache ist und der Kapitalismus das Leben mit den Jahren immer lebenswerter macht. Andererseits wollen wir glauben, dass unsere demokratischen Gemeinwesen vernünftig organisiert sind. Die Finanzkrise macht jetzt offensichtlich, dass dieser Glaube nicht ganz wahr sein kann. Um diese Evidenz abzuwehren und unser Weltbild zu erhalten, brauchen wir Schuldige: Diesmal sind es nicht die Juden, sondern die Banker und Hedgefondsmanager. Wenn sie schuld sind, können wir unser Wohneigentum und unsere kleinen Vermögen behalten und weiter alle vier Jahre die Bundesregierung wählen, ohne dass wir den Kapitalismus und die Demokratie zusammen mit unserem eigenen, diese Systeme erhaltenden Handeln in Frage stellen müssen.

Jetzt ist es nicht mehr ganz so wie im Mittelalter, denn wir müssen die Regierungspartei nicht wieder wählen und wir müssen unser Geld nicht durch die deutsche Bank verwalten lassen. Wenn das massenweise Menschen trotzdem tun, dann sind sie mitverantwortlich für die Finanzkrise. Auch ich sitze mit den Managern und Bankern und der Bundesregierung im selben Boot, obwohl ich in eine andere Richtung rudere als sie, indem ich andere Parteien wähle und mein Geld bei der Sparkasse investiere. Im Gegensatz zu der Auffassung, dass die Finanzkrise auf die Machenschaften von einigen wenigen Schmarotzern an einer sonst gesunden Gesellschaft zurückgeht, bin ich der Auffassung, dass der Wahnsinn der Ausbeutungs- und Krisengesellschaft schon beim politischen und privaten Handeln von jedem von uns anfängt. Die Banker, Manager und die Mitglieder der Bundesregierung über Bord zu schmeißen wird wenig bringen, solange die Mehrheit der sonstigen Passagiere im kleineren Maßstab auch weiter das Falsche macht.

Ich habe jahrelang mit meinem Vater gestritten, weil für ihn Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze und für mich der Umweltschutz politisch wichtiger waren. Ich habe jahrelang versucht, meine besten Freunde entgegen ihrem Individualismus davon zu überzeugen, sich politisch zu engagieren. Ich arbeite weiter daran. Wenn die Mehrheit in die falsche Richtung paddelt, ist es der falsche Weg, die Schuld bei den Wenigen zu suchen, die dabei besonders große Ruder benutzen. Dieser Weg ist bloß attraktiv, weil man dann nicht mit seinen Eltern und seinen Freunden und Nachbarn streiten muss, wo es lang gehen soll.

Meine Eltern und ich sind jetzt jedenfalls schon mal der gemeinsamen Auffassung, dass es wesentlich mehr kollektives, öffentliches Eigentum und weniger Privateigentum geben sollte. Auf den Börsengang der Bahn sollten wir also tunlichst verzichten. Mit der Bahn kann man nämlich gegen die Entrichtung eines geringen Zinses trefflich zu Demonstrationen fahren und dabei über den Sinn von zinsbasierter Geldwirtschaft streiten.

Wie man eine Metapher als Walze gebraucht

Wolfram Fleischhauer hat einen Roman geschrieben, der ein literaturtheoretisches Statement verkündet: Er wirft Paul de Mans Literaturtheorie vor, relativistisch zu sein und so ethische Kritik an den Naziverbrechen unmöglich zu machen. Der erzählerische Hebel ist so einfach wie effektiv: Der Literaturkritiker De Vander, gemeint ist eben Paul de Man, schreibt antisemitische Artikel im von Nazis besetzten Belgien und wird nach dem Krieg Literaturwissenschaftler in den USA. In dieser Funktion behauptet De Vander, es gebe keinen Kontext (der dem Text seinen festen Sinn verleihen könnte), und es gebe keinen Autor (den man für den Text verantwortlich machen könnte). De Vander erzeugt so eine Theorie, die seine Mitschuld an den Verbrechen der Nazis wegerklärt. Für mich barg der Roman Fleischhauers eine erhellende Neuigkeit: Dass De Man eine antisemitische Vergangenheit hatte, wusste ich nicht. Insofern danke ich dem Autor für diese wichtige Reflexion der historisch-biographischen Hintergründe von De Mans Literaturtheorie und der postmodernen Theoriediskussion.

Fleischhauer erstickt leider auf Seite 344 seines Romans jeden Funken differenzierender, erhellender Deutung von Sprache und Geschichte und diskreditiert seine romanförmige Kritik an de Mans Literaturtheorie, wenn er über Adornos Satz „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“ seinen Protagonisten, einen deutschen Studierenden, im Roman eine der wenigen positiven Identifikationsfiguren, denken lässt: „Ich wollte ihr noch sagen, dass ich diesen Satz über Auschwitz und die Gedichte immer gehasst hatte. Denn bei allem Verständnis für den, der ihn gesagt hat: War dieser Satz nicht auch ein Gasofen? Für den letzten Funken Hoffnung in die Sprache?“1

Adorno hatte mit seiner Aussage Unrecht, das haben Celan, Domin und andere seitdem tausendfach bewiesen. Aber was Fleischhauer hier über diese Aussage veröffentlicht, ist eine üble, dumme und katastrophale Metapher. Worin zum Teufel ähnelt der Satz Adornos der Ermordung von Millionen unschuldiger Menschen? Was für ein alle Differenzierungen einebnender, stumpfsinniger und von abgestorbenem moralischen Empfinden zeugender Vergleich!

Ich schrieb Fleischhauer per Mail Folgendes:

„Zuerst habe ich gedacht, diese Metapher ist genau das, was Adorno als gewalttätige, weil alle Unterschiede einebnende Metapher bezeichnet hätte. Dann habe ich mir die Sache nochmal durch den Kopf gehen lassen und überlegt, ob ich nicht mit dieser Deutung selbst alle Unterschiede einebne (in diesem Fall Gaskammer mit Gasofen gleichsetzend).

Ich denke, die Gewalt, die mich beim Lesen Ihres Satzes erschüttert hat, liegt nicht allein in dem Wort „Gasofen“, sondern in dem unscheinbaren Wörtchen „auch“. Denn dieses Wörtchen stellt einen Kontext her („Mord durch Gas“), der Adorno zum Täter gleich all den SS-KZ-Aufsehern stempelt.“

Darauf antwortete mir Fleischhauer:

„Es handelt sich bei dem Satz der Romanfigur um eine bewusste und entschiedene Zurückweisung einer Aussage, die totalitär und menschenverachtend ist. Adornos Diktum vollendet in letzter Konsequenz das, wogegen es gerichtet ist: Sogar der Urschrei nach Sinn (denn was sonst ist Dichtung?) soll der geschundenen Kreatur noch genommen werden, weil dieser Urschrei das absolut Böse und Sinnlose nicht bannen konnte und natürlich leider auch nicht bannen kann. … Adornos Satz zwingt völlig unvereinbare Dinge in einen unerträglichen Schuld-Zusammenhang.“

Wer Dichtung als „Urschrei“ versteht, der produziert folgerichtigerweise Metaphern wie Fleischhauers „Gasofen“.

Bertolt Brecht schreibt in seinem Gedicht „An die Nachgeborenen“:

„Was sind das für Zeiten, in denen ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“

Das ist sicher feiner und sensibler formuliert, als Adornos Satz über Dichtung. Aber beide Texte zeugen von demselben Schmerz: Dem Schmerz, den diese beiden Gegner der Nazis empfanden, denen die Verbrechen der Nazis das zu rauben drohten, was ihnen wie kaum etwas sonst am Herzen lag: die Sprache. Beide haben ihr Leben lang gekämpft, um die Sprache zurückzugewinnen.

Adorno hat das nicht getan, damit ein Urschrei-Schriftsteller wie Fleischhauer das wieder einebnet, was Adorno und viele Andere an sprachlichen Nuancen mühsam zurückerobert haben, nachdem die Nazis alles, auch die Sprache, zu enthumanisieren versuchten.

Ich stimme Fleischhauer zu, dass eine Dichtung, die ein „Urschrei nach Sinn“ ist, tatsächlich das Böse und Sinnlose nicht bannen kann. Zum Glück ist nicht alle Dichtung Urschrei-Dichtung. Hilde Domin schreibt:

Wen es trifft
der wird aufgehoben
wie von einem riesigen Kran
und abgesetzt
wo nichts mehr gilt,
wo keine Straße
von Gestern nach Morgen führt
Die Knöpfe, der Schmuck und die Farbe
werden wie mit Besen
von seinen Kleidern gekehrt.
Dann wird er entblößt
und ausgestellt
Feindliche Hände
betasten die Hüften
Er wird unter Druck
in Tränen gekocht
bis das Fleisch
auf den Knochen weich wird…
 
Aus: Domin, Hilde: Abel steh auf. Stuttgart: Reclam 1990. S. 14f.
 

Dieses Gedicht lesen heißt, ein wenig verstehen zu lernen, wie es war. Wie Gedichte uns die Sprache in unserer Sprachlosigkeit über die Shoa zurückgeben können, drückt für mich dieses Gedicht Hilde Domins aus:

Nicht müde werden
Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten
 
Aus: Domin, Hilde: Abel steh auf. Stuttgart: Reclam 1990. S. 36.
 

Das hat mit einem Urschrei wenig gemein. Anstatt wie Fleischhauer alle Nuancen platt zu walzen, ist es unsere Aufgabe, mit Sorgfalt, leise und vorsichtig das Wunder der Sprache wiederzugewinnen, die die Nazis uns verschlagen haben.

1Fleischhauer, Wolfram: Der gestohlene Abend. Piper: München/Zürich 2008,  S. 344.

11 500 000 000 000

Geschätzte 11,5 Billionen US-Dollar an privatem Vermögen waren im Jahr 2008 in Steueroasen allen Steuersystemen der Welt entzogen.

Diese Summe ist größer als die Summe der gesamten Staatsschulden der USA und Griechenlands zusammen. (Stand: 2010).

Quellen:

http://de.wikipedia.org/wiki/Staatsverschuldung#Staatsverschuldung_im_internationalen_Vergleich

„Let’s make money.“ Dokumentarfilm von Erwin Wagenbach (allegrofilm 2008).

Come on, Commonard_innen! Mehr davon!

Kommentar zu „DIE COMMONARDEN.* TEILEN UND GEWINNEN. KANN MAN DIE RETTUNG DER WELT WIRKLICH ALS PRIVATSACHE BETRACHTEN?“ VON TILL BRIEGLEB, SÜDDEUTSCHE, FEUILLETON Nr. 191, S.13

Ich bekenne, dass ich in einer Food-Coop bin. Ich bekenne, dass ich Mitglied eines Mietshaussyndikats werden will. Ich bekenne, dass ich nicht in einer Partei bin und nicht im Stadtrat. Mein Engagement gegen Ausbeutung und Armut beschränkt sich tatsächlich darauf, Kaffee aus Kooperativen in Südamerika in meiner Coop zu kaufen. Und mein Engagement gegen entfesselten Finanzkapitalismus darauf, mein Konto bei der Stadtsparkasse zu führen und nicht bei der Deutschen Bank.

Es ist wirklich nett von Herrn Briegleb, mein Engagement als „begrüßenswert“ zu würdigen. Leider habe ich mich entgegen seiner Warnung in den Glauben verirrt, dass ich damit etwas anderes tue als der „pluralistische Angebotskapitalismus“. Nachdem Versuche, den Kapitalismus durch Enteignung der Produktionsmittel angebotsseitig zu Fall zu bringen, eher mäßig gelungen sind (nähere Informationen unter www.gauck-behoerde.de), fand ich die Idee einer zentralistisch geplanten Revolution wenig überzeugend. Ich engagiere mich deshalb lieber im pluralistischen Nachfragesozialismus. Darauf blickt Herr Briegleb jetzt väterlich herab und „begrüßt“ von der hohen Warte des SZ-Feuilletonisten herab unsere Aktivitäten als gut gemeint, aber doch unkoordiniert und daher eher wirkungslos.

Ich begrüße meinerseits Herrn Briegleb im Verein der Kapitalismuskritiker ohne klares Ziel, denn aus seinem Artikel geht zwar hervor, dass er wohl den Kapitalismus in seiner jetzigen Form für gefährlich hält, aber nicht, wie die Alternative aussehen soll. Ich soll mich wohl in unserem demokratischen Staat engagieren, statt in St. Pauli Zucchini zu ziehen. Das schließt sich aber zum einen nicht aus. Zum anderen gilt der Satz unserer amerikanischen Freunde: „It’s the economy, stupid!“ heute mit einer ganz leicht verschobenen Bedeutung: Es gibt ohne ökonomische Alternativen keinen politischen Weg aus dem Schlamassel. Die sozialen und ökologischen Probleme, die unser Leben bedrohen, können in einer globalisierten Ökonomie durch die Macht im Staat allein nicht gelöst werden. Commons sind Versuche, diese Probleme durch neue Verbindungen von ökonomischen und politischen Aktivitäten zu lösen. Dies sind notwendige Experimente. Vieles davon wird besser funktionieren als die aktuelle politische Ökonomie, die Steuerreformen zugunsten der Wohlhabenden aneinanderreiht, während sie alleinerziehenden Müttern entwürdigend wenig Sozialhilfe für die Versorgung ihrer Kinder gibt.

Das zweite Gesicht des Kapitalismus

Ein Kommentar zu dem Artikel „Wer gibt uns einen Feind mit Gesicht?“ von Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung vom 27./28.8.2011

Ich habe ein Problem: Ich habe Angst vor den Auswirkungen der Finanzkrise. Das ist besonders deshalb bemerkenswert, weil ich als Beamter in Deutschland arbeite und damit die materiell und institutionell abgesichertste Position einnehme, die es weltweit überhaupt gibt. Die Finanzkrise könnte mir persönlich also im Unterschied zu den gleich gut Qualifizierten meiner Generation in Spanien, Portugal und Italien egal sein. Sie ist es aber nicht.

Das ist auch kein Wunder, denn seit Jahren lese ich in der Süddeutschen in schöner Regelmäßigkeit davon, dass wir in einer permanenten Krise leben, da unser Wirtschaftssystem instabil sei. Als historisch gebildeter Mensch erinnere ich mich an die Bilder von jungen Männern, die ein Schild um den Hals tragen, auf dem steht: „Nehme jede Arbeit an“, und daran, dass kurz danach die Nazis die Wahlen gewannen. Als politisch informierter Mensch kenne ich die Ausmaße der Staatsverschuldung meines Landes und der Nachbarländer und ich erinnere mich noch an die letzten Krisen: Das Platzen der Dot-Com-Blase, die Argentinien- und die Asienkrise. Ich beobachte, wie unter Verweis auf durch Wirtschaftskrisen verursachte politische Sachzwänge die Sozialtransferleistungen gekürzt werden. Ich beobachte den Verkauf von staatlicher Infrastruktur an die Privatwirtschaft, zum Beispiel im Bereich der Post, der Telekommunikation, der Wasserversorgung und der Gesundheitsversorgung. Ich beobachte, wie mit den so flüssig gemachten Steuergeldern bankrotte Banken gekauft werden, weil sie als systemrelevant eingestuft werden.

Ich frage mich, was für ein System das ist, für das Banken wie die HypoRealEstate „relevant“ sind: Banken, die mit gebündelten Hypothekenkrediten handeln, die auf völlig illusorischen Wertprognosen beruhen und deshalb in sich zusammenfallen.

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es ein System ist, zu dessen Grundstruktur permanente Krisen gehören. Ich kann mich außerdem des Eindrucks nicht erwehren, dass aus jeder systemisch produzierten Krise die meisten großen Akteure als Gewinner und die meisten kleinen Akteure als Verlierer hervorgehen. Und trotzdem glaube ich nicht, dass die großen Akteure das System so programmieren. Insofern ist tatsächlich die Suche nach einem Feind mit Gesicht ein Fehler.

Thomas Steinfeld irrt übrigens, wenn er behauptet: „Der Wirtschaft steht die Aufklärung noch bevor.“ Richtig ist: Die Anhänger der neoliberalen Doktrin haben sich bisher als ausgesprochen resistent gegen die Aufklärung über ökonomische Verhältnisse erwiesen. Der Glaube an die Selbstregulierung der Märkte ist in weiten Teilen der politischen Kaste trotz aller gegenläufigen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte ungebrochen. Und tatsächlich haben diese Leute Recht: Natürlich regulieren sich die Märkte selbst. Ganz regelmäßig sind die großen privaten Vermögen die Gewinner und die Allgemeinheit ist die Verliererin. Jeder Marktteilnehmer hält sich an die Regel, dass in Konkurrenz zu den anderen möglichst viel Gewinn gemacht werden muss. Dadurch werden die Reichen im Verhältnis zu den Armen immer reicher. Das Marktgeschehen ist also, von einer höheren Warte aus betrachtet, tatsächlich sehr reguliert. Nur eben falsch reguliert.

Ich denke, dass die Demokratie langfristig nur bestehen kann, wenn sie dem ökonomischen System Regeln gibt, die das Allgemeinwohl herstellen und erhalten. Im Falle des Finanzsystems sind die demokratischen Staaten der Welt ein solches Regelwerk bisher schuldig geblieben, vor allem wegen des Egoismus und der widersprüchlichen Interessen reicher Nationen wie der BRD und der USA. Es wird Zeit, dass sich das ändert.