Wie ich als Attac-Mitglied trotzdem für TTIP sein könnte

Ich bin jetzt seit langer Zeit gegen das TTIP („Transatlantic Trade and Investment Partnership“, „Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft“) aktiv. Ich habe die europäische Bürgerinitiative gegen TTIP und CETA unterschrieben. Ich habe in Fußgängerzonen mit den anderen Marburger Attac-Leuten im Rahmen der europäischen Bürgerinitiative gegen TTIP einige der über 2 Millionen Unterschriften gegen das TTIP eingeworben, die wir europaweit gesammelt haben. Ich habe an Anti-TTIP Flashmobs teilgenommen. Ich habe für die Anti-TTIP Demonstration am 10.10. in Berlin Geld gespendet, und ich habe Menschen über die Nachteile des Freihandelsabkommens informiert.

Dabei bin ich gar nicht per se gegen Freihandel. Ich finde Freihandel in bestimmten Grenzen und unter bestimmten Bedingungen okay. Nur nicht unter denen, die der EU-Kommission und Jean-Claude Juncker so vorschweben.

Meine Vorstellung von einem vernünftigen Freihandel zwischen Kanada, den USA und der EU sieht so aus: Der Freihandel muss so organisiert sein, dass die Demokratie und die Menschenrechte für alle Menschen gestärkt werden.

Dies ist meiner Meinung nach unter drei Bedingungen der Fall:

1. Das Abkommen darf kein „Living Agreement“ sein und es darf keinen regulatorischen Rat („Regulatory Coordination Council“) geben.

(Living Agreement heißt, dass die Parlamente nur einmal über das Abkommen abstimmen. Dabei stimmen sie dann einem Passus im Abkommen zu, der vorschreibt, dass ein Gremium geschaffen wird, das den Vertrag ohne Zustimmung der Parlamente „weiterentwickeln“ kann. In diesem Gremium, das regulatorischer Rat, Regulatory Coordination Council, heißt, sollen Wirtschaftslobbyisten sitzen.)

Es darf keine Entdemokratisierung durch Selbstentmachtung der Parlamente beiderseits des Atlantik geben.

2. Die internationalen Schiedsgerichte, die über Verstöße gegen das TTIP urteilen, müssen ordentliche Handelsgerichtshöfe mit demokratischer Legitimation sein.

(Im Moment sind die internationalen Schiedsgerichte, die es im Rahmen anderer Freihandelsabkommen schon gibt, zusammengesetzt aus drei Anwälten für internationales Handelsrecht, einer vertritt den Kläger, zum Beispiel einen Konzern oder Investor, einer den beklagten Staat und die beiden wählen einen dritten Anwalt aus, der dadurch Richter wird. In diesem lukrativen Rahmen können private Kläger Staaten auf Milliarden Schadensersatz verklagen, wenn diese ihre Gesetze ändern, wie zum Beispiel beim deutschen Atomausstieg, wegen dem Vattenfall gerade die BRD auf mehrere Milliarden Euro Schadensersatz verklagt hat.)

Weil internationale Handelsgerichtshöfe die Handlungsfähigkeit der Demokratie durch finanziellen Druck massiv einschränken können, müssen diese Gerichtshöfe demokratisch kontrolliert sein. Das bedeutet: Die Richterinnen und Richter müssen einen Senat mit mindestens 15 Personen bilden, und sie müssen im Fall des TTIP vom Europäischen Parlament, vom  Rat der Europäischen Union, vom Europäischen Rat und vom amerikanischen Kongress und Senat eingesetzt und von den beteiligten Staaten auch bezahlt werden. So ist eine unabhängige Justiz im Sinne der Bürgerinnen und Bürger möglich. In Anbetracht der Milliardenbeträge, um die es bei den Klagen geht, sind die Ausgaben dafür zu verschmerzen.

Außerdem muss es vertraglich geregelte Verfahren und Revisionsmöglichkeiten geben, also auch mehrere Instanzen. Das sind rechtsstaatliche Grundstandards.

Nachdem ich den Modell-Investitionsschutzvertrag von Markus Krajewsky gelesen habe, bin ich zudem der Meinung, dass Konzerne oder andere Investoren, die Staaten verklagen, zuerst vor nationalen Gerichten klagen müssen, und erst in späteren Berufungsverfahren letztendlich dann vor dem internationalen Handelsgerichtshof klagen dürfen. Ich kann nicht ganz einsehen, warum ich als Bürger den ganzen Instanzenweg beschreiten muss, bis ich vor dem Europäischen Gerichtshof klagen darf, Konzernen und Investoren aber diese juristische Ochsentour erspart bleiben soll.

3. Es darf keine Absenkung von Standards geben, die den Menschen dienen, etwa im Arbeitsrecht und der Wirtschaftsdemokratie, beim Verbraucherschutz, bei den Sozial- und Umweltstandards und den Regeln für den Finanzsektor. Und zwar weder in den USA, noch in der EU, noch in Kanada.

So. Ich bin bereit, eine Partei zu wählen, die unter genau diesen Bedingungen für das TTIP eintritt. Und zwar, obwohl ich attac-Mitglied bin. Ich fürchte nur, die Responsivität der EU-Regierung und der Regierung Deutschlands ist so defizitär, dass sie  auf einen vernünftigen Kompromissvorschlag nicht eingehen werden, einfach, weil die Lobby für das TTIP so mächtig ist. Damit will ich sagen: Die Regierungen hören im Bezug auf ihre neoliberale Deregulationspolitik den Menschen nicht zu und sie handeln in diesem Kontext auch nicht im Interesse der Zivilgesellschaft. Schade, Scheiße, um mit Fanny Van Dannen zu sprechen.

Über den Genuss daran, von Musik überwältigt zu werden

Ich habe vor einigen Tagen das Konzert D-Dur Nr. 77 von Johannes Brahms in der Interpretation von Yehudi Menuhin gehört. Ich hatte schon lange keine klassische Musik mehr gehört, weil mir das immer zu anstrengend war mit den vielen Instrumenten im Orchester und der unglaublichen Fülle und Wucht dieser sinfonischen Werke. Außerdem gibts da keine klare Struktur von Strophe, Refrain und Bridge wie in der Pop-Musik und ich blicke nie durch, wie das Thema entwickelt wird und erkenne keine Strukturen und bin ehrlich gesagt auch zu faul dazu, mir die nötige Kultur anzueignen, um zu verstehen, was Beethoven, Brahms und Bruckner da eigentlich genau machen in ihren Kompositionen.

Aber nun hatte mir mein Vater diese Menuhin-CD geschenkt und in einer ruhigen Minute habe ich mich der Musik überlassen. Und war überwältigt. Und das hat sich gut angefühlt.

Jetzt bin ich ziemlich verdutzt, weil ich keine Ahnung habe, wieso ich das manchmal genieße, wenn mich etwas überwältigt. Konkret sah das bei Brahms so aus, dass ich auf meinem Sofa saß und geweint habe, weil ich gleichzeitig Trauer, Sehnsucht, Freude und Erleichterung empfunden habe. Das ist auch verrückt, weil das Emotionen sind, die normalerweise nacheinander auftreten. Und sich scheinbar auch gegenseitig widersprechen. Die Erleichterung ist am einfachsten zu erklären: Es war unglaublich entlastend, mich nicht mehr selbst kontrollieren zu müssen. Die ganzen Emotionen, die Brahms, Menuhin und die anderen Musiker*innen in mir hervorgerufen haben, haben nämlich die Wächter in meinem Geist, die Rationalität, die Reflexivität und den bewussten Willen, einfach weggespült. Gleichzeitig haben mir die Rhythmen, Harmonien und die Strukturen der Musik einen orientierenden Rahmen gegeben, und dadurch hat mir der Kontrollverlust keine Angst gemacht (was mir Kontrollverlust normalerweise ziemlich sicher macht).

Das ist wohl eine Erfahrung, die Herbert Marcuse als eine spielerische Andeutung nicht-entfremdeten Lebens gesehen hätte. Daher kommt, denke ich, das Gefühl der Sehnsucht, der Freude und der Trauer: Die Musik gab mir eine Idee, wie das Leben in einer zukünftigen Gesellschaft sein könnte, in der sehr viele unterschiedliche Menschen mit Eigenheiten trotzdem harmonisch zusammen leben und gemeinsam etwas Schönes schaffen. Und die Trauer und die Sehnsucht kommen aus dem Bewusstsein, dass ich in dieser Gesellschaft noch nicht lebe, und dass das oft schmerzt.

Die Frage ist nur: Kommen wir zu einer solchen besseren Gesellschaft, wenn wir dauernd Lust dabei empfinden, uns überwältigen zu lassen? Das kommt nämlich ziemlich oft vor, öfter, als man denkt. Einige Beispiele aus meiner eigenen Erfahrung: wenn ich die Szene in „Last Samurai“ mit Tom Cruise anschaue, wo das Heer der Samurai, die sich den Traditionen des alten Japan verschrieben haben, von den Maschinengewehren der japanischen kaiserlichen Armee niedergeschossen wird. Wenn ich auf Demonstrationen in Sprechchöre einstimme, wo wir alle das gleiche brüllen, wie zum Beispiel „This is what democracy looks like“. Wenn ich beim Karate die Anweisungen meines Lehrers genauestens befolge.  Wenn ich auf der Arbeit meine Rolle als Lehrer vollkommen korrekt ausfülle, wenn ich auf einem Konzert von den Hellacopters poge. Wenn ich total verliebt bin mit Haut und Haaren. Wenn ich am Meer den Sonnenuntergang sehe. Das sind alles Momente, in denen ich von etwas überwältigt bin, was irgendwie größer und mächtiger ist als ich, und obwohl ich meine Freiheit liebe, finde ich diese Überwältigung schön. Das ist doch irgendwie seltsam.

Bei anderen Leuten nimmt dieselbe Lust andere Formen an: Eine Freundin hat mir kürzlich erzählt, dass Christen einen Stand in Marburg gemacht haben, und in einer Anleitung zum Beten, die sie da verteilt haben, stand die Gebetsvorlage „Lieber Gott, verzeih mir, dass ich mein Leben selbst bestimmt habe.“ Ich stelle mir vor, dass es vielen Menschen irgendwie dieselben Gefühle der Freude, Erleichterung, Trauer und Sehnsucht macht, so zu beten, die es mir macht, Brahms zu hören. Der Unterschied ist nur, dass ich da kein Lebensprogramm draus mache und nicht von mir verlange, dass ich dauernd in Demut alles akzeptiere, was das Leben so mit sich bringt. Brahms würde das sicher auch nicht von mir fordern, ich denke, für Brahms wäre es ok, wenn ich stinksauer bin, weil zu wenig Geld in die Schulen fließt und ich in schadhafter Infrastruktur zu große Oberstufenkurse unterrichten muss, während Hedgefondmanager ihre gigantischen Profite nicht versteuern müssen.

Aber eins ist auch klar: Diese Idee, die Welt, die Natur, die anderen Menschen und unsere Gefühle und unsere Körper seien mit der richtigen Technik und Strategie komplett kontrollierbar und verfügbar, die uns manchmal leitet, wenn wir an einem besseren Leben arbeiten, die ist auch einseitig und illusorisch. Das heißt, die Lust an meiner eigenen Überwältigung kann die Lust an einer Wahrheit sein, die ich manchmal vergesse: Dass ich es sehr oft nicht in der Hand habe, wie mein Leben verläuft. Ich kann meine Oberstufenkurse nicht auf 15 Leute verkleinern. Und ich kann die Hedgefondmanager nicht besteuern.

Deshalb werde ich jetzt bestimmt nicht um Verzeihung dafür bitten, dass ich die Freiheit, die mir dieses Leben gibt, so nutze, wie ich das für richtig halte. Ich werde bestimmt nicht Demut an die Stelle von Autonomie setzen, um dann am Ende in einer Art innerem Mittelalter zu landen und mich mit Freude für meine Sünden geißeln zu lassen. Nein, vielen Dank. Aber die Wahrheit, die in meinem Brahmserlebnis steckt, ist für meine Freiheit keine Gefahr, sondern eine Chance. Denn sie hilft mir, mich nicht zu verschätzen, was meine Macht und meine Selbstbestimmungsfähigkeit angeht. Danke, Johannes Brahms, Danke, Yehudi Menuhin. Wenn ich einen Hedgefondmanager kennen würde, würde ich ihm die CD mal schicken.

Wir treffen uns um 6 Uhr nach der Revolution!

Es gibt ja diesen US-amerikanischen Marxisten David Harvey, der so eine Art Popstar der Linken geworden ist. Ich habe neulich auf Youtube ein Interview mit ihm gesehen, in dem er gefragt wurde, wer denn nun eigentlich zum Proletariat gehöre, das die Revolution machen wird. Und diese Frage ist nicht ganz trivial, weil zum Beispiel ich ja Lehrer bin, und also klassischerweise eigentlich zur Bourgeoisie gehören müsste, aber ich verdiene vielleicht ein Drittel von dem, was ein Facharbeiter bei VW verdient. Mein Vater hat mir außerdem erzählt, dass die bei VW dieses Jahr 8000 Euro Weihnachtsgeld bekommen, und das ist mehr, als ich in den nächsten 8 Jahren werde sparen können.

Also jetzt die Preisfrage: Bin ich jetzt Bourgeois oder der VW-Facharbeiter? Oder sind wir beide Proletarier? Oder was? Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung. Und David Harvey offensichtlich auch nicht, weil er auf die Frage sehr weitschweifig nicht geantwortet hat. Und der Blick in das kommunistische Manifest hilft da auch nicht viel weiter, weil Marx und Engels da nur schreiben: Proletarier sind Leute, die kein Eigentum an Produktionsmitteln haben, und deshalb gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen.

Nun habe ich eine relativ gut ausgestattete Geigenbauerwerkstatt zusammengekauft, als ich in der Lehre war, und mit einigen wenigen Neuanschaffungen könnte ich mich selbständig machen und wäre dann – Unternehmer. Vermutlich würde ich im Monat so knapp das Existenzminimum verdienen, aber welcher Klasse würde ich dann angehören? Ich habe mich stattdessen entschieden, meine Arbeitskraft an das Land Hessen zu verkaufen, und jetzt weiß ich nicht, ob ich Proletarier bin oder nicht.

Aber die Frage, wer eigentlich Proletarier ist und wer nicht, ist ziemlich entscheidend für die marxistische Linke, weil das Proletariat ja die Revolution machen soll und die Produktionsmittel vergesellschaften soll, wodurch dann die Klassen verschwinden, weil es keinen Privatbesitz an Produktionsmitteln mehr gibt und die klassenlose Gesellschaft anbricht. Wenn ich mir aber jetzt vorstelle, dass die VW-Facharbeiter meine Geigenbauerwerkzeuge verstaatlichen, dann verdrillert sich mein Gehirn, weil ich mir die Revolution irgendwie anders vorgestellt habe.

Ich stelle mir die Revolution nicht so wie ein Armaggeddon vor, so einen Endzeitkampf der guten gegen die böse Klasse, Proletarier gegen Bourgeoisie, sondern eher wie ein ziemliches Chaos, wo keiner so genau weiß, wo er hin soll, und alle wuseln so vor sich hin und langsam fangen dann immer mehr Leute an, still und leise von der Fahne des Kapitalismus zu desertieren – das kann damit anfangen, dass Du keine Kleidung aus Sweatshops in Bangladesch mehr kaufst, sondern nur noch fair produzierte, oder Du gründest einen kleinen Kollektivladen, oder ein Hausprojekt, oder Du gehst mal ein Jahr nach Uruguay, statt an deiner Karriere zu feilen, oder Du spendest deine 8000 Euro Weihnachtsgeld an Ärzte ohne Grenzen. Bringt dem Kapitalverwertungsprozess alles nichts und ist deshalb ein klitzekleines Puzzleteil in dem, was dann in den Geschichtsbüchern der 2100er Jahre als Revolutionsgeschichte erzählt werden wird.

Also: Wir treffen uns um 6 Uhr nach der Revolution! Vergiss nicht, Dein Geschichtsbuch mitzubringen, und vergiss nicht Deine Geschichten.

One too many goodbyes

 

Lyrics: © Arne Erdmann  2015

Music: Bob Dylan

 

I can see it in your eyes, I can hear it in your voice

I will stay and you will leave, we both have no choice

It seems I am collecting farewells of this kind

I am one too many mornings and a thousand miles behind

 

I will sit a long time watching the space where you have been

reconstructing my mistakes, your beauty and my sin

but then I’ll get exhausted ‚cause truth I will not find

I am one too many mornings and a thousand miles behind

 

Time may tell from a distance that I’m not really bad

just unsteady, too resistant and a little bit too sad

you’ll distinguish my deeds from the pictures in your mind

but you’ll be one too many mornings and a thousand miles behind

 

as my memory is fading and you’re swallowed by the past

remain two things I remember and I know that they will last

how my doubts led into darkness and your smile used to shine

I am one too many mornings and a thousand miles behind

 

 

 

Der Kapitalismus, Resonanz und Kaffee wie in einer italienischen Bar

Ich frage mich schon länger, wieso ich, obwohl mir ziemlich klar ist, dass im Kapitalismus kein wirklich gutes Leben möglich ist, trotzdem noch in dieser Gesellschaftsordnung mitmache, brav konsumiere, arbeite und Steuern zahle und mich zusätzlich noch sozialreformerisch betätige, um das System zu verbessern, statt auf Revolution zu setzen und mich zu verweigern.

Jetzt habe ich mir zum Beispiel, statt nach Frankfurt zu Blockupy zu fahren, eine sehr teure gebrauchte High-End-Siebträger-Espressomaschine gekauft, so eine verchromte, von der es heißt, sie ermögliche „Kaffee wie in einer italienischen Bar“. Man kann also sagen, ich war im letzten Monat ein Deserteur der Revolution.

Ich bin tatsächlich halb unglücklich und halb erleichtert, dass ich nicht zu Blockupy gefahren bin, weil Gewalt echt nicht mein Ding ist, auch nicht gegen Sachen. Ich habe zum Beispiel mal bei einer Anti-Nazi-Demo in Gladenbach, wo Mitdemonstrierende im Dorf Mülltonnen auf der Straße umgeschmissen haben, die Mülltonnen wieder aufgestellt und eingeräumt, weil ich das echt bescheuert finde, in seinem Revolten-Furor statt der Nazis (die von der Polizei beschützt wurden) die Mülltonnen der Gladenbacher*innen zu bekämpfen.

Nevermind. Trotz meiner Ablehnung von Gewalt bin ich ein bisschen unglücklich darüber, nicht wenigstens bei der friedlichen Blockupy- Kundgebung auf dem Römer gewesen und Naomi Klein gehört zu haben, die darüber gesprochen hat, wie der Kapitalismus den Planeten zerstört. Und stattdessen diese Espressomaschine gekauft zu haben, für die ich viele Stunden im Internet recherchiert habe.

Dieser Blogeintrag dient jetzt dazu, mein Revolutionspunktekonto wieder ein bisschen aufzuhübschen. Und das soll wie folgt funktionieren: Ich analysiere mein revolutionäres Versagen mit der Kaffeemaschine und helfe den Leser*innen so, nicht in die gleiche Falle zu tapsen. Der Begriff, mit dem ich das machen will, stammt aus dem Buch von Rosa/Dörre/Lessenich: „Soziologie Kapitalismus Kritik.“, das bei Suhrkamp erschienen ist, und heißt „Resonanz“. Resonanz zu erfahren heißt: Wir haben das Gefühl, dass die Welt und unsere Mitmenschen auf unsere Wünsche, Gefühle, Handlungen und Äußerungen so antworten, dass wir uns wahrgenommen, verstanden, akzeptiert und geliebt fühlen und spüren, dass wir etwas bewirken können. Ich kenne niemanden, der sich das nicht wünscht.

Was das jetzt mit meiner neuen gebrauchten Espressomaschine zu tun hat? Folgendes: Ich bin dem Kapitalismus voll auf den Leim gegangen, der nämlich systematisch die Illusion von Resonanz erzeugt. Ich habe mir eigentlich gewünscht, von meinen Mitmenschen als jemand wahrgenommen zu werden, der irgendwie Kreativität, Unabhängigkeit, Lebensgenuss und Hipness mit Tradition, Nachhaltigkeit und einem gewissen edlen Konservatismus vereint. Voila: Genau das leistet meine neue Espressomaschine Italian Style. Deshalb musste sie auch verchromt sein und nicht Edelstahl gebürstet wie die, die meine besten Freunde haben. So. Jetzt kriege ich die und habe das Gefühl, dass a) der Kapitalismus auf meine Wünsche und Bedürfnisse mit deren Befriedigung antwortet und b) ich meine Mitmenschen durch ein Objekt, das als Symbol funktioniert, dazu bringen kann, mich so wahrzunehmen, wie ich gerne wahrgenommen werden will. Resonanz. Oder so was ähnliches. Denn in Wirklichkeit ändert sich mein Leben natürlich nicht wirklich, nur weil mein Espresso besser schmeckt und aus einer schickeren Maschine kommt. Mein Leben ändert sich, wenn ich öfter Freund*innen zum Kaffeetrinken einlade und wir uns erzählen, was für uns das gute Leben wäre. Darauf antwortet der Kapitalismus aber nun überhaupt nicht, weil meine Freund*innen zum Teil drei Jobs gleichzeitig haben und deshalb selten Zeit, bei einem guten Kaffee über ihre Lebensträume zu reden. Und ich auch oft plötzlich an meine Aufgaben in der Schule denken muss und mich deshalb nicht so richtig im Gespräch entspannen kann. Schön reingefallen, denn daran ändert die neue Espressomaschine nun wirklich nichts.

Also: Wenn Du mal überlegst, ob Du Deine Zeit für eine Kundgebung auf dem Frankfurter Römer oder zum Arbeiten und Konsumieren verwendest, rate ich Dir, Dich zu fragen, welche Art von Resonanz Du Dir wünschst, und wo Du die her bekommst.

Liebe unprofitabel

Allen, die sich manchmal fragen, warum das eigentlich so unglaublich schwierig ist, in einer Beziehung das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Bindung zu halten, sei hier die Lektüre von Eva Illouz und Judith Butler empfohlen. Mit der Kombination der Bücher „Warum Liebe weh tut“ und „Psyche der Macht“ kann mensch sich das nämlich erklären.

Meine Erklärung geht so: Der Kapitalismus hat einen zentralen Widerspruch immer weiter verstärkt, der sich besonders auf Liebesbeziehungen auswirkt: Denn einerseits werden im Kapitalismus Leute gebraucht, die möglichst frei und ungebunden sind, damit man sie als global agierendes, ständig die neuesten Entwicklungen mitgestaltendes Management überall schnell einsetzen kann: Keine Bindungen, Kinder, Ehepartner, die die Flexibilität der Arbeitenden beeinträchtigen. Gerade weil sich alles so schnell wandelt, braucht man Leute, die sich schnell anpassen, keine Klötze am Bein haben und übermorgen in der Filiale in New York das Marketing auf die neuesten Trends umstellen. Dasselbe gilt auch für alle Menschen, die gezwungen sind, ein prekäres Dasein zwischen Minijobs und Scheinselbständigkeit zu führen, bloß ist es da noch schlimmer.

Diesem Zerrbild der Freiheit steht ein zweiter funktioneller Bedarf des Kapitalismus gegenüber: Marx hat das die Reprodukion der Arbeitskraft genannt. Das bedeutet unter anderem: Die Leute müssen auch irgendwie arbeitsfähig bleiben, körperlich und psychisch klarkommen, brauchen Zuneigung und einen privaten Beziehungsraum, der die Zwänge und Härten der Arbeitswelt kompensieren hilft. Und: der Kapitalismus braucht Kinder. Ohne Kinder gibt es keine Arbeitskräfte, insbesondere die Eliten sollen sich ja, wie wir seit Thilo Sarrazin wissen, in Deutschland endlich mal ordentlich fortpflanzen, weil dieses Land ja sonst bald bloß noch aus faulen und dummen Leuten besteht.

Das Problem an der ganzen Sache ist nun: Das sind zwei Erwartungen, die der Kapitalismus an uns stellt, die ganz und gar nicht zusammenpassen: Kinder bedeuten Bindung, Kinder brauchen Verlässlichkeit, Freunde, ein vertrautes Umfeld und stabile Beziehungen. Wenn wir gleichzeitig aber total flexibel sein sollen und morgen in Köln und übermorgen in Frankfurt arbeiten sollen, dann wird das schwierig. Und wenn zwei Partner*innen beide befristete Jobs haben, die eine aber in Köln und der andere in Berlin ist, dann sind vielleicht beide recht autonom, aber es wird schwierig, ein Beziehungsleben zu organisieren, das Kraft für die Anforderungen der Arbeitswelt gibt.

Ich hab deshalb großen Respekt vor allen Leuten, die unter diesen Umständen glückliche und stabile Liebesbeziehungen aufbauen. Denn eins ist klar: Entweder wir sind frei, uns in jede gewünschte Richtung zu entwickeln, oder wir sind in festen Bindungen, die unseren Identitätswandel bremsen und unsere Optionen begrenzen. Beides zugleich überfordert. Familien, die das beides können, sind oft kleine Roboterfabriken, in denen kein Leben stattfindet, das nicht diktiert ist von äußeren Anpassungszwängen.

Das ist doch aber ganz schön, jetzt zu wissen, dass diese Zerrissenheit zwischen dem Wunsch nach Bindung und dem Wunsch nach Freiheit nicht mein persönliches Problem ist, sondern ein Problem der Gesellschaftsordnung, in der ich lebe. Ich weigere mich, die dauernden Krisen dieser Verwertungslogik, die sich in ihren eigenen Widersprüchen verheddert, als meine eigene Schuld und mein persönliches, subjektives, inneres Problem zu sehen. Ich kenne so viele Leute aus der akademischen Mittelklasse, die um ihre Liebesbeziehungen kämpfen müssen, dass ich an dieser Stelle und ganz zum Schluss Herrn Sarrazin gerne sagen möchte: Schaffen Sie den Kapitalismus ab oder reformieren Sie ihn vernünftig, dann kriegen wir so viele Kinder, dass Sie sich umgucken werden. Allerdings muss ich gleich dazu sagen, dass es diesen Kindern dann ziemlich Banane vorkommen wird, wenn Herr Sarrazin wieder mit seinem Protorassismus um die Ecke kommt, weil diese Kinder dann frei und gleich mit anderen Kindern aller möglichen Länder zusammen leben werden. Denn ohne kapitalistischen Konkurrenzdruck wirds dann auch keinen Hass zwischen irgendwelchen konstruierten Gruppen geben, und die Leute werden sich fragen, warum die Leute früher eigentlich so ein Wort wie „Deutscher“ wichtiger fanden als so ein Wort wie „Cineast*in“.

Das Sonnencreme-Problem oder: Wie es ist, Single zu sein, Folge 1

Unerklärlicherweise gibt es an menschlichen Körpern ein Areal, das man sich nur unter Verrenkungen und Schmerzen ohne Hilfe von anderen selbst mit Sonnencreme einschmieren kann. Ja, genau, ich meine diese unzugängliche Stelle unter den Schulterblättern, die ich persönlich nur mit allergrößter Mühe mit den Fingerspitzen erreichen kann. Was für ein Aufwand! Was will Gott mir damit sagen? Warum hat er meinen Körper so gebaut, dass ich mir fast die Arme brechen muss, um jede Stelle meines Körpers mit Sonnencreme einzucremen? Ich weiß – es steht geschrieben, es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei, aber reicht es nicht, dass alle einen anschauen, als hätte man ein schlimmes Gebrechen, wenn man alleine in Urlaub fahren und ein Zimmer buchen will? Reicht es nicht, dauernd in dem Bewusstsein zu essen, dass, wenn du dich verschluckst, niemand da ist, der dir auf den Rücken klopft oder einen Luftröhrenschnitt macht, um dich vor dem sicheren Erstickungstod zu retten? Reicht es nicht, abends einschlafen zu müssen, ohne dass jemand dir leise „love me tender“ singt? Ist das nicht schlimm genug? Das sollte doch reichen, um die meisten Seelen zu Paarbeziehungen zu motivieren. Wozu dann die verdammte Problematik beim Eincremen mit Sonnenmilch?

Wenn ich eine Vermutung äußern darf: Gott will mir wohl mitteilen, dass es nicht sein Wille ist, dass ich alleine am Strand liege und in der Sonne mein Leben genieße. Und er will, dass die anderen Touristen um mich rum meine hilflosen Verrenkungen mitleidig aus der Ferne ansehen und sich denken: „Ach, der arme Kerl, er ist wohl Single, na ja, zum Glück hab ich Familie, das ist ja nun wirklich kein Leben so alleine.“

Ich schließe daraus: Gott ist nicht mit mir und will mir eine Lektion erteilen, damit ich mein Leben ändere. Aber ich habe eine Nachricht für Gott: Ich creme mir inzwischen mit so einer Routine selbst den Rücken ein, dass ich gar nicht mehr darüber nachdenke und schon in Gegenwart von Freunden niemanden mehr um Hilfe bitte. Und sollte ich im Alter dazu zu ungelenkig werden, kann ich mir immer noch eine Hilfshand basteln, mit der ich die unerreichbaren Stellen unter meinen Schulterblättern eincreme. Denn eins ist klar: Sollte ich eine Beziehung anfangen, so will ich das nicht wegen des Sonnencreme-Problems tun. Am romantischsten fände ich es, wenn ich mich eines Tages neben einer wunderschönen Frau am Strand fände, die sich mit einer total ausgefeilten und kreativen Technik selbst den Rücken eincremt, genau wie ich. Wir würden dann lachen und Tipps austauschen.

Europa links vom Sparwahn

Endlich: Griechen wehren sich gegen das Spardiktat aus Berlin, Brüssel, London und New York. Ein kosmopolitischer Ökonom gibt seinen Lehrstuhl in den USA auf, um als Finanzminister für Griechenland die Kartoffeln aus dem Feuer zu holen. Danke, Varoufakis.

Regierungschef Alexis Tsipras stoppt die Privatisierung des Hafens von Piräus und der Eisenbahngesellschaft. Der Ausverkauf Griechenlands hat einige Opfer weniger.

Die neue Regierung will einen Schuldenreduktionsplan durchsetzen: Länger Zeit für die Rückzahlung, geringere Zinsen, Abzahlung je nach Wirtschaftswachstum. Das ist Politik mit Augenmaß.

Die Populisten um Wolfgang Schäuble von der CDU beschimpfen Tsipras und Varoufakis dafür jetzt, na, wie? Als Populisten. Dabei haben Schäuble und Konsorten den deutschen Wähler*innen jahrelang erzählt, die Griechen würden unser Geld klauen. In Wirklichkeit haben das Geld die ganzen Reichen geklaut, die es in die Steueroase Luxemburg verschoben haben, während der jetzige konservative EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker dort Regierungschef war und seine Arbeitszeit größtenteils mit dem Stricken von Steuerschlupflöchern verbracht hat.

Vielen Dank an die europäische Konservative unter der Führung von Juncker, Merkel und Cameron: Sie betreiben den Ausverkauf der europäischen Demokratien.

Ich bin erst zufrieden, wenn die deutsche Bundesregierung sich entschließt, den Griechen endlich Wiedergutmachung für die Schäden von Nazikrieg und Nazibesetzung zu zahlen. Wenn Deutschland im Rahmen des Rettungsfonds hier Nettozahler würde, wäre das nur gerecht.

Wenn Tsipras jetzt noch dafür sorgt, dass die reichen Griechen auch endlich ihre Steuern bezahlen, bin ich überzeugt, dass die Griechen zurecht Syriza gewählt haben. Es sei denn, die Rechtspopulisten in der griechischen Koalition machen den Migrant*innen das Leben noch schwerer, als es das Dublin II Abkommen eh schon macht. Aufgrund dieses Abkommens nämlich landen die fliehenden Syrer*innen massenweise im bettelarmen Griechenland und kaum im reichen Deutschland.

Probleme – in die Peripherie abschieben, nach Spanien und Griechenland. Gewinne: Ins Zentrum verschieben, nach Deutschland. Und dann noch die Ohnmächtigen als Schuldige darstellen. Das ist die Politik der konservativen Populisten. Pfui.