The Sound of Idleness

Ich sitze hier in der Küche und lausche dem meditativen Rauschen meiner Spülmaschine und freu mirn Ast, das ich nicht an der Spüle stehen muss und das dreckige Geschirr vom Mittagessen spülen, damit meine Mitbewohnerin nicht rückwärts aus der Küche rausfällt. Und da hab ich mich gefragt: Wo und wann wurde eigentlich die Spülmaschine erfunden? Ich hatte spontan die Idee, dass man daran vielleicht sehen könnte, ob der Kapitalismus nicht doch eigentlich gut ist. Also wollte ich den Test machen: Sollte die Spülmaschine in einem sozialistischen Land erfunden worden sein oder in einem Feudalstaat, würde ich den Kapitalismus noch glühender hassen als bisher. Wäre dieser wunderbare Automat eine kapitalistische Erfindung, würde ich mein Urteil über den Kapitalismus relativieren und sagen, er ist nur teilweise schlecht.

Ich schaue also bei Wikipedia. Und bin sehr überrascht. Nicht wegen des Ursprungslandes der Geschirrspülmaschine, sondern… weil die Erfinderin eine Frau war, Josephine Cochrane. Und überrascht bin ich eigentlich auch gar nicht über diese Tatsache, sondern darüber, dass ich automatisch an einen männlichen Erfinder gedacht habe, ohne dass ich überhaupt in meinem kapitalismuskritischen Zorn darüber nachgedacht hätte, ob diese Vorstellung nicht vielleicht ein Effekt meiner profitablen Position innerhalb der männlichen Herrschaft ist. Mann!

Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Geschirrsp%C3%BClmaschine

Herta Müller in Marburg

Mein Erlebnis der Lesung von Herta Müller am 27.11.2014 in der Alten Aula der Marbuger Philipps-Universität

Ich war zuerst nicht sicher, ob ich hingehen sollte. Eine Nobelpreisträger*in liest in der förmlichen und traditionsüberlasteten Atmosphäre der Alten Aula der Marburger Philipps-Universität aus ihren Werken. Vor meinem inneren Auge figurierten die Honoratioren unseres mittelhessischen Städtchens in Abendgarderobe in dunklen Farbtönen, ein steifes und irgendwie unangenehm bleiernes Gefühl erfasste mich bei dem Gedanken. Ich ging trotzdem hin, denn ich interessiere mich für Dissidenz. Und, obwohl mein inneres Auge hinsichtlich der honorablen Atmosphäre prophetische Kompetenzen beweisen sollte (ich kam zu allem Überfluss auch noch auf einer harten, mittelalterlich anmutenden, aber vermutlich aus deutschnationalen Gründen im wilhelminischen Kaiserreich genau so geschreinerten Holzbank zum Sitzen), wurde ich von Herta Müller für die Erduldung dieser Peinlichkeiten tausendfach belohnt.

Durch ihre im Rumänien der Ceaucescu-Diktatur veröffentlichten Texte geriet sie ins Visier der Securitate, des allgegenwärtigen Geheimdienstes der sozialistischen Repressionsmaschine. Immer und überall unter Beobachtung, in Angst vor Spitzeln und politischem Mord, schrieb sie, auch in der Fabrik, in der sie arbeitete, nach ihrer Ächtung gezwungenermaßen auf der Treppe der Fabrik, bloßgestellt.

„Die Texte waren etwas, was du selbst bestimmt hast. Das war ein Stückchen richtiges Leben im falschen.“ Skurilerweise, so erzählt Herta Müller, sei die Diktatur ein gutes Umfeld für Literatur gewesen. Alle, auch die einfachen Arbeiter*innen in der Fabrik, kannten Gedichte auswendig, weil sie sie brauchten, um dem mörderischen Druck der Repression einen inneren Widerstand entgegenzusetzen. Und die Texte, die die Menschen dazu auswählten, an die sie sich erinnerten, seien gute Literatur gewesen. Die Nobelpreisträger*in erklärt das so:

„In Situationen, die Angst erzeugen, halten nur Texte stand, die dicht sind, die dich beruhigen, dich nicht täuschen.“

Als sie es schafft, nach Deutschland auszureisen, wird sie erstmal tagelang vom BND verhört. Die Landsmannschaft der Banater Schwaben in Rumänien, von Securitate-Spitzeln unterwandert, habe, so Müller, sie vermutlich beim BND als Securitate-Spionin verleumdet, und „diese Deppen haben denen geglaubt. Ich habe gedacht, die Welt ist entgleist.“

Als es schließlich um ihren rechtlichen Status in Deutschland geht, übertreffen sich die deutschen Behörden selbst. Herta Müller: „Sie haben gesagt: `Sie müssen sich schon entscheiden: Entweder sind sie Deutsche oder politisch verfolgt, beides zusammen geht nicht. Dafür haben wir keine Formulare.‘ “ Die Dichter*in antwortete: „Dann geben sie mir zwei.“

Gegen ihre Vereinnahmung als Heimatdichter*in wendet sie sich dezidiert: „Heimat braucht man nicht. Man hat einen Kleiderschrank und Freunde.“ Wie brüchig Freundschaften in einer von Spitzeln vergifteten Zeit aber sind, davon gibt ihr Text „Der Fuchs war damals schon der Jäger“ Zeugnis, aus dem sie vorträgt: Ihre einzige Freund*in in der Fabrik in Rumänien, Teresa, die sich trotz Müllers Ächtung und Isolation zu ihr zum Essen auf die Treppe der Fabrik gesetzt hat, als es noch gefährlich war, zu ihr zu stehen, besucht sie später in Deutschland. Herta Müller schöpft Verdacht, findet in Teresas Koffer ein Duplikat des Wohnungsschlüssels zu Müllers Wohnung, zusammen mit einer Telefonnummer. Sie ruft an, hört: „Rumänische Botschaft“. Sie weiß: Teresa ist vom Geheimdienst auf sie angesetzt worden. Später erfährt sie, dass Teresa zu dem Zeitpunkt auf den Tod krebskrank war, die Securitate hat ihre Verzweiflung ausgenutzt.

Müller plädiert trotz aller in ihren Worten immer mitklingenden Wut und Empörung für differenziertes Beurteilen. So sei zwar Oskar Pastior auch als Spitzel für den Geheimdienst aktiv gewesen, er sei aber in einer verletzlichen Position gewesen, weil 7 Gedichte über das russische Lager, in das er deportiert worden war, gefunden wurden und er mit Haft bedroht wurde, außerdem habe er innerhalb von 10 Jahren nur 7 harmlose Berichte an den Geheimdienst abgeliefert. Nützliche Spitzel hätten mindestens alle 2 Wochen einen Bericht geschrieben.

Abschließend ein paar Worte zu den beklemmenden Aspekten des Ortes der Lesung. Im Grußwort sagte die Präsidentin der Philipps-Universität Marburg, Krause: In diesem Saal, mit so vielen äußeren Bildern, werde es Herta Müller sicher nicht schwer fallen, auch innere Bilder hervorzurufen. Ich schaute mir daraufhin eines der Bilder, die die Wände der ehrwürdigen Alten Aula der Marburger Universität mehr bedecken als schmücken, etwas näher an. Das, unter dem ich saß, zeigt in historistischem Stil laut Bildunterschrift in Fraktur folgendes: „Friedrich II verabschiedet Deutschordensritter nach Preußen.“ Angeblich spielte sich die dargestellte Szene im 13. Jahrhundert ab. Kreuze auf dem Waffenrock zeigt das Bild nicht. Dazu muss man wissen, dass es in Marburg eine Niederlassung des Deutschritterordens gab. „Diese Aula ist einfach ein Zeugnis der Konstruktion deutschnationaler Identität“, dachte ich. Danke an den feinsinnigen und musisch interessierten Kaiser Friedrich II (den mittelalterlichen) für die frühe Akquise von Lebensraum im Osten. Dass besagter Friedrich II., obschon deutscher Kaiser, die meiste Zeit seines Lebens in Sizilien weilte und sich bei mediterranem Sonnenschein am Wein und der feinen Kultur des Mittelmeerraums mit ihren arabischen Einflüssen ergötzte, scheint den Maler des Bildes und seine universitären Auftraggeber nicht so interessiert zu haben. Die Deutschordensritter hätte ich an Friedrichs Stelle aber auch lieber nach Preußen zum Morden und Brandschatzen geschickt, statt sie auf meine Party am Gestade Siziliens einzuladen, wo sie grob die ortsansässigen Schönheiten begrapscht hätten.

Ich bin um jedes Wort froh, das Herta Müller an diesem Abend gesprochen hat. Die inneren Bilder, die sie in mir hervorgerufen hat, waren wesentlichen wahrer als die äußeren Bilder in der Alten Aula der Marburger Universität. An der Alten Aula war vor allem eines sehr wahr: Die Härte der deutschnationalen Holzbank, auf der ich saß, nur leicht gemildert von einem dünnen Sitzkissen, vermutlich während der Bildungsexpansion der 1960er und 70er Jahre angeschafft. Gerade dick genug, um Herta Müller vom ersten bis zum letzten Wort aufmerksam zuhören zu können.

Das Kapital kann nicht mehr scheues Reh spielen

Ein Kommentar zu Thomas Steinfelds Rezension des Buchs „Capital in the 21 Century“ von Thomas Piketty. („Der olle Marx“. In: Süddeutsche Zeitung Nr 92 vom 22.4.2014. S. 11.)

Die Leute streiten sich, welche Schlüsse die Politik aus der Finanzkrise ziehen soll. Man liest wieder Marx, denn der hat schließlich die Funktionsweise des Kapitalismus bereits vor 150 Jahren ziemlich minutiös analysiert. Dabei ist es nicht so schlimm, dass man Marx politische Forderungen nicht diskutiert, denn wer will heute schon noch die Diktatur des Proletariats? Es macht aber durchaus Sinn, Marx Analyse auf die Finanzkrise anzuwenden und daraus politische Schlussfolgerungen für eine Reform des Kapitalismus zu ziehen.

Pikotty schlägt solche Reformen vor, Steinfeld bezweifelt, dass sie möglich sind. In einem Punkt würde Steinfeld Pikotty zustimmen: Die extreme Ungleichverteilung von Gewinnen führt dazu, dass das Leistungsprinzip (wer viel leistet, verdient auch viel) zumindest für die Minderheit der Superreichen und die Mehrheit der Superarmen ausgehebelt ist, weil sich die Zugehörigkeit zu beiden Klassen einfach vererbt.

Pikettys Antwort auf die Ungleichverteilung von Reichtum ist sozialdemokratisch, sie lautet: Der Staat soll durch Abgaben und Steuern die Gewinne umverteilen und durch Regulation der Märkte die Krisen des Kapitalismus begrenzen. Im Prinzip ist das das alte fordistische Staatsmodell, das in den 70er Jahren unter dem Druck der Staatsschulden, die die USA für den Vietnamkrieg aufgenommen haben, und dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems stabiler Wechselkurse gescheitert ist. Seitdem haben wir einen relativ ungebremsten Siegeszug der „neoliberalen Konterrevolution“ (Hayek), die viele der Umverteilungs- und Regulationsmechanismen des keynesianischen Fordismus abgeschafft hat.

Steinfeld hat gar keine Antwort auf die Krise des Finanzkapitalismus außer einer ziemlich zynischen Schicksalsergebenheit: Er verweist einfach darauf, dass der Wettkampf der Nationen um das global sich bewegende Kapital alle Regulationsforderungen „illusorisch“ mache. Also kann man weiter FDP wählen und den Kapitalismus die nächste Krise produzieren lassen, und wenn es wieder eine durch Spekulationsgeschäfte mit Nahrungsmitteln verursachte Hungerkrise ist. Danke für diese konstruktive Position.

Gleichzeitig ist Steinfeld aber Pikottys Analyse nicht tiefgehend genug, weil Marx und die klassischen Ökonomen wenigstens versucht hätten, eine Wirtschaftsform zu erklären, während Pikotty die Ungleichheit wie ein „utopischer Sozialist des 19. Jahrhunderts“ kritisiere. Der Begriff der Ungleichheit sei aber nicht „empirisch“, sondern eine „idealistische Setzung“.

Klingt schlau, ist aber vollkommener Schwachsinn. Die Tatsache, dass in Deutschland die reichsten 10% der Bevölkerung über 66,6% aller Vermögenswerte verfügen, während die ärmsten 50% der Bevölkerung davon gerade mal 1,4% besitzen, ist ein empirischer Fakt ohne jede „idealistische Setzung“.1 Wenn wir nicht mehr schreiben können, das 66,6% aller Vermögen nicht gleich 1,4% aller Vermögen sind, dann können wir gar keine statistische Aussage über die Wirklichkeit mehr machen.

Jetzt mache ich mal das, was Steinfeld irgendwann mal über Marx hat munkeln hören: Ich erkläre mal einige Aspekte der Finanzkrise des aktuellen Kapitalismus. Zum Beispiel die Funktion genau der oben empirisch festgestellten Ungleichverteilung von Vermögen. Die Funktionsweise ist eigentlich ziemlich banal, aber ausgesprochen wirkungsvoll: 50% der Menschen in Deutschland sind nämlich mangels Vermögen gezwungen, ihre Arbeitskraft an die reichen 10% zu verkaufen, um überhaupt leben zu können. Die reichen 10% besitzen die Produktionsmittel (zum Beispiel in Form von Geldkapital, oder von Aktien) und können dadurch den Mehrwert, den die 50% durch ihre Arbeit erzeugen, als Gewinn einstreichen. Der Staat hat dabei die Funktion, die Eigentumsordnung durch Gesetze, Polizei und Justiz zu schützen, so dass den reichsten 10% ihr Eigentum an Produktionsmitteln nicht verloren geht. Aber da war doch noch der Wohlfahrtsstaat mit Sozialhilfe und so. Na ja, das erklärt sich einfach: In der Phase der Systemkonfrontation mit dem Staatssozialismus des Ostblocks konnten die kapitalistischen Staaten von der organisierten Arbeiterschaft leichter gezwungen werden, die Mehrheit ihrer Bevölkerung auch an den Gewinnen zu beteiligen, die erwirtschaftet wurden, weil es eine Systemalternative gab. Daraus sind dann der New Deal von Roosevelt und die soziale Marktwirtschaft von Erhard und Schiller entstanden.

Dafür gabs aber noch einen weiteren Grund, und der war folgender: Der Kapitalismus hat permanent Krisen erzeugt, wie die Weltwirtschaftskrise ab 1929. Der Wohlfahrtsstaat hatte auch die Funktion, eine stabile Nachfrage zu erzeugen, die allzu harte Konjunkturdellen verhindern sollte.

Seit in den 1980er Jahren langsam sichtbar wurde, dass der Staatssozialismus schwächelt, konnten sich die Neoliberalen erst in England und den USA, dann in Deutschland und jetzt in Frankreich immer besser durchsetzen und haben die staatlichen Regulationen und Umverteilungen wieder zurückgebaut.

Dadurch sind jetzt aber neue Krisen entstanden, zum Beispiel die gegenwärtige Finanzkrise. Denn die Ungleichverteilung von Reichtum wurde durch die neoliberale Deregulierung so verstärkt, dass in USA die Mehrheit der Leute so wenig verdient hat, dass keine Nachfrage mehr da war: Die Leute hatten zum Beispiel kein Geld, Häuser zu kaufen. Auf der anderen Seite des Tisches hatten wenige Vermögende so viele Gewinne angehäuft, dass sie gar nicht mehr wussten, wie sie die anlegen sollten, um ihre 10-30% Rendite zu bekommen. Denn ohne genug Nachfrage nach Produkten gibt es auch keine Möglichkeit, den klassischen Weg der Geldvermehrung zu gehen: Geld in die Produktion zum Beispiel von Häusern zu stecken, die zu verkaufen und damit mehr Geld zu verdienen, als man in den Bau reingesteckt hat. Also haben die Vermögenden folgendes gemacht: Sie haben vermittelt über die Banken den geringverdienenden Lohnarbeitenden günstig Kredite gegeben, mit denen die dann zum Beispiel Häuser gekauft haben. Es entstand eine Blase, die Nachfrage nach Häusern wurde künstlich erhöht und die Häuser waren vollkommen überbewertet. Die Kredite, die diese Überbewertung erzeugt haben, waren aber teilweise das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt waren, weil die Leute so prekäre Jobs hatten, dass die Kredite massenweise nicht bezahlt werden konnten. Die Hypothekenblase platzte und die Finanzkrise brach los. Der Staat musste die pleite gegangenen Banken stützen. Nun zahlen die Steuerzahler der die Zeche.

Was die europäischen Regierungen jetzt machen, ist auch Umverteilung, bloß umgekehrt, nämlich von unten nach oben: Sie sichern mit Steuergeldern die Gewinne der Gläubiger, von Banken, Konzernen und Privatleuten. Die Lohnsteuer ist in Deutschland immer noch der größte Beitrag zu den Staatseinnahmen. Das damit eingenommene Geld steckt die Bundesregierung in Bankenrettungen, die bis zu 480 Milliarden Euro kosten könnten.

Daraus kann ich nur einen Schluss ziehen: Die Forderung nach Umverteilung ist nicht „illusorisch“, wie Steinfeld schreibt, sondern sie ist bereits Realität. Bloß eben in umgekehrter Richtung als Pikotty fordert.

Die große Frage, die ich mir nach all dem stelle, ist aber folgende: Wäre eine Umverteilung in sozialdemokratischer Manier, wie sie Pikotty fordert, eine vielversprechende Maßnahme gegen die Krisen, die der Kapitalismus dauernd erzeugt? Also können wir wirklich auf den Kapitalismus des 21. Jahrhunderts mit Forderungen antworten, die im Prinzip auf einen Wohlfahrtsstaat hinauslaufen, der den Nationalstaaten der 1970er Jahre ähnelt?

Dafür spricht, dass man damit das Grundproblem lösen könnte, dass es zu einer extremen Anhäufung von Kapital kommt, ohne dass eine Nachfrage entstehen kann, die Marx klassischen Weg der Kapitalverwertung: Kapital (g) – Produktion – Verkauf – Kapital plus Profit (g‘) in Gang hält.

Dafür spricht auch, dass die Krise der Wohlfahrtsstaaten der 1970er Jahre vor allem eine Globalisierungskrise war, und eine weltweite Vermögenssteuer, wie sie Pikotty fordert, wäre eine internationale Antwort auf ein globales Problem und hätte schon deshalb nicht mehr dieselben Probleme wie der Keynesianismus der 1970er Jahre.

Dagegen spricht die Tatsache, dass es weltweit eine große Zahl von Staaten gibt, die eine solche Steuer nicht einführen würden, und in diese Staaten würde, insofern hat Steinfeld recht, viel Kapital auf der Suche nach mehr Rendite fließen. Deshalb ist die Forderung nach einer Finanztransaktionssteuer, wie sie attac fordert, eine unabdingbare flankierende Maßnahem zu einer Vermögenssteuer, weil man die Transaktion so besteuern kann, dass sobald einer der Handelspartner der Transaktion in einem europäischen Land oder den USA sitzt, die Steuer fällig wird. Da die wichtigsten Finanzplätze in der Welt immer noch New York und London sind, würden so die meisten Kapitalverschiebungen in ein vermögenssteuerfreies Land etwas kosten, ebenso wie der Rücktransfer in die Industrieländer. Und da der Großteil der realen Wertschöpfung nach wie vor in den Industrie- und Schwellenländern stattfindet, würde das Kapital auch nicht langfristig diese Länder vermeiden können. Außer natürlich im Falle von Nahrungsmittelspekulation, die mit der Not und dem Hunger in Entwicklungsländern Profit macht. Und wenn wir das nicht regulieren, da bin ich ganz idealistisch, dann bleibt der Kapitalismus einfach eine Wirtschaftsordnung, die die Menschenrechte mit Füßen tritt.

Für meine Begriffe sollte also als nächstes Folgendes passieren: Das TTIP der EU und der USA sollte tatsächlich abgeschlossen werden, allerdings nicht mit Deregulierungen, sondern mit Regulierungen für beide Seiten: Zum Beispiel sollte es eine auf beiden Seiten des Atlantiks erhobene Finanztransaktionssteuer auf alle Transaktionen enthalten, bei denen mindestens ein Handelspartner in den USA oder der EU sitzt. Außerdem sollte man sich auf eine gemeinsame, progressive Vermögenssteuer in beiden Wirtschaftszonen einigen.

Ich glaube nicht, dass das genügt, um zukünftige Krisen des Kapitalismus zu vermeiden. Aber vielleicht reicht es auch erst einmal, die demokratischen Staaten wieder handlungsfähiger zu machen und vielleicht nützt es einigen 100000 Familien in den USA und Europa, die dann nicht zwangsgeräumt werden. Das ist immerhin auch schon etwas.

1http://umfairteilen.de/fileadmin/download/material/Downloadmaterial/fakten_arm-reich.pdf

Spar-Trek: Machtlos im Weltfinanzraum

Ich war diese Woche bei einer Vorführung des Films „Master of the Universe“, in dem der Ex-Investmentbanker Rainer Voss von der Bankenwelt erzählt. Rainer Voss war auch da und hat unsere Fragen beantwortet. Es ist wohl so, dass der Banker-Job das Gefühl erzeugt, man sei Captn Jean-Luc Picard auf der Brücke des Raumschiffs Enterprise und sei allmächtig. Mir geht es da anders: Ich hab das Gefühl, wenn ich „Energie“ sage, passiert irgendwie leider gar nichts.

Zum Beispiel bin ich nach den Bürgerrechtsverletzungen durch die hessische Polizei letztes Jahr bei den Blockupy-Protesten in die Grünen eingetreten, um die CDU-Landesregierung zu stürzen, deren Innenminister Rhein den Polizei-Pfeffersprayeinsatz gegen friedliche Demonstrierende zu verantworten hat. Im Wahlkampf letztes Jahr hat dann meine Freundin Angela Dorn gemailt, ob ich vielleicht Zeit hätte, mit ihr für ein Portrait im HR durch die hessischen Wälder zu wandern, dabei gefilmt zu werden und damit sozusagen mein Gesicht für den Grünen-Wahlkampf herzugeben. Klar, mach ich, hab ich geantwortet – und bin nach sechs Stunden Unterricht geben in das Grünen-Wahlkampfauto gesprungen, wofür mich meine linken Freund*innen schon verachtet hätten, hätten sie es gesehen, und bin in Haina durch den Wald gelaufen und hab versucht, publikumswirksam zu lächeln, während so ein Kamerateam um uns rum lief.

Jetzt ist mein Plan irgendwie nicht so richtig aufgegangen – weil meine Freundin Angela und die anderen in der Grünenspitze sich überlegt haben, mit Bouffiers und Rheins CDU eine Koalition zu machen. Ihr Verständnis von „Hessen wechselt“ scheint zu sein, zwei Grüne zu Minister*innen zu machen und zu Sparzwecken 1800 Stellen zu streichen.

Das mit dem Sparen ist jetzt besonders witzig, weil Rainer Voss, der Ex-Banker, auf meine Frage nach seiner Meinung über die Finanzpolitik Deutschlands gesagt hat: Das Sparen sei totaler Quatsch, es gäbe so viele sinnvolle Investitionen, die nötig seien, zum Beispiel in Schulen und Unis, dafür solle der Staat ruhig Schulden aufnehmen, denn das bringe Rendite in der Zukunft. Das stimmt jetzt nicht so ganz, weil der Staat nicht wie ein Unternehmen funktioniert und die fertig ausgebildeten Schüler*innen nicht meistbietend an die Wirtschaft weiterverkaufen kann, aber Voss hat trotzdem Recht, weil ohne Bildung langfristig unsere Gesellschaft keine ZUkunft hat. Ich bin ja auch in die Grünen eingetreten, weil die so ehrlich waren, Steuererhöhungen zu fordern – damit kann man dann locker die nötigen Investitionen in Bildung und Forschung investieren, die uns fit für die Zukunft machen, habe ich gedacht. In unserer Schule haben wir über 1000 Schüler*innen – und zwei Computerräume mit insgesamt vielleicht 30 Rechnern. Wenn man bedenkt, dass heute eine der wichtigsten Kompetenzen ist, wo ich mir wie die wichtigen und verlässlichen Informationen zu einem Thema beschaffe, ist das eine ziemlich vertrackte Situation. Ich denke jetzt immer an meine Freundin Angela, wenn ich mich in das Buchungssystem meiner Schule einlogge und feststelle, dass ich mit meinen Schüler*innen wieder mal keine Internetrecherche machen kann, weil die Computerräume alle ausgebucht sind.

Mein philosophischer Freund Daniel arbeitet an der Marburger Uni. Da hat er es insofern schonmal besser, weil er ein Büro hat – während in unserer Schule an Büros für Lehrer*innen gar nicht zu denken ist, wir können froh sein, wenn wir im Lehrerzimmer sitzen können, weil es mehr als doppelt so viele Lehrer*innen wie Plätze gibt. Ein Umbau ist bei der Stadt Marburg beantragt. Ältere Kolleg*innen rechnen aber nicht damit, dass sie den Umbau noch erleben. Die Stadt Marburg spart Zinsen, indem sie die Genehmigung noch ein paar Jährchen hinauszögert.

Meine Situation hat sich durch die Solidarität einer Kolleg*in aber schon mächtig verbessert, weil sie mir jetzt die Hälfte eines Faches im Lehrerzimmer (40 mal 40 cm Grundfläche) überlassen hat, in dem ich wenigstens ein paar Bücher lagern kann. Danke, Hessen! Bildung rules.

Daniel hat in der Marburger Uni aber auch zu kämpfen: Am Institut für Philosophie gibts 3 Professor*innen für 900 Studierende. Alle Versuche, das hessische Ministerium zur Bereitstellung weiterer Mittel zu bewegen, scheiterten bisher.

So. Zurück zum Thema. Also während die Investmentbanker sich anscheinend fühlen, als seien sie Commander auf der Brücke von Raumschiff Enterprise, fühl ich mich eher wie ein Maschinist, der mit seinem Kumpel Daniel La Forge und vielen anderen die ganze Zeit versucht, den vollkommen überalterten Warp-Antrieb, der fast auseinanderfällt, durch ständiges Schrauben, Einbauen von minderwertigen Ersatzteilen und jeder Menge Fußtritte auf den Photonenbeschleuniger am Laufen zu halten. Jedes Mal, wenn so ein Banker „Energie“ sagt, droht der Warp-Antrieb vollends auseinander zu fliegen.

Zum Glück sitzen ja auf der Brücke außer den Banker-Commanders noch Captn Jean-Luc Bouffier und seine Nummer eins, Wirtschaftsminister Riker Al-Wazir. Sie sind die Hauptfiguren in unserer Lieblingsserie Spar-Trek. Sie wissen, wo’s langgeht. Und wenn sie sagen: „Energie“, dann heißt das auch Energie, scheißegal, wie lange der Warp-Antrieb nicht grundsaniert wurde. Das Problem ist: Ich als Maschinist muss leider sagen, dass ich glaube, dass unserer guten alten Enterprise demnächst irgendwo im Andromedanebel der Photonenbeschleuniger kollabiert, dabei Decks 27-29 explodieren und wir manövrierunfähig auf einem gottverlassenen Planeten notlanden müssen.

Aber wir können ja zum Glück einfach umschalten. Auf den anderen Programmen läuft auch spannendes Zeug: Spar-Wars 7: Griechenland und die Troika oder wie ich zu meiner Blinddarm-OP mein Skalpell selber mitbringen musste, weil das Krankenhaus in Thessaloniki pleite war – geiler Streifen. Oder der hier: 2011 – Odyssee im Weltfinanzraum – oder wie die Bundesregierung mit Milliardenhilfen Pleitebanken rettete, die auf den internationalen Finanzmärkten irgendwie die Orientierung verloren hatten.

Nachdem mein politisches Engagement, meine Teilnahme an der Demonstration „Banken in die Schranken“ 2011, mein Kreuz bei Nein beim hessischen Referendum zur Schuldenbremse 2011, meine Teilnahme bei Blockupy 2012 und 2013, meine Arbeit bei attac und meine Hilfe beim Grünen-Wahlkampf 2013 irgendwie das Gefühl hinterließen, dass die Macht nicht mit mir ist, bleibt mir nur noch die Fernbedienung meines DVD-Players. Da entscheide ich noch selbst. Ich glaub, heute schau ich mir den neuen Sparminator an, Untertitel: „Billiger Strom jetzt – Braunkohleengel Gabriel gegen die verrückten Ökos.“

Deutschland als Führungsmacht – na dann gute Nacht!

Deutschland als Führungsmacht – na dann gute Nacht

Gustav Seibt suhlt sich heute in der SZ in der Teutonistan-Anbiederei von Angelo Bolaffi – Deutschland soll jetzt der erfolgreiche Kompromiss aus allen europäischen Extremen sein. Die Briten seien zu laissez-faire und die Franzosen zu „abstrakt“ (was immer damit gemeint sein soll), die Italiener zu korrupt und vermachtet und überhaupt biete sich ja nur der „konsensuale“ rheinische Kapitalismus als Modell für einen europäischen Sozialstaat an, verlässlich, ja, aber bitte nicht zu teuer.
Also mich hat über den hochgelobten „rheinischen Kapitalismus“ niemand befragt, sonst hätte ich denen schön was erzählt, ein System der Ausbeutung bekommt meine Stimme nicht, aber das gute Stück aus der rhetorischen Trickkiste von Adenauers CDU ist halt auch nie abgestimmt worden. Dass wir Deutschen keinen Generalstreik machen dürfen, ist so ein schönes Element dieses ach so konsensualen, sozialen und freiheitlichen deutschen Kapitalismusmodells, die Franzosen machen von ihrem Recht auf Generalstreik alle Naslang Gebrauch, wenn ihnen die Politik ihrer Regierung nicht passt, zuletzt 2009 gegen Sarkozys Sparpolitik. Aber weil wir ja so frei sind in Deutschland, sind wir halt bloß etwas überrascht, wenn Schröder seine Agenda 2010 durchboxt, und können ja auch bis zur nächsten Wahl dann mangels Generalstreikmöglichkeit nicht wirklich unsere Regierung zur Raison bringen.
Ich weiß nicht, welche Bücher Gustav Seibt so in seinem stillen Kämmerlein liest, aber wenn ich den Begriff Führungsmacht höre, dann muss ich kotzen, und wenn es schon aus mir unerfindlichen Gründen in Europa eine geben muss, dann bitte, bitte eine, in der die Bürger ihrer Regierung jederzeit zur Vernunft bringen können, wie in Frankreich, und nicht die BRD, die sich in ihrer vielgepriesenen Liberalität nicht zu schade ist, oppositionelle Parlamentarier auf einer gerichtlich genehmigten Demonstration in Frankfurt am Main in einem Polizeikessel ihrer Freiheit zu berauben und auch bei Vorzeigen des Parlamentarierausweises nicht aus dem Kessel zu lassen.

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass wir Europäer überhaupt keine Führungsmacht brauchen, weil wir in Europa Institutionen wie das europäische Parlament und den europäischen Gerichtshof haben, die schon Entscheidungen für Europa fällen. Die sollen gestärkt werden. Jede Nation dagegen, die sich als „Führungsmacht“ in Stellung bringt, verletzt den europäischen Gedanken und gehört ganz ordentlich zurechtgestutzt. Ich habe langsam den Eindruck, die Deutschen werden wegen ihrer aus allen Nähten platzenden Bankkonten gerade größenwahnsinnig und vergessen ihre gute Kinderstube. Ich habe eine Nachricht für uns: Nur weil einer mehr bezahlt als andere, darf er in einer Demokratie noch lange nicht für alle entscheiden.

Frankfurt, Blockupy 2012 – mein Leben und die anderen

Bislang unveröffentlichter Artikel vom 24.6.2012

Ach, was waren das noch für schöne Zeiten, als die Welt sich im Titanenkampf zwischen Kommunismus und Demokratie befand. Irgendwie war alles so klar und eindeutig.

Heute lese ich in der Süddeutschen, wie Erwin Strittmatter sich in der DDR angepasst und doch nicht angepasst hat. Gelitten habe er unter dem „Kleinbürgerdiktator“ Ulbricht und seine Funktionärsrolle im Schriftstellerverband nur widerwillig gespielt. Ein ähnliches Leiden und doch Mitarbeiten wird über Brigitte Reimann berichtet in dem von Ina Merkel herausgegebenen Band „Das Kollektiv bin ich“. Reimann, auch sie Schriftsteller_in, identifizierte sich mit der sozialistischen Idee und lag trotzdem mit der Realität der DDR ständig im Clinch. Bertolt Brecht, der seine letzten Lebensjahre in der DDR fristete und sich schonmal beschwerte, weil seine staatlich zugeteilte Bierration für die kreative Schöpfungstätigkeit zu klein sei, hat zu den Volksaufständen am 17. Juni 1953 in der DDR geschrieben: „Wäre es unter diesen Umständen nicht besser, die Partei löste das Volk auf und wählte ein neues?“ Volker Braun, auch er Kommunist, nannte einen Gedichtband „Training des aufrechten Ganges“. Auch ihm fiel derselbe in der DDR nicht leicht. In meiner persönlichen Zeitgeschichte versammeln sich Schreiber_innen, die sich ständig im Spagat zwischen ihrem kommunistischen und kritischen Idealismus und dem gängelnden Alltag der DDR-Bürokratie befanden. Soweit, so klar. Es ist nur auch interessant, wie jetzt in der Geschichtsschreibung der liberalen Presse über die Schriftsteller berichtet wird, die, obwohl Kommunisten, sich mit der DDR nicht vollends identifizieren konnten und wollten, obwohl oder gerade weil sie dort lebten. Ich will die Einstellung, die die liberalen Schreiber gegenüber Kommunisten wie Brecht einnehmen, einmal als geprägt vom „Das- Leben-der-anderen-Schema“ beschreiben. Die werte Leser_in erinnere sich an den gleichnamigen Film, in dem gezeigt wird, wie ein Schriftsteller von der Stasi zugrundegerichtet wird. Das Schema des Filmes ist einfach: Der kritische Freidenker wehrt sich mit seinen literarischen Waffen gegen die Unterdrückung durch den DDR-Staatsapparat und gerät unter dessen Stasi-Räder. Freiheit gegen Zwang, Zwang gewinnt, zum Glück gewinnt am späten Ende, im Jahr 1989, wie der Zuschauer weiß, dann doch noch das Gute. Wir gehen kathartisch gereinigt aus dem Kino und wissen: Es war gut, dass die DDR abgeschafft wurde. Für dieses Schema sind Menschen wie Strittmatter, Braun, Brecht und Reimann ein Problem. Sie haben die DDR gestützt, obwohl sie unter der Repression gelitten haben, die durch dieses System ausgeübt wurde. Sie haben die DDR nicht verlassen, obwohl sie einen ständigen Seiltanz zwischen Kritik und Anpassung vollziehen mussten. Diese Lebensläufe und ihre Dokumente legen der Leser_in nahe: In der DDR kann nicht restlos alles schlecht gewesen sein. Da diese Erkenntnis aber nicht ins „Das-Leben-der-anderen-Schema“ passt, muss uminterpretiert werden. Nicht die Strahlkraft der kommunistischen Idee war gut, sondern des Kommunisten Brechts gute Seiten waren zu schwach, um sich gegen den sozialistischen Staat zu entscheiden. Brigitte Reimann hat lange in der sozialistischen Musterstadt Hoyerswerda gelebt und gelitten, weil die sozialistischen Planer keine Freiräume für kulturelles Leben in ihrer Reißbrettstadt eingeplant hatten. 1991, kurz nach der Wende, wurde Hoyerswerda zum Symbol für sinnlose Gewalt gegen Ausländer_innen. Ostdeutsche Neonazis warfen Molotow-Cocktails auf ein Heim für Vertragsarbeiter_innen aus Vietnam. Damals konnte die deutsche Polizei diese Verbrechen nicht verhindern. Vor Kurzem wurde bekannt, dass Ermittler im Zuge der NSU-Mordserie-Ermittlungen ein Medium aufsuchten, um Kontakt zu einem der Ermordeten aufzunehmen. Während in Dresden die Polizei illegalerweise systematisch alle Telefondaten der Teilnehmer_innen einer Anti-Nazi-Demonstration erfasst, halten Polizisten bei der Suche nach Mörder_innen an Ausländer_innen Seancen ab. Der siegreiche Kapitalismus hat, das zeigen Hoyerswerda und die NSU-Morde, seine Schattenseiten. In Spanien sind 50 % aller Jugendlichen ohne Job, die Hypothekenblase in den USA ist auf Kosten der Mittel- und Unterschicht geplatzt. Die Einkommensunterschiede zwischen arm und reich nehmen selbst im boomenden Deutschland stetig zu. Die Finanzkrise zeigt, dass weder Politik- noch Wirtschaftseliten der westlichen Länder langfristig tragfähige Lösungen für die Krisen des Kapitalismus parat haben. Der Kapitalismus beherrscht die westliche Welt, und dennoch geht es unserer Welt nicht gut. Antonio Gramsci, der italienische Kommunist, definierte Herrschaft als „Hegemonie, gepanzert mit Zwang“. Hegemonie des Kapitalismus bedeutet: In der Süddeutschen werden Geschichten über Schriftsteller erzählt, denen es in der DDR schlecht ging. Zwang bedeutet: In Frankfurt werden bei den Blockupy-Protesten gegen die Troika aus Europäischer Kommission, IWF und EZB, die Südeuropa in die Depression stürzt, mehrere tausend Polizist_innen in Stellung gebracht gegen tausend friedliche Demonstrant_innen. Sicher: Die Situation war kritisch. Als 20 Demonstrant_innen in weißen Gewändern und langen schwarzen Perücken vor dem Frankfurter Römer ein satirisches Lied auf die Finanzkrise sangen, dachte ich auch für einen Moment, dass sie gleich die Regierung stürzen und die Demokratie abschaffen. Ich war regelrecht erleichtert, als endlich 50 Polizist_innen mit Helmen, Schilden und Schlagstöcken aufmarschierten, um ein kritisches Transparent vom Römer wieder abzureißen und so die Demokratie im letzten Moment zu retten. Ich könnte mir vorstellen, dass die Polizist_innen in Frankfurt vorher zu Schulungszwecken gezwungen wurden, „Das Leben der anderen“ zu schauen. Leute wie ich wollten, so wurde ihnen wahrscheinlich suggeriert, dem Kommunismus doch noch zum Sieg verhelfen. Jetzt ist es so, dass ich die Geschichten über Brecht, Braun, Reimann und Strittmatter doch so abschreckend finde, dass ich mir die Stasi nicht zurückwünsche. Trotzdem möchte ich öffentlich zeigen, dass ich den Kapitalismus, weil er Profite systematisch über Menschen stellt, für eine strukturell undemokratische Wirtschaftsordnung halte. Damit werde ich zum Problem: Ich passe irgendwie nicht ins „Das-Leben-der-anderen-Schema“. Ich bin weder Stasi-Kommunist noch verfolgter Freidenker. Ich kann diesen Blog schreiben und vor dem Römer Straßenmusik während einer Demonstration gegen den Kapitalismus machen und muss mich nicht vor dem Verfassungsschutz rechtfertigen oder meinen Computer in einem Geheimfach im Fußboden verstecken. Ich denke, die Stasi und die Kommunismus-Variante der DDR sind der kleinste gemeinsame Feind, auf den sich die miteinander im Clinch liegenden Eliten der Republik einigen können und auf den sie rituell einschlagen, um sich zu erklären, dass sie trotz Neonazis, Massenarbeitslosigkeit, niedrigen Löhnen, politischer und wirtschaftlicher Grabenkämpfe, Unterdrückung linker Demonstrant_innen und Schuldenkrise zurecht an der Macht sind. Ich habe eine Nachricht für die Eliten: Der Kapitalismus hat gewonnen. Sie können aufhören, auf den Kommunismus einzuschlagen. Dann bekommen sie vielleicht das Blickfeld frei, um zu prüfen, ob im Kapitalismus Menschen in Würde, das heißt frei, gleich und solidarisch, zusammenleben können. Meine Erlebnisse in Frankfurt haben da gewisse Zweifel gesät.

Mit Pfefferspray gegen Care-Demonstrant_in

Das folgende Interview habe ich mit einer Mitdemonstrant_in geführt, die ich am 1.6.2013 auf der Blockupy Demonstration in Frankfurt a.M. getroffen habe. Auf eigenen Wunsch bleibt die Demonstrant_in anonym.
Utopolitan: Wir haben uns das erste Mal auf der Blockupy-Demonstration getroffen. Wofür wolltest Du dort demonstrieren?
Ich wollte eigentlich im „Care“-Block demonstrieren, leider hatten wir den Block gerade zu dem Zeitpunkt erreicht, als die Demonstration von der Polizei gestoppt worden war. Ich wollte für eine feministische Perspektive in der Blockupy-Bewegung und in der linken Kapitalismuskritik demonstrieren. Es geht mir darum, dass die mit der „Finanz-Krise“ verbundene Krise der sozialen Reproduktionsverhältnisse, die sich im Bereich von Care-Arbeit zeigt, thematisiert wird. Es geht mir dabei um das Aufzeigen der Verschränkung der vielfachen Machtmechanismen in der Care-Arbeit und darum, dass es in der Diskussion um die Bewältigung der Finanzkrise nachrangig um die Bedürfnisse der Menschen geht und dass dies eine Perspektive zeigt, die auch in Nicht-Krisen-Situationen des Kapitalismus herrscht. Es geht um die Achtung der Care-Arbeit an sich, aber auch darum, dass den Bedürfnissen der Menschen generell mehr Bedeutung und Beachtung geschenkt wird und deren Missachtung nicht als nichtintendierte Nebenfolge des kapitalistischen Systems zu verstehen ist, sondern als politisch grundsätzliche Frage. Für mich geht es dabei um das Recht aller Menschen, ein Leben zu führen, in dem die vielfältigen und vielseitigen Bedürfnisse Platz und Raum haben.
Utopolitan: Du warst sehr aufgewühlt, als ich Dich nachmittags beim
Verdi-Lautsprecherwagen traf. Was war passiert?
Wir warteten die ganze Zeit auf der Höhe des „Care-Blocks“ darauf, dass die Demonstration weiterging. Wir standen mit einigen anderen wartenden Leuten in einem Durchgang zwischen dem hinteren Teil des Gebäudes der Oper Frankfurt und einem kleinen Park. In der Mitte des Durchgangs stand ein weißer Kombi der Polizei, auf dessen Dach eine Kamera montiert war, die sich drehte und während der gesamten Wartezeit offenbar die Umstehenden filmte. Die Leute im Demonstrationszug auf der Hofstrasse standen einige Meter von uns entfernt. Der Durchgang zum vorderen Teil der Oper war durch Zäune, die die Polizei dort angebracht hatte und dahinterstehenden PolizistInnen abgeriegelt.
Wir warteten an der beschriebenen Stelle ca. 2 Stunden, in denen wir immer wieder versuchten, herauszufinden, wieso die Demo überhaupt gestoppt worden war, jedoch verstanden wir weder die Durchsagen von den Lautsprecherwagen, noch konnten PolizistInnen uns eine plausible Auskunft geben. Um ca. 15 Uhr hatten sich an dem Durchgang mehrere Leute angesammelt, die alle wissen wollten, wie es mit der Demo weiterginge, unter anderem waren darunter drei ältere Menschen, die in meiner direkten Nähe standen; dann flog auf den erwähnten weißen Kombi der Polizei ein roter Farbbeutel. Zum gleichen Zeitpunkt hatten sich hinter der erwähnten Polizeiabsperrung ca. 15 PolizistInnen in einer Reihe versammelt. Ich stand bestimmt drei Meter von den PolizistInnen entfernt, als ich bemerkte, wie diese sich ohne Ankündigung in Bewegung setzten und die Leute in meiner Nähe anfingen, sich hektisch zu bewegen.  Ich duckte mich und wollte nur noch aus der Menge herauskommen, einige der DemonstrantInnen schrien und dann spürte ich auf einmal etwas Nasses auf meinem Gesicht. Meine rechte Gesichtshälfte und meine beiden Augen begannen fürchterlich zu brennen, weil mir über die anderen Menschen hinweg Pfefferspray ins Gesicht gesprüht worden war. Mein Freund zog mich aus der Menge heraus und ich versuchte, meine Augen und meine geschwollene Haut vom Pfefferspray zu reinigen.
Utopolitan: Es gibt die Meinung, dass die Polizei zurecht präventiv
gewaltbereite Demonstrierende gekesselt habe. Was meinst Du nach Deinen Beobachtungen dazu?
Was ich gesehen hatte, war eine Rakete gewesen, die aus dem Demonstrationszug abgefeuert worden war, außerdem hatte ich einen Busch gesehen, der qualmte und der von der Polizei mit einem Feuerlöscher gelöscht wurde. Meiner Meinung nach waren diese Taten kein Grund, die ganze Demonstration zu stoppen, weil es meiner Meinung nach eine politische Auslegung ist, diese Taten als gewaltbereit auszulegen oder nicht. Aus diesem Grund meine ich, dass die Interpretation und Beurteilung dieser Taten als „Bedrohung“ ein Anlass war, der gesucht wurde, um die Demonstration stoppen zu können und ein Versuch, die Bewegung und alle Teilnehmenden zu kriminalisieren.
Utopolitan: Wirst Du wieder Demonstrieren gehen und wenn ja, was wird anders sein?
Ja, ich werde auf jeden Fall und immer wieder demonstrieren gehen, weil das ein grundlegendes Recht ist. Allerdings habe ich bei dieser Demonstration zum ersten Mal in meinem Leben erlebt, wie ausgeliefert und zu unrecht man behandelt werden kann.
Es war für mich ein Schock zu merken, dass die Polizei als Vertreterin der staatlichen Macht mich körperlich angreifen kann, es in Kauf nimmt, mich zu verletzen, obwohl ich nichts getan hatte, sondern einfach an dem Durchgang gestanden hatte.
Für mich stellt sich nach diesem Erlebnis die Frage, inwiefern innerhalb der Polizei und bei den Polizeikräften die Macht und Gewalt, die ihnen verliehen wurde, reflektiert wird und es hat mir gezeigt, dass menschliche Kollateralschäden für offenbar politische Zwecke in Kauf genommen werden. Ich werde sicher nicht mehr darauf vertrauen, dass Polizeikräfte mich ausschliesslich schützen, sondern bin mir jetzt bewusst, dass sie meine körperliche Unversehrtheit verletzen können, ohne dass ich mich wehren kann.
Utopolitan: Danke für das Interview.