Die Finanzkrise, Kojève und warum es gut ist, wenn ich keine Lust habe zu arbeiten

Ich bin heute krank und muss deshalb nicht arbeiten. Da ich aber Protestant bin und daher seit meiner Kindheit an den Gedanken gewöhnt wurde, dass ich durch Arbeit in den Himmel komme, habe ich meine durch Krankheit gewonnene freie Zeit gleich mal dazu genutzt, einen politisch-philosophischen Essay von Alexandre Kojeve durchzuarbeiten, den man von der Hoover.org Seite herunterladen kann.

 

In dem Artikel geht es darum, wie Frankreich es schaffen kann, seine politische Autonomie und die Werte seiner Zivilisation gegen verschiedene Imperien zu bewahren. Kojeve schlägt vor, ein „Empire Latin“ zu schaffen, dass neben Frankreich vor allem die katholisch geprägten südeuropäischen Länder am Mittelmeer umfasst, Italien und Spanien zum Beispiel.

 

Jetzt wundert sich vermutlich manche, und tatsächlich ist der Essay von Kojeve 1945 geschrieben worden. Das mit dem Empire Latin kannst du ad acta legen. Trotzdem stecken bedenklich aktuelle Erkenntnisse in dem Text. Zum Beispiel: Wäre ich kein deutscher Protestant, sondern ein katholischer Franzose, würde ich jetzt, statt diesen Blogbeitrag zu schreiben, wahrscheinlich mit einer schönen Frau ordentlich Rotwein trinken und dabei extrem gut angezogen sein.

 

Kojeve lobt die dem zugrundeliegenden Werte, vor allem die Wertschätzung der Muße, weil man sie braucht, um in Ruhe nachzudenken, und der Schönheit, und glaubt, dass diese von Aristoteles über die katholische Tradition ins moderne Frankreich transportiert wurden und gefälligst gegen die angelsächsich-germanische Arbeitswut verteidigt werden sollten. Ich stimme voll zu, tue mich aber praktisch etwas schwer mit der Umsetzung, wie du liest, weil ich nicht aufhören kann zu schreiben.

 

Jetzt ist es so, dass Aristoteles ein freier Bürger Athens war, und als solcher die Muße lobte, während etliche Sklaven in den Weinbergen geschuftet haben, damit der gute Aristoteles beim Philosohieren ordentlich Rotwein picheln konnte. Insofern würde ich vielleicht die protestantische, angelsächsisch-germanische Arbeitsethik jetzt zumindest als historischen Beitrag zu einer gerechteren Gesellschaft verteidigen und fühle mich auch gleich besser dabei, diesen Artikel weiterzuschreiben.

 

Gustav Seibt hat den Kojeve-Artikel ja nicht zufällig jetzt in der SZ mit einer Rezension bedacht – fast 70 Jahre nach dessen Entstehung. Kojeve hat nämlich etwas verblüffend früh vorausgesehen: Die deutsche Wirtschaft ist – unter anderem dank einer kapitalistisch geprägten, extremen Wertschätzung der Arbeit und des Sparens – im Gegensatz zu der Wirtschaft von Spanien, Italien und teilweise Frankreichs ziemlich krisenfest. Die deutsche Arbeitswut hat nämlich in den vergangenen Jahren die europäischen Nachbarländer in Grund und Boden konkurriert. Die dadurch gewonnene politische Macht nutzt der deutsche Staat, um sein Modell den europäischen Partnerstaaten aufzuzwingen. Und zu Recht sehen sich deshalb viele Spanier, Griechen und Italiener als Opfer einer imperialen Strategie, allerdings ist das Imperium sehr komplex und widersprüchlich, weil sich noch nicht mal Deutschland und Großbritannien, zwei neoliberal-kapitalistische Musterstaaten, auf eine gemeinsame Politik einigen können.

 

Jede imperiale Strategie nach außen braucht eine imperiale Strategie nach innen – und die drückt sich im Falle von mir und dem neoliberalen BRD-Kapitalismus darin aus, dass ich seit einem Jahr kein einziges Mal zu Hause geblieben bin, wenn ich krank war – auch wenn ich Rückenschmerzen hatte, die zu Schweißausbrüchen geführt und es fast unmöglich gemacht haben, an die Tafel zu schreiben und meine Schultasche zu tragen.

 

Zum Glück ist das alles nicht ganz so schlimm, weil ich außerdem im ganzen letzten Jahr jede Woche einmal Abends mit Freunden gut gegessen, Rotwein getrunken und ausführlich gequatscht habe – Arbeit hin oder her. Jede imperiale Strategie stößt auf Gegenstrategien.

Allerdings sind solche Abendessen jetzt für die zwangsgeräumten spanischen Familien, denen die Deutsche Bank ihre Häuser weggenommen hat, nicht besonders hilfreich, da kann ich noch so viel italienischen Rotwein dazu trinken.

Dank Kojeve weiß ich jetzt aber, was das schlechte Gewissen, das mich dauernd befällt, wenn ich mal die Beine lang mache und nicht arbeite, mit der politischen und kulturellen Lage in Europa zu tun hat – und dass es in Ordnung ist, öfters statt zu arbeiten auf meinem Sofa Kontemplation zu betreiben. Das Ergebnis meiner heutigen Kontemplation ist, dass es sinnvoll ist, sich weiter bei attac gegen die Hegemonie kapitalistischer Arbeitsvergötterung zu engagieren, auch wenn es zusätzliche Arbeit macht. Außerdem fühle ich mich dank der Beichtfunktion, die dieser Blog erfüllt, der mir gottlosen Protestanten einen katholischen Beichtstuhl ersetzt, befreit und kann zum Dolce-Far-Niente-Teil des Tages übergehen.

Au Relire!

 

 

Mein Fahrrad, Heidegger und die Unverständlichkeit der Welt

Ich radelte heute zur Post und dachte dabei über mein Fahrrad nach. Ich fragte mich, wer es wohl zusammengeschraubt hat (es ist so ein Hollandrad aus den 70ern), und wo die Teile herkommen und wer das Eisenerz geschürft und den Stahl verhüttet hat und wie überhaupt diese Scheiben, aus denen die Kette besteht, hergestellt werden – werden die gegossen? Oder irgendwie gefräst? Mir fiel auf, dass ich keine Ahnung habe, wie das komplexe Teil, mit dem ich jeden Tag zur Arbeit fahre, überhaupt gebaut wird.

Weil ich Philosophen zu Freunden habe, fiel mir sofort Heidegger ein. Der hat von der „Bewandtnisganzheit“ geschrieben, womit er laut Aussage meines Freundes Daniel die Idee bezeichnet hat, dass uns die uns umgebenden Gegenstände als Teile einer möglicherweise erkennbaren sinnhaften Gesamtheit erscheinen – am Beispiel meines Fahrrads kann man sagen, dass in den 70er Jahren eine ganze Menge Leute in verschiedenen Ländern und Berufen verschiedene Dinge getan haben, aus deren Gesamtsumme das Fahrrad entstanden ist, das den Sinn hat, dass ich damit zur Arbeit fahren kann. Wenn es kaputt geht, ist es nicht mehr sinnvoll, sondern wird zum Problem – ich höre auf zu radeln und fange an nachzudenken, wie ich es reparieren kann. Heidegger nennt das so: „Das Fahrrad ist nicht mehr zuhanden, sondern vorhanden“. Wir switchen deshalb vom praktischen Benutzen zum theoretischen Nachdenken.

Mein Fahrrad ist zwar heute nicht kaputt gewesen, aber es schleifte ein bisschen und ich will Heidegger mal wohlwollend soweit folgen und annehmen, dass das Schleifen mein Fahrrad für mich vom Zuhandenen zum Vorhandenen gemacht hat, weshalb ich über es nachdachte.

Das Ergebnis meines Nachdenkens war, dass ich verblüffend wenig darüber weiß, wer eigentlich alles was warum macht, bis am Ende so ein Rad herauskommt – womit mir mein eigenes Denken vom Zuhandenen zum Vorhandenen wurde, weil ich nämlich sehr bald sehr am Ende war mit dem Versuch, denkend meine Welt – selbst angesichts der noch recht einfachen Form meines Fahrrads – zu verstehen.

Das ganze Nachdenken ist ja noch ein recht harmloses Freizeitvergnügen – bis eine Finanzkrise kommt und den Fräser (oder Gießer) meiner Fahrradkettenbestandteile arbeitslos macht, den ganzen Ablauf der Fahrradproduktion zerschlägt und es im schlimmsten Fall unmöglich macht, Ersatzteile zu bekommen, weshalb das Fahrrad vorhanden bleibt und – trotz allen Nachdenkens über die Bewandtnisganzheit – nicht wieder zuhanden wird.

Daraus schlussfolgere ich messerscharf, dass es nicht reicht, erst zu fragen, was es mit den Finanzmärkten für eine Bewandtnis hat, wenn sie nicht mehr funktionieren. Man muss also dem Vorhandenwerden zuvorkommen und sich schon mal während man etwas benutzt (wie zum Beispiel Geldanlagen in Form von Finanzderivaten kauft) Gedanken machen, wie es funktioniert. Zum Glück leben wir in einer Gesellschaft, in der nicht jeder alles verstehen muss. Deshalb reicht es, wenn Christian in meiner Fahrradwerkstatt, der gelernter Industrieschlosser ist, weiß, wer wie und warum die Einzelteile von Fahrradketten herstellt. In Anlehnung an eine Idee von Hilary Putnam kann man das das Prinzip der hermeneutischen Arbeitsteilung nennen.

Die funktioniert jetzt aber auch nur so lange, wie alle Leute den verschiedenen Fachleuten vertrauen, ob es jetzt Banker_innen oder Industrieschlosser_innen sind, und glauben, dass die genug wissen, um nicht funktionierende Sachen wieder zu reparieren. Das ist ein Problem, weil es immer Banker_innen und Industrieschlosser_innen gibt, die kein Interesse daran haben, dass alle Gegenstände funktionieren, weil sie mehr Geld verdienen können, je mehr kaputt geht, was sie reparieren müssen. Bei Finanzderivaten ist die Sache eigentlich noch bescheuerter – weil manche Derivate nur dadurch Geld bringen, dass andere kaputtgehen. Ich frage mich sowieso, wie die Leute bei solchen Bewandtnissen einander überhaupt vertrauen.

Franz Kafka hat ja bei einer Versicherung gearbeitet – was vielleicht erklärt, warum seine Geschichten oft so gruselig sind und scheinbare Gewissheiten flux in nichts auflösen – Kafka wusste wahrscheinlich sehr gut, wie den Leuten scheinbare Sicherheit verkauft wurde, die sich dann im Ernstfall als ungedeckter Scheck erwies – tut uns leid, Sie hätten Anlage 25 f ihrer Versicherungspolice lesen sollen, denn darin sind Brandschäden durch Feuersbrünste, die durch Kabelbrand in Elektrogeräten, die älter als 2 Jahre sind, ausgelöst wurden, ausdrücklich von der Erstattung ausgenommen.

Leider ist allein die Zeit, die man braucht, um sich mit der Bewandtnis seiner eigenen Versicherungspolicen vertraut zu machen, inzwischen so enorm, dass man entweder seinen Job kündigen oder auf Kontakt zu seinen Freunden verzichten müsste, um wirklich zu verstehen, was man tut, wenn man die Policen unterschreibt.

Wie schwierig wird es dann wohl, die Bewandtnisganzheit zu verstehen? Ich finde, wir sollten es da mit Heideggers Lehrer Husserl halten, der geschrieben hat, dass man, wenn man überhaupt etwas erkennen will, gut daran tut, alle Sinnkonstruktionen, die man beim Wahrnehmen normalerweise automatisch verwendet, zeitweise außer Kraft zu setzen, und ersteinmal möglichst unvoreingenommen zu schauen, was man vor sich hat. Die Bewandtnisganzheit können wahrscheinlich nur Leute, die ordentlich Peyote genommen haben, ansatzweise verstehen. Und die haben dann natürlich alles wieder vergessen, sobald sie wieder klar sind. Wahrscheinlich zum Glück.

 

Unglückliche Liebe, der Kapitalismus und ich

Eva Illouz hat mich überzeugt: Durch die Art, wie die kapitalistische Gesellschaft unsere Gefühle, insbesondere Liebe, formt, sind die meisten Frauen schlechter dran als die meisten Männer. Mehr noch: Ich war froh, endlich eine soziologische Erklärung für das verletzende Verhalten mancher Frauen, die ich geliebt habe, zu lesen. Dass die Gleichberechtigung der Geschlechter den paradoxen Effekt hat, dass Frauen, die sich eine Familie wünschen, zugleich die Autonomie nutzen, die ihnen die neuen Beziehungsmärkte eröffnen, gleichzeitig aber durch ihre biologische Uhr gezwungen werden, die Rolle der anhänglichen und beziehungsorientierten Frau zu spielen, hat mir viele vorher schmerzhaft unverständliche, weil paradoxe Verhaltensweisen von ehemaligen Partnerinnen erklärt.

 

Was mich an Illouz Buch aber geärgert hat, war, dass ich bei ihrer Analyse der Erfahrungen von Frauen oft gedacht habe: Ja, genau, so geht es mir auch. Ich hatte zwar auch die von Illouz analysierte eher männliche Bindungsangst, dennoch kommen viele meiner emotionalen Erfahrungen im Buch ausschließlich als Erfahrungen von Frauen vor. Illouz schreibt: „Die Frauen, die „zu sehr lieben“, trifft die Schuld, das ökonomische Kalkül nicht zu verstehen.“1 Da Beziehungen als Verträge gesehen werden, und Zuneigung deshalb in der Form des Tauschs ausgeglichen sein sollte, leiden demzufolge diese Frauen, weil sie die Ökonomie der Liebesbekundungen unterlaufen und mehr Liebe schenken, als sie in einer Tauschbeziehung geben müssten. Damit vermindern sie aber den Wert ihrer Liebesbekundungen und machen sich damit unattraktiver für den beschenkten Partner. Als Mann, der auch immer wieder „zu sehr geliebt“ hat, fühle ich mich von Illouz statistisch weggemittelt. Das schlimme ist, dass ich diese Mechanismen der Liebesökonomie zwar erkannt habe, aber trotzdem hilflos gezwungen war, ihnen zuwiderzuhandeln, obwohl ich wusste, dass mich das in eine schlechtere Marktposition bringt. Illouz erklärt dies mit dem Wunsch nach Anerkennung, die für den Selbstwert gebraucht wird. Ich habe mich also verhalten wie all die Hausbesitzer in den USA, die ihre Häuser verkauft haben, obwohl deren Preise sanken, und damit die Preise noch weiter gesenkt haben. Die Krux an der Sache ist nur: Ich hatte nicht das Gefühl, eine Wahl zu haben, und zwar obwohl ich wusste, dass es erfolgversprechender wäre, meine Liebe zu portionieren und erstmal nur als Appetizer auf den Markt zu werfen. Ich bin genau wie viele Frauen daran gescheitert, Autonomie und Anerkennung in Beziehungen miteinander zu vereinbaren. Dass ich als Mann mehr Macht als Frauen habe, zu definieren, was wertvoll ist, nützt mir aber nichts, weil für mich diese Macht auszuüben auch heißt, aus meiner Liebe ein Machtspiel zu machen. Was ich nicht möchte.

 

Sicher ist es die Krux einer soziologischen Analyse, die gesellschaftliche Entwicklungsprozesse beschreibt und erklärt, nicht jedes soziale Phänomen behandeln zu können. Auch so habe ich aus Illouz Buch viel über die soziale Prägung meiner Gefühle gelernt, und wenn ich dazu oft Sätze, die anfangen „Viele Frauen…“ innerlich ergänzen musste mit „…und viele Männer….“, so ist das ein wesentlich geringeres Übel, als sozialen Prozessen einfach blind ausgeliefert zu sein, die mich unglücklich gemacht haben, wie es vor der Lektüre war.

 

Aber trotzdem fehlt mir in Illouz Buch eine Reflexion darüber, welchen Widersprüchen gerade die Männer ausgeliefert sind, die eigentlich aus feministischer Sicht die Partner abgeben können, mit denen gemeinsam Frauen der Herrschaft des Kapitalismus über die Gefühle ein Ende bereiten können.

 

Von Männern wird oft erwartet, dass sie mit einer ganzen Ladung alter und neuer Rollenfragmente jonglieren: Mal sollen Männer Kavaliere sein, mal aufregende Sexabenteurer, mal fürsorgliche und verständnisvolle Softies, dann wieder knallhart selbstbewusste Machtstrategen, auf deren Entscheidungskraft Verlass ist, dann wieder naive kleine Jungen, die sich für Neues begeistern können, dann sollen sie feministisch reflektiert an die Beziehung herangehen und im nächsten Moment den dominanten Lover geben. Ja, was denn nun? Wenn manche Männer es schaffen, mit diesen ganzen Verhaltensweisen erfolgreich zu jonglieren, bekommen sie kurz Applaus. Geht es schief, und die Rollenfragmente verwandeln sich in einen unzusammenhängenden Kladderadatsch, werden die Männer entweder bestraft, ausgelacht, bemitleidet, wohlmeinend von oben herab behandelt oder schlicht ignoriert.

 

Aus der Sicht vieler Männer ist die Situation also auch ziemlich übel: Frauen verlangen von ihnen, zugleich die Autonomie der Frauen zu respektieren, ihre männliche Autonomie unter Beweis zu stellen, inklusive ihrer Macht auf dem sexuellen Markt, und trotzdem verlässliche, fürsorgliche und nette Partner zu sein.

 

Es wäre gut, die Herrschaft des Kapitalismus über die Gefühle als etwas zu verstehen, was Männer und Frauen ständig neu erzeugen, und sich endlich gemeinsam zu weigern, dieses Spiel mitzuspielen. Dazu sollten Feministinnen deutlicher als Illouz die Bemühungen vieler Männer anerkennen, die Art, wie sie lieben, von der Macht des Kapitalismus und des Patriarchats freizuhalten.

 

1Illouz, Eva: Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2012. S. 259.

Revolution: Neue Metapher entdeckt

Wer sich wundert, warum es Angela Merkel nicht hinkriegt, unsere Probleme zu lösen, und stattdessen lieber mit dem kasachischen Diktator Nursutlan Nasarbajew über Öl-Importe aus Kasachstan verhandelt, wird mit Gewinn diesen Text lesen, denn ich habe nach Jahren reiflicher Überlegung, bei der nur reichlich Rubbish rausgekommen ist, endlich die Metapher produziert, die das erklärt.

Und zwar, ich muss etwas ausholen, habe ich ja mit 14 das kommunistische Manifest von Karl Marx gelesen. Danach hatte ich eine grobe marxistische Idee von den Triebkräften, die die Geschichte durch Revolutionen vorwärtsbringen. Diese grobe Idee war die Folgende: Allem zugrunde liegt der Kampf zwischen denen, die Macht und Geld haben, und denen, die keins von beidem haben.

Ich bin aber nicht dumm und habe selbst gemerkt, dass das ein etwas zu schlichtes Konzept ist. Deshalb habe ich studiert und an der Uni die Feinheiten von Marx Theorie kennengelernt.

Dies sind vor allem folgende drei:

1. Revolutionen entstehen, wenn die politischen Rahmenbedingungen nicht mehr mit den wirtschaftlichen Kräften schritthalten. Zum Beispiel, wenn die Leute mit Macht nicht mehr dieselben sind, wie die Leute mit Geld. So war das jedenfalls zu Marx Lebzeiten, als die Adeligen die Macht, aber die bürgerlichen Unternehmer das Geld hatten.

2. Das Problem an der Sache ist bloß: Zu der Zeit, in der dieser Widerspruch zwischen politischen Rahmenbedingungen und wirtschaftlichen Kräften auftritt, nehmen die Leute, die davon betroffen sind, das nicht wahr. Deshalb klammerte sich der Adel an die Macht im monarchistischen Staat und die bürgerlichen Unternehmer auch. Der Kaiser war dann überfordert, weil hier zwei Gruppen von ihm ganz Unterschiedliches wollten, was er nicht beides zugleich machen konnte, und fing den 1. Weltkrieg an. Es starben 17 000 000 Menschen, Deutschland verlor und die Leute in Deutschland machten eine Revolution und schafften die Monarchie ab.

Den Grund, warum Leute zu der Zeit, in der sie leben, nicht wahrnehmen, was schiefläuft und warum es nicht funktioniert, hat Marx „Ideologie“ genannt. Seiner Meinung nach denken Leute ideologisch, weil die Gesellschaft sie zwingt, nur das wahrzunehmen, was die bestehenden Strukturen der Gesellschaft nicht gefährdet, wenn es wahrgenommen wird, und alles andere auszublenden.

Das „Ausblenden“ ist jetzt aber noch nicht die Metapher, die ich erfunden habe. Ich war irgendwie unzufrieden mit der Theorie von Marx, weil mir nicht ganz klar war, wieso ausgerechnet die Leute, die das nachgeplappert haben und sich selbst „Marxisten“ nannten, den Durchblick durch die ganze Ideologie haben sollten. Wenn die Theorie von Marx stimmt, könnten sie ja selbst, wie alle anderen auch, die Gesellschaft nicht so wahrnehmen, wie sie wirklich ist.

Jetzt wurde die DDR ab 1948 nach der Theorie von Marx geleitet, aber die Leute haben die marxistische DDR-Leitung 1989 nach Hause geschickt. Offensichtlich haben also Erich Honecker und Egon Krenz, obwohl sie Marx Theorie kannten, entweder ihre Gesellschaft falsch eingeschätzt, oder sie wollten selbst nicht mehr an der Macht bleiben. Die einen in der Leitung wahrscheinlich so, die anderen so. Vielleicht hat also Marx doch recht, und auch die Marxisten können die Gesellschaft nicht wahrnehmen, wie sie wirklich ist, weil ihre Ideologie ihnen im Wege steht, besonders dann, wenn sie die Macht haben. Das haben die Marxisten im Bezug auf die bürgerlichen Unternehmer auch schon so gesehen: Diese hätten zwar die Macht, aber sie hätten keine Ahnung, wie die Gesellschaft funktioniert, weil sie selbst der Ideologie aufgesessen seien, die ihre Macht sichert.

Falls Du Dich wunderst, warum die Marxisten nicht mit Marx übereinstimmen: Marx hat selbst gesagt « Moi, je ne suis pas marxiste» „Ich bin kein Marxist.“(https://fr.wikipedia.org/wiki/Marxisme, letzter Zugriff 2.3.2012), ) Damit hatte er Recht.

Soweit, so gut. Bleibt immer noch die Frage: Warum macht Angela Merkel Geschäfte mit dem kasachischen autoritären Präsidenten, anstatt die Solarenergie zu fördern, obwohl Marx schon vor über 150 Jahren in einem Buch, was Merkel sicher in der DDR in der Schule lesen musste, erklärt hat, dass die wirtschaftlichen Kräfte, wenn sie in Konflikt mit den politischen Rahmenbedingungen kommen, diese in einer Revolution sprengen? Zum Beispiel streicht die CDU die Förderung für die neue wirtschaftliche Kraft (Solarindustrie) und verhandelt lieber mit autoritären, undemokratisch regierenden Präsidenten, um die alte wirtschaftliche Kraft (Ölindustrie) zu schützen. Will Merkel die Revolution? Wahrscheinlich nicht, denn sie ist ja an der Macht und will das, im Gegensatz zu Köhler und Koch, wohl auch bleiben. Warum riskiert sie dann, dass die neuen wirtschaftlichen Kräfte die alten politischen Rahmenbedingungen sprengen? Jetzt kommt gleich meine neue Metapher.

3. Die wirtschaftlichen Kräfte hat Marx „Basis“ genannt, die politischen Rahmenbedingungen „Überbau“. Dazu gehören auch alle Formen, in denen Menschen „Ideologie“, verzerrte Wahrnehmung, beigebracht wird: Schule, Fernsehen, Militär, Zeitungen, Blogs… Moment! Wie will ich denn eigentlich dem geneigten Leser weismachen, was ich jetzt schreibe, sei keine Ideologie, wenn doch mein Blog auch zum Überbau gehört?

Na ja, die Metapher ist trotzdem gut. Sie geht nämlich so: Die Basis (die wirtschaftlichen Kräfte) ist die Hardware des Gesellschaftssystems, der Überbau ist das Betriebssystem und die Ideologien sind die Software. Da gibt es Programme, die heißen „ökologisch“ (steuern den Umweltschutz) oder „liberal“ (steuern den Freiheitsschutz) oder „konservativ“ (steuern den Traditionsschutz) oder „sozialistisch“ (steuern den Sozialschutz). Der Überbau, das Betriebssystem, ist in der BRD, Frankreich und den USA „Demokratie“, in Kasachstan „Autoritarismus“ und im Kongo gibt es keins. Deshalb werden da viele Leute gefoltert, weil die USA Schrottprogramme von Ideologien dahin exportieren, die sie selbst nicht zu Hause laufen lassen wollen, weil die mit dem demokratischen Betriebssystem inkompatibel sind: Evangelikale schneiden deshalb im Kongo Kindern, die anders sind als die anderen Kinder, Fleischstücke raus, weil sie glauben, da würden Dämonen drin wohnen.

Rechtgläubig marxistisch lässt sich Merkels Verhalten darauf aufbauend so erklären: Der Überbau, also das Betriebssystem unseres Gesellschaftssystems, hinkt der Basis, also der wirtschaftlichen Hardware, immer etwas hinterher. Die Demokratie wäre in diesem rechtgläubig marxistischen Bild das passende Betriebssystem für eine Basis, die noch auf fossilen Brennstoffen läuft, und die Solarenergie würde das Betriebssystem sprengen.

Jetzt bin ich aber nicht rechtgläubig marxistisch, und deshalb passt mir diese Erklärung nicht. Ich glaube nämlich, dass das Betriebssystem Demokratie auf fast jeder modernen wirtschaftlichen Basis als Hardware läuft. Ob mein und Dein Computer mit Fossil- oder Solarenergie läuft, das ist für mich als Internetblogger mit politischer Botschaft egal. Dasselbe gilt auch für die Beleuchtung im Bundestag. Jedenfalls solange, wie uns die Klimakatastrophe nicht den Stecker zieht.

Aber meine Metapher hat zusätzlichen einen Vorteil gegenüber den rechtgläubig marxistischen Erklärungen: Es gab nämlich einen Wissenschaftler, Max Weber, der im Gegensatz zu Marx meinte, nicht nur die Basis könne den Überbau zwingen, sich zu verändern, sondern der Überbau könne auch die Basis verändern. Also metaphorisch gesprochen: Nicht nur die Hardware verändere die Software, sondern die Software verändere auch die Hardware. Und genau das ist ja dann den DDR-Marxisten passiert: Wirtschaftlich, an der Basis oder in der Hardware, änderte sich wenig. Man muss nur mal die Trabimodelle von 1965 mit denen von 1985 vergleichen und schauen, wie viele Neuerungen eingebaut wurden, und sich dann noch die Skyline von Bitterfeld in den 80ern vorstellen, dann weiß man, dass die DDR-Hardware total veraltet war. Trotzdem haben die Leute eine Revolution gemacht und die marxistischen alten Knacker nach Hause geschickt. Logischerweise waren die total überrascht, weil das nach ihrer Theorie gar nicht hätte passieren dürfen.

Und jetzt kommt Weber ins Spiel: Die Leute hatten nämlich in der DDR zwar einen ziemlich miesen Überbau, mit Stasi und Überwachung, der sie zu zwingen versuchte, die Ideologie des Sozialismus anzunehmen. Aber so ganz hat das nicht geklappt, weil die Leute heimlich Westfernsehen gekuckt haben, sich Rolling-Stones-Platten auf dem Schwarzmarkt gekauft haben, in Bruchbuden auf dem Prenzlauer Berg ihre eigene Kunst gemacht haben, in die Kirche gegangen sind und außerdem Udo Lindenberg in die DDR gefahren ist, um im Sinne der Völkerverständigung Konzerte zu geben. Das Problem war, das war den DDR-Leitern klar, dass sich die Software, also die Ideologie und der Überbau, weltweit vernetzte, und deshalb das Betriebssystem nicht mehr so richtig lief. Vieles von dem Datentausch der Ideologien lief über Farbfernseher aus Japan. Die gab es in der DDR auch deshalb, weil die sozialistische DDR-Leitung selber gerne Farbfernsehen kuckte, weshalb sie mit Japan einen Deal machte. Ich wünschte, Erich Mielke und die anderen Diktatoren der DDR hätten lieber mal öfter einen bunten Abend im DDR-Fernsehen angeschaut, statt Punks in den Knast zu stecken und Leute an der Grenze erschießen zu lassen, die einfach nur weg wollten. Dann hat Mielke im Fernsehen noch behauptet: „Ich liebe euch doch alle.“ Er hat Glück gehabt, dass sie ihn nicht erschossen haben wie Ceauscescu in Rumänien.

Die Leute nutzten also einfach illegal Ideologien, Programme, die mit der sozialistischen Staatssoftware inkompatibel waren. Ich stelle mir das so ähnlich vor, wie wenn ich auf meinem Mac ein Linux-Programm installiere, das Programm mir aber wegen Inkompatibilität dauernd abschmiert und ich mich dann irgendwann entscheiden muss: Will ich das Linuxprogramm weiter benutzen oder das Mac-Betriebssystem? Da den Leuten der beschränkte Horizont des sozialistischen Betriebssystems auf den Sack ging und sie nach dem dritten Ungarn-Urlaub die Schnauze voll hatten und auch mal woanders hinfahren wollten, haben sie sich für die Westsoftware entschieden und das Betriebssystem neu installiert.

So, und jetzt erkläre ich mit meiner Metapher mal das Problem mit Merkel. Merkel hat ja bei der Neuinstallation, also der Demokratisierung Ostdeutschlands, selbst mitgemacht. Sie hat aber auch mitansehen müssen, wie die Westmächtigen die Hardware der ehemaligen DDR billig an bürgerliche Unternehmer verrammschten, nachdem „Sozialisten“ von der RAF aus dem Westen den Sozialdemokraten Detlev Karsten Rohwedder erschossen haben. Das passte jetzt auch den Gegnern dieser „Roten Armee Fraktion“ gut in den Kram, den bürgerlichen Unternehmern, weil der Rohwedder vorher mit seiner Treuhand die Verrammschungsaktion nicht hatte mitmachen wollen. Die hat dann Birgit Breuel von den „Konservativen“gemacht. Besonders viel konserviert hat sie in ihrer Funktion als Treuhand-Gesellschafts-Chefin aber nicht, viele DDR-Produktionsbetriebe wurden von ihrer eigenen Westkonkurrenz aufgekauft und die hat sie meistens lieber dichtgemacht. Die Käufe waren aber vorher von Westdeutschland staatlich subventioniert worden. So hat die CDU massenweise Staatseigentum auf Kosten der Steuerzahler reichen Privatleuten geschenkt. Breuel hat so aus der Treuhand-Gesellschaft eine Veruntreuhand-Gesellschaft gemacht.

Die DDR-Bürger_innen mussten dann leidvoll erfahren, dass ihnen ein neues Betriebssystem überhaupt nicht so viel bringt, wie die West-Ideologien ihnen weisgemacht hatten, wenn ihnen die Hardware (die Industriebetriebe und Häuser) nicht mehr gehört, auf dem sie das Ding mühsam installiert haben. Denn es ist immer noch so, wie Marx dachte: Was nützt die schönste Ideologie, wenn man keine wirtschaftliche Basis hat, um sie ausleben zu können. Das vergessen die Liberalen wie der Weber immer, weil die in der Regel aus Elternhäusern stammen, die sich Freiheit auch leisten können. Aber wenn Du arm und arbeitslos in einer Berliner Plattenbausiedlung hockst, dann macht es Dich halt wütend, dass der Außenminister mit seinen Unternehmerfreunden im Staatspalais Parties feiert und auch noch schwul ist, weil Du Dir weder die Parties noch das Schwulsein leisten kannst, weil Du als Schwuler in Berlin beim Handwerksbetrieb um die Ecke nach nem Job gar nicht erst zu fragen brauchst.

Jetzt habe ich aber immer noch die Sache mit Merkel, der Solarenergie und den fossilen Brennstoffen nicht erklärt. Ich glaube, am weitesten komme ich da mit einem linksgläubigen Marxismus. Im Unterschied zum rechtgläubigen Marxisten glaube ich nicht, dass die neue Basis von Internetfirmen, Solarenergie und Hybridantrieben irgendwann zu einer Revolution führt. Die Basis-Entwicklung ist nämlich entgegen allem Anschein in den letzten Jahren wesentlich langsamer als die Überbau-Entwicklung. Wissenschaftlich wissen wir schon jetzt sicher, dass wir mit dem fossilen System nicht mehr länger als 60 Jahre klarkommen, weil dann die Rohstoffe aufgebraucht sind und die Umweltverschmutzung zu verheerend wird. Trotzdem stellt sich die Wirtschaft viel zu langsam auf das neue, regenerative System um.

Ich glaube ja, dass Angela Merkel unbewußt noch an ihren schrecklichen DDR-Lehrer zurückdenkt, der ihr prophezeit hat, es gibt eine Revolution, wenn die Produktivkräfte sich zu schnell entwickeln, und sie will halt keine mehr mitmachen, weil ihre letzte schon so verdammt viel Arbeit und so ein Kampf war. Kann ich auch verstehen. Also hemmt sie die Produktivkraftentwicklung und kürzt der Solarenergie ihre Mittel.

Ich finde aber, wir sollten den DDR-Lehrer mal DDR-Lehrer sein lassen, uns locker machen und uns sagen: Unser Betriebssystem ist so gut, dass es auch auf neuer und besserer Hardware problemlos laufen wird. Die Demokratie kann sich das 2-Liter-Auto und 100%ige regenerative Energieversorgung erlauben, ohne dass wir Angst haben müssen, dass sie abgeschafft wird. Angst haben müssen bloß diejenigen, die im Moment noch das Geld, aber nicht mehr so richtig die Macht haben: Die Bankmanager, Industriekonzernbesitzer, Börsenmakler und Aktionäre. Ihre Ideologie ist nämlich hoffnungslos veraltet, und sie läuft auf der neuen Hardware dann auch wahrscheinlich nicht mehr. Eigentlich läuft sie schon unter unserem demokratischen Betriebssystem nicht mehr richtig gut.