Ich glaube, ich bin neuroatypisch (und Judith Butler würde mir da wahrscheinlich recht geben)

Heute habe ich in der Marburger Philosophie einen Vortrag von Stefan Lang (Wien) unter dem Titel “ Selbst, Selbstbewusstsein und Affekt“ gehört.

Lang will das Subjekt untersuchen, indem er zunächst den Fokus auf „neurotypische erwachsene Lebewesen“ setzt und versucht, davon ausgehend zu klären, was ein Subjekt (oder ein Selbst) ist. Er sagte, er schließe mit dem Begriff „neurotypisch“ Kleinstkinder, (soweit ich es verstanden habe, meint er alle Menschen, die noch nicht das Wort „ich“ beherrschen), Tiere und psychopathologische Menschen erst einmal aus der philosophischen Untersuchung aus.

Er begründete seine Forschungsfragen „Existieren Subjekte?“ und wenn ja, was sind dann Subjekte? damit, er versuche, Antworten auf die philosophische Diskussion zu finden, in der aus buddhistischer Perspektive bezweifelt werde, dass es Subjekte gebe.

Leider ist mir das beste Argument gegen Langs philosophisches Vorgehen mit dem Begriff „neurotypisch“ erst nach der Veranstaltung eingefallen, so dass ich es nicht mehr äußern konnte:

Ich habe mich gefragt, wie wir als Philosoph*innen eigentlich festlegen, was „neurotypisch“ ist. Ein erstes Problem taucht dabei nämlich auf, wenn wir uns fragen müssen, ob träumende Erwachsene eigentlich in dem Moment, in dem sie träumen, „neurotypisch“ oder „neuroatypisch“ sind (Excuse my language).

Dieses Problem können wir vielleicht lösen. Ein anderes, das an dem Clash zwischen der buddhistisch inspirierten mit der christlich inspirierten Philosophie erkennbar wird, aber, wie ich glaube, mit Langs Methode nicht: Ich denke, dass „neurotypisch“ für alle Menschen genau das ist, was Lang von vornherein ausschließt: Dass wir alle als hilflose, auf unsere Bezugspersonen angewiesene Säuglinge geboren werden, deren Bewusstsein vor allem aus Affekten besteht, lange bevor wir Worte wie „Ich“ oder „Praxis“ oder „Subjekt“ oder „Bewusstsein“ lernen. Dagegen ist wahrscheinlich, wie aus dem Konflikt zwischen der buddhistischen Perspektive und der westlichen Philosophie schon zu ersehen ist, bei den Menschen und auch ihren sozialen Gruppen und Organisationen kulturell bedingt auf den biographisch später sich entwickelnden Ebenen unseres Bewusstseins sehr unterschiedlich, was ein Selbst ist (und ob es so etwas überhaupt gibt). Das hängt von der jeweiligen Sprache und ihrer Logik und der sozialen Praxis, in die diese Sprache eingebettet ist, ab, und es dürfte rettungslos sein, auf diesen Ebenen der Großhirnrinde etwas „Typisches“ zu finden, was bei allen Menschen unabhängig von ihrer Kultur gleich ist.

Ich würde die Existenz von etwas für alle Menschen aller Kulturen „neurotypischen“ auf den durch Sprache und kulturelle Praxis vermittelten Ebenen von menschlichen Nervensystemen daher erstmal generell bezweifeln. Es macht typischerweise einen Unterschied in der Wahrnehmung und im Bewusstsein, ob ich an das Nirvana glaube oder daran, dass ich nach dem Tod Gott im Jüngsten Gericht gegenüberstehe, und dieser Unterschied ist vermutlich so tief in die Geistesgeschichte eingegraben, dass die damit jeweils verbundenen Formen der Identität trotz der Säkularisierung nicht mehr auf etwas „Typisches“ reduziert werden könnten.

Daher finde ich es sinnvoller, genau bei einer der Existenzweisen anzufangen, die Lang von vornherein ausschließt, nämlich beim Bewusstsein von Kleinkindern, wenn wir etwas neurotypisches für alle Menschen aufspüren wollen. Denn mit Judith Butler lässt sich sagen, dass die existenzielle Hilflosigkeit und Verletzlichkeit und die daraus folgende Abhängigkeit von den Bezugspersonen, beides spürbar in starken Affekten der Säuglinge und Kleinstkinder, wahrscheinlich für alle Menschen gleich welcher Kultur ziemlich ähnlich sind – das sind deshalb viel aussichtsreichere Phänomene, wenn wir etwas „neurotypisches“ finden wollen.

Von hier aus können wir dann wahrscheinlich auch irritierende Phänomene wie Träume besser verstehen – und davon träumen, dass wir weniger kulturell bedingte Missverständnisse und Konflikte haben werden, wenn wir mit der Zeit besser verstehen, was ein Subjekt und was ein Affekt und was eine menschliche Beziehung ist.

Ein drittes Problem mit dem „Neurotypischen“ besteht darin, dass die meisten Menschen im Alter ein weniger leistungsfähiges Zentralnervensystem bekommen, bis hin zur Demenz. Ist das typisch für Menschen? Ich würde sagen: Ja. Verlieren alte Menschen dadurch die Eigenschaft, Subjekte zu sein? Offensichtlich nicht. In einem durch Anerkennung von Menschenwürde geprägten sozialen Umfeld lebt die neurologisch voll funktionierende mittelalte Person, die eine demente Person einmal war, in der Erinnerung und in den Erzählungen ihrer sozialen Bezugspersonen weiter. Auf der Basis dieser sozialen Identität, die weitgehend ohne eine korrespondierende „normale“ Neurologie der Person auskommt, treffen dann Angehörige Entscheidungen zum Beispiel über lebenserhaltende medizinische Maßnahmen. Der Begriff des „neurotypischen erwachsenen Lebewesens“ schattet diese soziale Dimension personaler Identität ab. Sie ist aber ein zentrales Element dessen, was wir ein Subjekt nennen und dessen, was unser subjektives Bewusstsein ausmacht.

So geraten die Subjekte, die Lang untersuchen will, zu geburtlosen, nicht alternden, außerhalb der Zeit, der Geschichte und der sozialen Beziehungen existierenden Entitäten. Was das beitragen soll zur Debatte über Subjekte, ist mir sehr schleierhaft. Vielleicht fängt aber auch bei mir schon die Demenz an mit 44, und ich verstehe es nur deshalb nicht. Dann betrachte bitte diesen Text als gegenstandslos. Möglicherweise war ich aber noch neurotypisch, als ich anfing, ihn zu schreiben, und bin erst beim Verfassen langsam neuroatypisch geworden. In diesem Fall bitte ich Dich, im Text den Punkt zu finden, an dem ich anfing, mich zu verlieren.

Das Klima wird sich ändern

(Fanny van Dannen)

Am letzten Freitag war ich in Berlin auf der Demo für besseren Klimaschutz. Besonders charmant fand ich diesen Beitrag:

In diese Richtung geht es sich gut. Im folgenden Bild sind auch ein paar gute Ideen versteckt: (Wer sie findet, kann Sie Christian Lindner per Email schicken mit dem Betreff: „Erfinden statt verbieten“):

Dialektik der Aufheiterung

Das war vor ein paar Jahren ein Geschenk an meine damalige Freundin. Ihre Reaktion war sinngemäß: „Gehts Dir gut oder muss ich mir Sorgen machen?“ Damit hatte ich nicht gerechnet. So ist das dann wohl mit der Dialektik.

Mit unseren Körpern

Im Dannenröder Wald und im Hambacher Wald haben die Aktivist*innen oft in Ihren Reden betont, dass sie den Wald mit ihren Körpern zu schützen versuchen.

Angesichts der katastrophalen Überschwemmungen der letzten Tage und der hunderten toten Menschen frage ich mich, wie die Beziehung unserer menschlichen Körper zur Natur eigentlich ist.

Offensichtlich waren die Aktivist*innen nicht stark genug, um die Braunkohle-Industrie und die Autobahn-Industrie rechtzeitig zu stoppen, und die fossile Industrie hat die natürlichen Systeme so gestört, dass jetzt viele Menschen sehr plötzlich deshalb sterben mussten. Um sie trauere ich.

Ein alter linker Spruch lautet aber: Wandelt Wut und Trauer in Widerstand. Das erste widerständige ist vielleicht, zu verstehen, was passiert. Damit meine ich nicht den Zusammenhang von Braunkohleverbrennung und Überschwemmungen, den kann jede*r ganz einfach in der Taz oder anderen Zeitungen nachlesen. Was mich philosophisch interessiert, sind unsere Körper und die Natur.

Ich habe heute darüber nachgedacht, dass wir Menschen ja alle Teil der Natur sind, solange wir lebendige Körper haben. In der Philosophie unterscheidet man Körper und Leib, und meint mit „Körper“ eigentlich das, was wir sehen, wenn wir Menschen rein naturwissenschaftlich objektivierend betrachten, als Lebewesen unter anderen Lebewesen, die die Biologie beschreibt und erklärt. Leib ist dagegen das, was wir haben, weil wir durch Kultur bestimmte Beziehungen zu anderen Personen haben, unsere Körper durch die Brille unserer Sprache und unserer Praxis sehen und fühlen und uns sozial definieren als Person mit leiblichen Eigenschaften. Beim Verständnis des Leibes helfen uns die Psychologie, die Sozialwissenschaften, die Rechtswissenschaften, die Theologie und die Philosophie, alle Wissenschaften, die Sinn deuten und erkennen.

Es gibt eine alte Debatte in der Philosophie über das „Leib-Seele-Problem“ (oder neuer formuliert: das „Körper-Geist-Problem“), weil wir bisher nicht richtig beschreiben können, wie diese zwei wissenschaftlichen Perspektiven verknüpft und miteinander harmonisiert werden können, (das ist ein bisschen wie in der Physik das Nebeneinander von Quantenmechanik und Relativitätstheorie), und deshalb wissen wir auch nicht genau, wie Körper und Geist miteinander verknüpft sind. Manche sagen, es gibt nur Körper, andere, es gibt nur Geist, und dazwischen gibt es viele, die glauben, dass es beides gibt.

Der Begriff Leib ist eigentlich schon der Versuch, die beiden Perspektiven miteinander zu verbinden, besser noch ist Leiblichkeit: Das Wort benennt ein komplexes Netz von Beziehungen zwischen Menschen, und in diesem Netz bildet jeder Leib so etwas wie einen Knoten, der mit anderen Knoten so eng verknüpft ist, dass es oft willkürlich ist, zu sagen, dass es sich bei Beziehungsfaden A um ein Element von Leib 1 handelt und bei Beziehungsfaden B um ein Element von Leib 2.

Meine Idee heute, als ich durch den Wald lief, war: Das Wort Leib ist kulturhistorisch stark mit der christlichen Tradition aufgeladen, und ich fürchte, das ist nicht wirklich hilfreich. Da fällt mir zumindest gleich die biblische Geschichte vom letzten Abendmahl ein. Damit sind Vorstellungen von Unsterblichkeit und der Einheit von Menschen und sozialen Gruppen verknüpft.

Was ich im Danni erlebt habe, war aber, dass das Verhältnis vieler Menschen zur Natur immer noch und vielleicht mehr denn je ein Gewaltverhältnis ist. Was so schön und harmonisch klingt, die Verbundenheit unserer sozialen Beziehungen in der Leiblichkeit, ist in Wirklichkeit sehr häufig Ausbeutung und Unterdrückung.

Ich will nicht unsolidarisch gegenüber der älteren Frau sein, die als kirchliche Beobachterin der Kirche von Kurhessen Waldeck im Danni von einem Polizisten tätlich angegriffen wurde, vielleicht ist ihr der Begriff Leib aus ihrem Glauben heraus wichtig. Aber der Polizist hat durch den körperlichen Angriff die Sphäre der Leiblichkeit verlassen.

Ein Mitdemonstrant berichtete mir, ein Polizist habe ein Seil zum Reißen gebracht und eine Aktivisti sei dadurch aus einer Höhe von über 4 Metern auf den Boden gefallen. Die Polizisten waren dort im Auftrag des hessischen Innenministers. Eine Maschine hat sich unter ihrem Schutz durch den Wald gefressen, gegen alle Widerstände von Menschen mit ihren Körpern. Diese Maschine sorgt dafür, dass Extremwetterereignisse wie Überschwemmungen noch wahrscheinlicher werden und die Trinkwasserversorgung in Hessen gefährderter ist.

Die Grünen betonen oft, die A49 sei durch rechtsstaatliche Verfahren zustandegekommen. Der Rechtsstaat ist aber nicht einfach eindeutig, sondern die Rechte und Gesetze müssen interpretiert werden, damit wir wissen, was wir tun dürfen und sollen. Und die Maschine, die den Danni durchbrochen hat, ist nicht von den Gesetzen gedeckt, insbesondere widerspricht sie Artikel 26 der hessischen Verfassung, demzufolge der Staat die natürlichen Lebensgrundlagen schützt, auch im Sinne zukünftiger Generationen. Das oben beschriebene Vorgehen der Polizei ist auch nicht von den Grundrechten gedeckt, es verletzt unter anderem das Recht auf Unversehrtheit des Leibes und die Versammlungsfreiheit.

Körper sind nicht unsterblich und werden es niemals sein. Es ist nicht mal sicher, ob Körper einen Geist und eine Seele in sich tragen, die unsterblich ist. Wenn wir erfahren, dass unsere Körper verletzlich und machtlos sind gegen die Zerstörung, wächst unser Bewusstsein dafür, dass das Leben bedroht ist. Die Menschen, die auf den Autobahnen in ihren SUVs mit 150 km/h hin und herfahren, verlieren dieses Bewusstsein.

Ausbeutung und Unterdrückung der Natur fängt bei jedem von uns an. In uns ist eine imperiale Struktur, die wir in unserer Sozialisation verinnerlicht haben, vielleicht am ehesten das, was Judith Butler in „Die Macht der Gewaltlosigkeit“ ein „Phantasma“ nennt: Dieses Phantasma trennt uns von den anderen Menschen und den anderen Lebewesen, es sorgt dafür, dass wir unsere Körper formen wie Bildhauer*innen ihre Stauen, ohne körperliche Bedürfnisse und Gefühle zu respektieren, so stellt es sicher, dass wir arbeiten und Profite generieren, auch wenn die Welt halb untergeht. Das Phantasma erzählt uns die Geschichte, dass Technik uns unsterblich machen kann und dass die menschliche Gesellschaft stärker werden kann als das Leben und die Natur. Dieses Phantasma muss mit Gewalt verteidigt werden, weil ganz einfache kindliche Erfahrungen uns jeden Tag und jede Stunde daran erinnern, dass es nicht real ist, dass wir sterblich sind und verletzlich und andere Lebewesen und Menschen brauchen, um zu leben.

Wir sollten deshalb unsere Körper achten und den Begriff Leib vermeiden, wenn Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse zur Sprache kommen. Wir sollten akzeptieren, dass wir nicht genau wissen, wie unser Geist und unser Körper zusammenhängen. Ich hatte Angst, mich auf einen Tripod zu setzen, weil die Aktivist*in abgestürzt ist. Ich hatte Angst, mich vor die Wasserwerfer zu stellen im letzten Dezember, als die Polizei die Barrios räumten. Ich wollte meinen Körper schützen. Ich habe 20jährige gesehen, die sich in der Kälte in den Wasserwerferstrahl gestellt haben. Ich habe den Aktivistis in den Bäumen zugerufen: „Du bist nicht allein!“ Aber ich musste meine Grenzen akzeptieren, die Grenzen meiner Fähigkeit, zu widerstehen. Jedesmal, wenn ich mit der Bahn an der Schneise der A49 bei Stadtallendorf vorbeifahre, ist mir zum Weinen zumute. Aus Trauer, aus Wut, und aus Scham, weil ich meinen Körper zu schützen versucht habe und die Maschine auch deshalb nicht aufhalten konnte.

Vielleicht sind unsere Emotionen das einzige, was unseren Körper mit unserem Geist verbindet. Vielleicht ist die Unfähigkeit zu Fühlen das schlimmste Ergebnis des Phantasmas der Naturenthobenheit. Es hinterlässt einen Körper ohne Glück und einen Geist ohne Sinn. Es tötet uns, bevor wir sterben. Autofahren und Strom verbrauchen können wir dann aber immer noch.

Identitätspolitik?

Manchmal führe ich innerlich Selbstgespräche mit Personen der Zeitgeschichte. Vor ein paar Tagen war meine innere Gesprächsparnerin Sarah Wagenknecht. Es ging um ihr neues Buch, in der sie der Linken Identitätspolitik und Vernachlässigung sozialer Gerechtigkeit und der Arbeitenden vorwirft. Soweit ich verstehe, was sie meint, soll es Identitätspolitik sein, wenn Menschen gegen Rassismus oder gegen das Patriarchat und die Geschlechterordnung vorgehen. Ich habe ihr dann das Argument entgegen gehalten, dass es ja auch viele Menschen gibt, die zugleich unter Klassismus (und der ungerechten Reichtumsverteilung) und Rassismus leiden. Das heißt dann Intersektionalität.

Dann habe ich mir überlegt, welche Struktur eigentlich mein Intersektionalitätsargument in einer Diskussion mit Wagenknecht hat. Und mir ist folgendes klar geworden: Mein Argument verweist eigentlich darauf, dass aktuell emanzipatorische Bewegungen und Personen sich entscheiden müssen, ob sie zum Beispiel gegen Klassismus und Armut oder gegen Rassismus vorgehen. Der eigentliche Skandal ist, dass die Linke nicht genug Ressourcen hat, um gegen die verschiedenen Diskriminierungs- und Unterprivilegierungssysteme zugleich vorzugehen, unter denen Menschen leiden. Wenn ich mich dazu entscheide, gegen Ableismus vorzugehen, reicht meine Zeit und Kraft vielleicht nicht mehr, gegen Rassismus oder Verteilungs-Ungerechtigkeit vorzugehen. Deshalb müssen wir in der Linken diese Debatten führen, in welchem Kampf wir eigentlich jetzt am besten situativ unsere Ressourcen für eine bessere Welt einsetzen.

Dahinter steckt natürlich die alte Logik des Teile und Herrsche – solange wir in diesem Zwist sind, sind wir schwächer, als wir sein könnten.

Ich bezweifle aufbauend auf meine Argumentation aber auch sehr stark, dass der Terminus linker „Identitätspolitik“ für den Kampf gegen rassistische Diskrimierung und die patriarchale Geschlechterordnung richtig gewählt ist. Tatsächlich bekämpfen wir damit soziale Strukturen – zum Beispiel das System des Rassismus und das Patriarchat – der Terminus „Identitätspolitik“ suggeriert irgendwie, dass das eine Art Selbstfindungsproblematik wäre und man sich doch bitteschön um die harten Fakten angesichts von Armut und Unterdrückung zu kümmern habe. Aber die sozialen Strukturen erzeugen die Identitäten von Personen mindestens so stark, wie diese sie wählen, oft sind Identäten größtenteils oder ausschließlich von äußeren sozialen Strukturen in Personen eingeschrieben worden. (Vgl. Bourdieu: Die feinen Unterschiede). Identität hat wenig oder gar nichts mit Luxus-Selbstverwirklichung zu tun. (Vgl. auch Goffman: „Stigma“ und „Wir alle spielen Theater“).

Das, was Wagenknecht „Identitätspolitik“ nennt, ist einfach Politik, die anerkennt, dass es nicht nur materielle Ungerechtigkeit gibt, sondern damit verschränkt auch Strukturen der Entrechtung, Mißachtung und der verweigerten Anerkennung, die teilweise genauso schmerzhaft oder noch schmerzhafter sein können wie materielle Armut.

Wenn wir zum Beispiel sagen, dass der Kapitalismus mit Ableismus, dem Patriarchat und dem System des Rassimus historisch schon sehr lange verschränkt ist, dann ist das auch eine materialistische Analyse der Fakten. Die Alternative wäre ein halbierter Materialismus, der glaubt, Verteilungsfragen ließen sich unabhängig von Fragen der Realisierung gleicher Rechte für alle lösen. Das ist ein Irrglaube.

Ich empfehle allen, die sich einem künstlichen Zwist über Linke „Identitätspolitik“ entziehen wollen, den Film „Pride“ über die Aktivist*innen von „Gays and Lesbians supporting the Miners“, die während der Thatcher-Konterrevolution die streikenden walisischen Bergarbeiter unterstützt haben. Danach erübrigt sich viel unnötiger Streit.

Pride - Film 2014 - FILMSTARTS.de

Say No

(Lyrics and music: Arne Erdmann © 2016)

For William Tonou-Mbobda – Say his name and say no!

We‘ll increase your income and your flexibility

give a boost to your mind and your creativity

your work will be productive, efficient and exact

you‘ll succeed if you follow the instructions it‘s a fact

Thank you for your offer, but I‘ll have it my own way

more efficiency is just stressing my day

I already work my ass off, that‘s what I say

and if I‘m more productive, for me it doesen‘t pay

the profit takes the company to Cayman Islands Bay

I say No – say No

Whatever kind of problem is bothering you

we can solve it, we can fix it, give back your life to you

we can change familiar patterns, that cause your suffering

just let go of your past, that‘ll change quite everything

This is very kind of you, you want to help I see

but my patterns help my friends to recognize it‘s me

and my past is holding me like roots are holding trees

suffering is part of me and it will always be

an ever happy person is someone who cannot feel

I say No – Say No

Your disease has a name we can call to keep it down

but you should not tell the people, when you go into town

we have pills, we have skills, we have means to set you free

you should do what you‘re told, it will work out, you will see

You offer to be my guide with your helping hand

and I would like to follow you, but I‘m afraid I can‘t

there‘ all kind of different people all across the land

and different it is not sick, you must understand

that you can call me names you like, but my life‘s in my hands

I say no – say No

If you are not compliant and refuse to work with us

you‘re a danger to yourself and in you we cannot trust

we will have to fix a needle, it is just for your own good

we will tie you down, sedate you, we‘re the masters, understood?

It is nice to have someone to tell me what I need

because I‘m a bit confused about the pills you feed

you say I can‘t find my way out there in the streets

and for more experience, you must imprison me

I don‘t see how I improve social and living skills

by lying on a bed totally stoned by your nice pills

you improve society, cause it‘s quiet and still

instead of fighting madness, you do fight against the will

I believe I‘m quite ok, but your system is ill

I say No – say No

Individualisierung und die Angst, austauschbar zu sein

Adorno schreibt, der Kapitalismus bedrohe uns auch deswegen, weil in seinen Strukturen jedes menschliche Wesen austauschbar sei – fungibel. Ich glaube, der Individualismus ist der Versuch, auf die Angst davor, einfach ausgetauscht zu werden, eine Antwort zu finden. Leider stellt sich das kapitalistische System sehr gut auf diese Strategie ein und ihr Resultat ist eher mehr Angst als weniger.

Judith Butler schreibt in „Die Macht der Gewaltlosigkeit“, dass der Individualismus Teil eines politischen Phantasmas sei, in Wirklichkeit existierten alle Menschen in gegenseitiger Abhängigkeit – von Anfang an und für immer.

Simone Weil hat sozusagen die aktive Seite dieser Beziehungen betont – indem sie geschrieben hat, dass alle Menschen das Bedürfnis haben, von anderen gebraucht zu werden. Wird dieses Bedürfnis nicht erfüllt, zum Beispiel, wenn Menschen ihre Arbeit verlieren. entsteht Entwurzelung.

Entwurzelung führt zu Angst, und meine These ist, dass die Individualisierung der letzten Jahrzehnte eigentlich den Versuchen von vielen Menschen entspricht, diese Angst zu bewältigen. Die Strategie sieht einfach so aus, sich so gründlich und auf vielen Ebenen von anderen Menschen zu unterscheiden, in Habermas Worten: so einzigartig zu sein, dass ich einfach nicht ersetzbar bin, weil es niemanden gibt, der alle die Fähigkeiten und Eigenschaften mitbringt, die mir meine soziale Position sichern – auf der Arbeit, im Geflecht meiner sozialen Beziehungen, privat oder politisch.

Leider ist das kapitalistische System sehr anpassungsfähig, und da es in der Logik des Systems liegt, Menschen möglichst austauschbar zu gestalten, weil nur so Druck auf Menschen ausgeübt werden kann, Arbeit anzunehmen und die Arbeitsbedingungen zu akzeptieren, wie das System sie vorgibt, hat der Kapitalismus viele Lösungen gefunden, wie zum Beispiel Projektstellen in der Wissenschaft und in den großen Konzernen, die zeitlich begrenzt sind und zwar ein ganz bestimmtes Profil der Bewerber*innen verlangen, aber eben nach 3 Monaten oder 3 Jahren auch zugunsten neuer Stellen mit neuen Profilen einfach wieder verschwinden können. Oder wie die Ich-Ags und die Kleinselbständigkeit, die viele Menschen abhängig von einem sich dauernd wandelnden Markt machen. Axel Honneth hat das in „Paradoxien der Individualisierung“ beschrieben.

Paradoxerweise ist es daher, vor allem in gewinnträchtigen und machtbesetzten Positionen, jetzt schon so, dass Individualismus die neue Norm ist, und Menschen sich nicht mehr entscheiden können, sich zuerst durch ihre Gleichheit mit anderen und ihre Beziehungen zu anderen zu definieren. Wenn wir versuchen, dieser Norm zu folgen, wissen wir aber nie, ob wir erfolgreich sind, oder ob unser individueller Entwurf schon nächstes Jahr nicht mehr ökonomisch verwertbar sein wird – die Angst, ausgetauscht zu werden, kehrt also zurück. Durch unsere mühsam ausgefeilte und entwickelte Einzigartigkeit entstehen aber zugleich immer mehr Konflikte mit den Menschen in unserem Leben, weil unser Individualismus es schwerer macht, sich zu einigen, Konsense zu finden, etwas gemeinsam wertzuschätzen und gemeinsam zu entscheiden. Die Angst verdoppelt sich, weil unsere Beziehungen gestörter sind und trotzdem keine ökonomische Sicherheit herausspringt.

Inidvidualismus ist also keine Lösung für unsere Angst und für das Problem der Entwurzelung. Was ist die Alternative? Wir sollten unsere Gruppen und unsere Solidarität stärken. Ich denke, wir können unsere Einzigartigkeit behalten und gegen den Kapitalismus einsetzen, indem wir Gruppen bilden, in denen wir uns gegenseitig ergänzen und stark machen, indem alle das einbringen, was ihre Einzigartigkeit ausmacht. Das ist allerdings auch die Botschaft vieler Superheld*innen-Blockbuster, wie zum Beispiel X-Men, in denen Teams gerade dadurch gewinnen, dass sich die einzelnen Superheld*innen gegenseitig ergänzen. Das ist eher ein Hinweis darauf, dass ich mich Rahmen der kapitalistischen Narrative bewege. Also bin ich wahrscheinlich auf dem falschen Weg. Vielleicht müssen wir in unserer gegenseitigen Solidarität anerkennen, dass wir eigentlich keine Ahnung haben, was zukunftsträchtige Stärken und wichtige Fähigkeiten von Personen sind – und dadurch unsere Solidarität entgrenzen. Es kann sein, dass ein Wesen überhaupt nichts kann, außer uns beizubringen, wie wir die eigenen Bedürfnisse zurückstellen können, ohne psychisch zu verhärten – und sich gerade das in 20 Jahren als der wichtigste Lernprozess für eine zukunftsfähige gemeinsame Lebensform herausstellt. Wir sollten also unsere Solidarität nur sehr lose an unsere Vorstellungen davon knüpfen, was wertvoll ist. Die Definition von Solidarität, die Axel Honneth in „Der Kampf um Anerkennung“ 1992 als dritte Form der Anerkennung in sozialen Bewegungen verortet hat, ist deshalb nicht hilfreich. Unsere Solidarität kann sich nicht darin erschöpfen, die Anerkennung von Personen aufgrund einer wertvollen Leistung zu sein. Echte Solidarität muss diese Grenze überschreiten und unser Nicht-Wissen darüber reflektieren, was eigentlich wertvoll sein wird, welche Werten wir vertrauen werden, wenn wir weiter nachgedacht haben werden und unsere Gesellschaft sich verändert haben wird. Unsere Solidarität muss dafür sensibel sein, dass wir auch hier auf dünnem Eis gehen.

Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen – jetzt im neuen Stil

Heute war ich im Danni und habe miterlebt, wie die Harvester unter Polizeischutz die Bäume abknicken. Das macht ein krachendes Geräusch, dass einem das Herz gefriert. Es wird ja gerne darauf verwiesen, dass der Bau der A49 auf rechtsstaatlichen Entscheidungen basiert. Ich frage mich, ob unser Rechtsstaat einfach zu langsam ist, um die Selbstzerstörung der Menschen zu stoppen. In den letzten 3 Jahren sind allein in Deutschland ca. 290000 Hektar Wald durch die Trockenheit und die Klimakrise abgestorben. Der Bundestag hat aber mit den Stimmen von SPD und CDU 2016 beschlossen, durch einen der verbliebenen gesunden Mischwälder diese Autobahn zu bauen, und obwohl das heute nach neuem Wasserrecht gar nicht mehr zulässig wäre, weil das ein Wasserschutzgebiet ist, kann man diese Entscheidung scheinbar nicht rückgängig machen. (Fauna-Flora-Habitatgebiet nach EU Recht ist der Danni außerdem). Wir haben schon Dürrejahre, wohin soll das gehen? Ich weiß nicht, ob die Gerichte und die Regierungen in Hessen und im Bund die Verfassung Hessens und das Grundgesetz Deutschlands nur bis zum Artikel 19 gelesen haben, deshalb hier nochmal zur Erinnerung die wichtigsten Artikel zum Thema Naturschutz (ironischerweise und auch tragischerweise haben Politiker*innen, die jetzt die A49 zu verantworten haben, für die Verankerung dieser Grundsätze in die Verfassung und das Grundgesetz gestritten und gestimmt):

Zitat aus der Verfassung des Landes Hessen:

Artikel 26b

Die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen stehen unter dem Schutz des Staates und der Gemeinden.

Artikel 26c

Der Staat, die Gemeinden und Gemeindeverbände berücksichtigen bei ihrem Han-deln das Prinzip der Nachhaltigkeit, um die Interessen künftiger Generationen zu wahren.

Quelle (abgerufen am 15.11.2020):

https://hessischer-landtag.de/sites/default/files/scald/files/02_Verfassung.pdf

Zitat aus dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland:

Artikel 20a

Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.

Quelle, abgerufen am 15.11.2020:

https://www.bundestag.de/gg

Oscar Wilde, die A49 und die Fledermäuse

„Ein Zyniker ist ein Mensch, der von allem den Preis und von nichts den Wert kennt.“ – Oscar Wilde, Lady Windermeres Fächer, 3. Akt / Lord Darlington

Der kapitalistische Markt erzieht die Menschen zu Zynikern, weil auf ihm nur der Preis zählt, und nicht der Wert. Dieser Markt rechnet nicht damit, dass wir uns alle irren können – wir können Dinge für wertvoll halten, die es nicht sind, und den wahren Wert von Dingen verkennen. Wenn nur genug Marktteilnehmer*innen sich so täuschen, kommen Preise zustande, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben.

Gemeinwohlökonomie versucht, diese falsche Struktur zu korrigieren, und die Wirtschaft daran zu orientieren, was wertvoll ist, und nicht allein an den Preisen. Wie es Findus bei der großen Demo für den Dannenröder Wald auf der Kundgebung gesagt hat: Wir sollten darüber nachdenken, was wir wirklich brauchen. Das, was wir wirklich brauchen, ist das, was den größten Wert hat.

Mein Philosophielehrer Michael Weingarten hat mir aber in einem Seminar über die Wirtschaftstheorie von Ludwig Mises beigebracht, dass es unmöglich ist, „echte“ von „falschen“ Bedürfnissen zu unterscheiden. Was tun? Offensichtlich haben viele Menschen das Bedürfnis, Produkte von Ferrero in Stadtallendorf zu essen, und diese könnten kostensparend zu den Konsument*innen über die A49 transportiert werden. Und die Bedürfnisse der Dannenröder*innen, nicht neben einer Autobahn zu wohnen und saubere Luft zu atmen, müssten dann eben zurückstehen.

Ich muss Michael jetzt aber in einem Punkt widersprechen: Es gibt Bedürfnisse, die echter sind als andere. Mein Bedürfnis, Luft zu atmen, ist auf jeden Fall echter als mein Bedürfnis nach Ferrero Küsschen (das ich auch oft habe), aber warum? Weil ich ohne Luft mir auch keine Ferrero Küsschen mehr wünschen könnte. Mein Bedürfnis zu atmen muss erfüllt werden, damit ich das Bedürfnis nach Ferrero Küsschen überhaupt haben kann. Die Erfüllung mancher Bedürfnisse ist also die Bedingung dafür, andere Bedürfnisse überhaupt haben zu können. Lebensnotwendige Dinge wie saubere Luft haben also unbedingt einen höheren Wert als Dinge, auf die wir auch verzichten könnten, ohne dass unsere Fähigkeit, überhaupt Bedürfnisse und Wünsche zu entwickeln, darunter leiden würde. Und wenn uns etwas als ein Bedürfnis erscheint, dessen Befriedigung uns oder anderen die Luft zum Atmen nimmt, dann nenne ich das ein falsches Bedürfnis.

Ist doch logisch? Tja, der kapitalistische Markt funktioniert aber nach einer anderen Logik. Weil Luft eine „Allmende“ ist – ein Gemeingut, das (noch) nicht privatisiert wurde, hat sie keinen Preis – und deshalb ist die Atmosphäre dem kapitalistischen Markt sowohl als Ressource als auch als Senke (also als etwas, das er verschmutzen kann) schlicht egal – er rechnet nicht damit. Emissionshandel ist der Versuch der Staaten, das zu ändern und Luft mit einem Preisschild zu bekleben – ihre Verschmutzung soll etwas kosten. Im Prinzip ist das nicht schlecht – nur glaube ich, dass, sobald die Staaten die Luft eingepreist haben, der Kapitalismus die nächste Allmende ausbeuten wird, ob das nun Meerwasser, die Mineralien auf dem Mars oder Sonnenlicht oder Liebe ist. Tut mir leid, aber ich glaube nicht, dass wir den ganzen Laden retten können, indem wir einfach allem einen Preis geben – eben weil sich auch alle Marktteilnehmer*innen zugleich täuschen können. Daran wird auch der schlaueste Green Deal nichts ändern. Ganz zu schweigen von dem Problem, dass auf dem Markt nicht alle gleich reich, nicht alle gleich informiert sind und noch nicht einmal alle teilnehmen können.

Das N in Kapitalismus steht für Naturschutz – fotografiert am 7.10.2020 im Danni

Das Problem der gemeinsamen Täuschung ist übrigens auch das zentrale Problem der Gemeinwohlökonomie. Sie bietet immerhin die Möglichkeit, darüber zu diskutieren und zu entscheiden, was wertvoll (gemeinwohlorientiert) ist.

Faktisch können in unserer Demokratie im Moment nicht alle an einer Diskussion über das Allgemeinwohl gleichberechtigt teilhaben. Die Entscheidung für den Bau der A49, die 2015 im Rahmen des Bundesverkehrswegeplans im Bundestag getroffen wurde, ist ein gutes Beispiel. Gewählt wurden die Abgeordneten, die dort diskutiert und abgestimmt haben, nur von Menschen, die die deutsche Staatsbürgerschaft haben und über 18 sind. Die Klimakrise betrifft aber vor allem die unter 18jährigen, weil sie länger als wiir Älteren auf diesem Planeten leben werden und deshalb das größte Interesse an einer nachhaltigen, zukunftsfähigen Politik haben, die die Ökosysteme und die Ressourcen auch noch in 60 Jahren intakt hält. Die nächste Gruppe, die von der Klimakrise betroffen ist und keine Stimme in der Diskussion hatte, sind die Menschen des globalen Südens. Die ca. 800 Millionen Menschen zum Beispiel, die dort unter Hunger leiden, unter anderem wegen der Dürren, die die Klimakrise erzeugt, haben im Bundestag keine Vertretung.

Es gibt noch ein weiteres Problem: Selbst wenn alle betroffenen Menschen eine Stimme hätten, bliebe die Diskussion anthropozentrisch, auf die Menschen zentriert. Die Ecuadorianer*innen haben deshalb in ihrer Verfassung der Natur im Rahmen des buen vivir Konzepts den Status einen Rechtssubjekts gegeben. Sie versuchen damit, Probleme zu lösen wie dieses: Die Fledermäuse im Danni können über die A49 nicht mitreden – und sind auf Fürsprecher*innen wie die Aktivistis angewiesen, die versuchen, sich vorzustellen, wie es wäre, eine Fledermaus zu sein. In der Ethik nennt man das dann pathozentrisch (nicht nur der Mensch zählt, sondern alle Lebewesen, die Schmerzen empfinden können) oder biozentrisch (alle Lebewesen zählen).

Ich denke, wir müssen in diese Richtung gehen, weil ein konsequenter Anthropozentrist zugeben muss, dass die Menschen als isolierte Spezies nicht überlebensfähig sind, sondern nur als Teil eines Ökosystems mit vielen unterschiedlichen anderen Lebewesen zusammen.

Thomas Nagel hat geschrieben, kein Mensch könne wissen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein – und möglicherweise ist das wahr. Aber der Versuch, es sich vorzustellen, kann die Diskussion darüber, was Wert hat und was echte Bedürfnisse sind, in eine Richtung lenken, die uns Menschen davor schützt, uns alle gemeinsam in diesen wichtigen Fragen zu täuschen.

Auch die zukünftigen Generationen von Menschen können keine Stimmen in der Diskussion über den Wert haben – wir können uns wieder nur vorstellen, was sie wohl zu unserer Diskussion beitragen würden, wenn sie schon leben würden. Auch das setzt unserer Fähigkeit Grenzen, in einer Diskussion zu entscheiden, was echt wertvoll ist – und diese Grenzen sollten wir in der Diskussion immer mitdenken.

Ich bin aber ziemlich sicher, dass in 60 Jahren noch keine Technik erfunden sein wird, die es Menschen ermöglichen würde, zu leben, ohne zu atmen – deshalb bin ich auch ziemlich sicher, dass die im Jahr 2040 geborenen Menschen (übrigens genau wie die Fledermäuse, die heute im Danni leben) dafür stimmen würden, das Bedürfnis nach Ferrero Küsschen zurückzustellen und sich erstmal um einen Wald zu sorgen, der saubere und sauerstoffreiche Luft produziert, statt eine Autobahn zu bauen, die das Gegenteil macht.