Der Rat für heute: Misstraue Ratgebern

Ich lese gerade den psychologischen Ratgeber: „Der Glücks-Faktor – Warum Optimisten länger leben“ von Seligman. Darin gibts eine Reihe nützlicher Tests und Tipps, wie man glücklicher leben kann. Doch dann dachte ich über den Titel des Buches nach: Warum soll ich eigentlich länger leben wollen, wenn sowieso alles immer schlechter wird?

 

Heideggers Kritik am „man“ kann man widerlegen

Ich habe gestern über ein Kurzrefereat meiner philosophischen Freundin Hannah nachgedacht, in dem sie mir vor ein paar Jahren Heideggers Kritik an dem Wort „man“ erklärt hat. Anscheinend meinte Heidegger, dass sich Einzelne, wenn sie es benutzen, in eine „Anonymität“ einer Masse von Menschen zurückziehen.

Nun heißt ja „Anonymität“ wörtlich übersetzt so etwas wie „Ohne-Namen-Sein“, das bedeutet, wer etwas anonym tut, will, dass niemand ihn ansprechen, identifizieren, kritisieren kann. Deshalb sind anonyme Taten klassischerweise Taten, die sich gegen herrschende Gewalten richten. Wer genug Machtmittel hat, seinen Willen gegen den anderer durchzusetzen, kann das schließlich auch problemlos öffentlich tun. Deshalb ist es auch wohlfeil, aus einer Machtposition heraus Menschen für ihre anonymen Taten zu kritisieren. Heidegger hatte vor dem Hintergrund der Tatsache, dass er Nazi war, vielleicht auch mehr als nur philosophische Gründe, die „Anonymität“ zu kritisieren.

Transhumanismus – eine alte Idee jetzt noch dümmer

Transhumanisten wollen den Menschen mit technischen Mitteln vervollkommnen. Die Kritik, Transhumanismus gleiche dem Übermenschenkonzept der Nazis, versucht Natasha Vita-More von De:Trans mit folgendem Argument abzuwehren:

„Wir sollten uns aber nicht von den Fehlern der Vergangenheit leiten lassen.“

(SZ vom 8./9. 6. 2013, S. 18)

http://www.sueddeutsche.de/wissen/verbesserte-menschen-die-vielleicht-gefaehrlichste-idee-der-welt-1.1691220-2

Moment mal. Lesen wir diesen Satz vielleicht nochmal zum Mitschreiben:

„Wir sollten uns aber nicht von den Fehlern der Vergangenheit leiten lassen.“

Man soll also nicht aus Erfahrungen lernen. Für die Selbst-Vervollkommnung des Menschen ist das ein wirklich überzeugendes Programm.

Ich habe in meinem Leben echt schon viele Fehler gemacht, wahrscheinlich die meisten wirklich schwerwiegenden in Liebesbeziehungen. Zum Beispiel dieses Fremdknutschen.

Nach Vita-More und den Transhumanisten sollte ich aber nicht verzagen, geschweige denn mein Verhalten ändern, sondern einfach ein paar Neuro-Enhancer Pillen einwerfen, die mich glücklich und aktiv machen. Dann kann ich fröhlich weiter fremdknutschen, und dazu noch davon überzeugt sein, dass ich ein optimalerer Mensch bin als die Frau, die mich zurecht verlassen hat.

Stell Dir dieses Verhalten mal als Massenphänomen vor: Eine Gesellschaft von Fremdknutschern, die sich fantastisch finden. Na herzlichen Glückwunsch. in 2 Monaten wäre alles zusammengebrochen, Mord, Totschlag, Eifersucht, Einsamkeit.

Und weil es so schön war:

„Wir sollten uns aber nicht von den Fehlern der Vergangenheit leiten lassen.“

(Natasha Vita-More von De:Trans)

Eure Rationormativität macht mir Angst

Ich habe mir von einer Freundin das Buch „Mystik und Widerstand“ von Dorothee Sölle ausgeliehen. Darin schreibt sie von der mystischen Praxis vieler Menschen, in der sie sich mit Gott vereinen und daraus die Kraft schöpfen, einer feindlichen Gesellschaft Widerstand entgegenzusetzen.

 

Jetzt ist das deswegen bemerkenswert, weil ich ja Philosophie und Politikwissenschaften studiert habe und deshalb sozusagen aus professionellen Gründen überzeugter Religionsgegner bin – zu meinem soziokulturellen Habitus gehören der Atheismus und eine skeptisch-vernichtende Haltung zur Religion frei nach Voltaire wie das Lila zur Milkakuh. Religion ist aus dieser meiner Sichtweise so etwas wie die rosa Brille, die sich alle aufsetzen, die zwar merken, wie beschissen die Welt ist, aber daran nichts ändern können oder wollen.

 

Trotzdem hatte ich kaum ein paar Seiten in dem Sölle-Buch gelesen, da habe ich plötzlich angefangen, Rotz und Wasser zu heulen – weil ich so unglaublich froh, erleichtert und gleichzeitig traurig war darüber, dass ich jemanden gefunden habe, der mir erklärt, wieso ich trotz des ganzen von Marx, Voltaire und meinen anderen Helden des geschriebenen Wortes gelernten Skeptizismus immer noch meditiere und in Kirchen so ein seltsames schönes, erhabenes Gefühl kriege, das sich auch nicht verkrümelt, wenn ich mir die tausenden Frondienstleistenden vorstelle, die die Bischöfe zum Steineschleppen gezwungen haben, um diese heiligen Hallen zu bauen.

 

Ja ja, ich weiß, die Kritik der Religion ist der Anfang jeder Kritik und so weiter, aber wisst ihr was: Ich pfeif auf die Kritik! Dorothee Sölle schreibt mir, dass wir Menschen auch innere Kraftquellen brauchen, um dieser sozialen Wirklichkeit nicht zu unterliegen, und ganz ehrlich: Ich glaube nicht, dass unser Verstand mit allen seinen kritischen Kräften dazu ausreicht. Da können wir alle drei Kritiken von Kant dreißigmal lesen, dass wir Angst haben, unseren Job zu verlieren, wenn wir streiken, können wir dann zwar gut beurteilen, es ist nämlich schlecht, aber der Mut, dagegen etwas zu tun, fließt uns bestimmt nicht bloß aus der Urteilskraft zu.

 

Mit das Beste am Verstand ist aber, dass er ständig neue Wörter lernen kann – ich habe zum Beispiel erst vor kurzem das Wort Heteronormativität gelernt. Damit meinen meine linken Freund_innen glaube ich die Einstellung vieler Menschen, Heterosexualität sei die „richtige“ Form von Sexualität und alle anderen Formen von Sexualität seien irgendwie abweichend, fremd und falsch.

 

Ich habe heute morgen beim Meditieren ein Wort gefunden, das ziemlich gut ausdrückt, warum ich bei der Sache mit der Religion so durcheinander bin – das Wort ist „Rationormativität“. Ich glaube, ich war so aufgewühlt, als ich das Buch von Dorothee Sölle las, weil es mich aus einem Denken befreit hat, das ich in der Schule und in der Uni, in meinem Elternhaus und in meiner linken Subkultur, die sich so viel auf ihre Freiheitsorientierung einbildet, aufgezwungen bekommen habe – das Denken, dass es richtig ist, die Welt mit dem Verstand zu begreifen und nach rationalen Erwägungen zu handeln und dass Emotionen, Gefühle, Phantasie und alle anderen inneren Quellen irgendwie „komisch“ „abweichend“, „falsch“ sind, irrational eben.

 

Jahrelang habe ich hart gearbeitet, um in Uniseminaren meine Gefühle unterdrücken und mich „auf die Sache“ konzentrieren zu können – bis ich selbst im Freundeskreis ständig in anstrengende Diskussionen über die richtige und falsche Kritik geraten bin.

 

Ich habe jetzt keine Lust mehr darauf und will diese ganze rationormative Blase nicht mehr mit aufpusten. Deshalb muss ich jetzt nicht gleich emotionormativ werden und Kant wegen seiner Elogen auf den preußischen König Friedrich den II., diesen Schlächter und Peiniger, wütend über die Jahrhunderte hinweg einen Vollidioten schimpfen. Oder vielleicht doch?  Vielleicht erklärt das Wort Rationormativität ganz gut, warum selbst ein so kritischer und verständiger Mensch wie Kant in Friedrich dem II. eben bloß den Aufklärer gesehen hat und nicht den gewalttätigen Unterdrücker.

Mein Fahrrad, Heidegger und die Unverständlichkeit der Welt

Ich radelte heute zur Post und dachte dabei über mein Fahrrad nach. Ich fragte mich, wer es wohl zusammengeschraubt hat (es ist so ein Hollandrad aus den 70ern), und wo die Teile herkommen und wer das Eisenerz geschürft und den Stahl verhüttet hat und wie überhaupt diese Scheiben, aus denen die Kette besteht, hergestellt werden – werden die gegossen? Oder irgendwie gefräst? Mir fiel auf, dass ich keine Ahnung habe, wie das komplexe Teil, mit dem ich jeden Tag zur Arbeit fahre, überhaupt gebaut wird.

Weil ich Philosophen zu Freunden habe, fiel mir sofort Heidegger ein. Der hat von der „Bewandtnisganzheit“ geschrieben, womit er laut Aussage meines Freundes Daniel die Idee bezeichnet hat, dass uns die uns umgebenden Gegenstände als Teile einer möglicherweise erkennbaren sinnhaften Gesamtheit erscheinen – am Beispiel meines Fahrrads kann man sagen, dass in den 70er Jahren eine ganze Menge Leute in verschiedenen Ländern und Berufen verschiedene Dinge getan haben, aus deren Gesamtsumme das Fahrrad entstanden ist, das den Sinn hat, dass ich damit zur Arbeit fahren kann. Wenn es kaputt geht, ist es nicht mehr sinnvoll, sondern wird zum Problem – ich höre auf zu radeln und fange an nachzudenken, wie ich es reparieren kann. Heidegger nennt das so: „Das Fahrrad ist nicht mehr zuhanden, sondern vorhanden“. Wir switchen deshalb vom praktischen Benutzen zum theoretischen Nachdenken.

Mein Fahrrad ist zwar heute nicht kaputt gewesen, aber es schleifte ein bisschen und ich will Heidegger mal wohlwollend soweit folgen und annehmen, dass das Schleifen mein Fahrrad für mich vom Zuhandenen zum Vorhandenen gemacht hat, weshalb ich über es nachdachte.

Das Ergebnis meines Nachdenkens war, dass ich verblüffend wenig darüber weiß, wer eigentlich alles was warum macht, bis am Ende so ein Rad herauskommt – womit mir mein eigenes Denken vom Zuhandenen zum Vorhandenen wurde, weil ich nämlich sehr bald sehr am Ende war mit dem Versuch, denkend meine Welt – selbst angesichts der noch recht einfachen Form meines Fahrrads – zu verstehen.

Das ganze Nachdenken ist ja noch ein recht harmloses Freizeitvergnügen – bis eine Finanzkrise kommt und den Fräser (oder Gießer) meiner Fahrradkettenbestandteile arbeitslos macht, den ganzen Ablauf der Fahrradproduktion zerschlägt und es im schlimmsten Fall unmöglich macht, Ersatzteile zu bekommen, weshalb das Fahrrad vorhanden bleibt und – trotz allen Nachdenkens über die Bewandtnisganzheit – nicht wieder zuhanden wird.

Daraus schlussfolgere ich messerscharf, dass es nicht reicht, erst zu fragen, was es mit den Finanzmärkten für eine Bewandtnis hat, wenn sie nicht mehr funktionieren. Man muss also dem Vorhandenwerden zuvorkommen und sich schon mal während man etwas benutzt (wie zum Beispiel Geldanlagen in Form von Finanzderivaten kauft) Gedanken machen, wie es funktioniert. Zum Glück leben wir in einer Gesellschaft, in der nicht jeder alles verstehen muss. Deshalb reicht es, wenn Christian in meiner Fahrradwerkstatt, der gelernter Industrieschlosser ist, weiß, wer wie und warum die Einzelteile von Fahrradketten herstellt. In Anlehnung an eine Idee von Hilary Putnam kann man das das Prinzip der hermeneutischen Arbeitsteilung nennen.

Die funktioniert jetzt aber auch nur so lange, wie alle Leute den verschiedenen Fachleuten vertrauen, ob es jetzt Banker_innen oder Industrieschlosser_innen sind, und glauben, dass die genug wissen, um nicht funktionierende Sachen wieder zu reparieren. Das ist ein Problem, weil es immer Banker_innen und Industrieschlosser_innen gibt, die kein Interesse daran haben, dass alle Gegenstände funktionieren, weil sie mehr Geld verdienen können, je mehr kaputt geht, was sie reparieren müssen. Bei Finanzderivaten ist die Sache eigentlich noch bescheuerter – weil manche Derivate nur dadurch Geld bringen, dass andere kaputtgehen. Ich frage mich sowieso, wie die Leute bei solchen Bewandtnissen einander überhaupt vertrauen.

Franz Kafka hat ja bei einer Versicherung gearbeitet – was vielleicht erklärt, warum seine Geschichten oft so gruselig sind und scheinbare Gewissheiten flux in nichts auflösen – Kafka wusste wahrscheinlich sehr gut, wie den Leuten scheinbare Sicherheit verkauft wurde, die sich dann im Ernstfall als ungedeckter Scheck erwies – tut uns leid, Sie hätten Anlage 25 f ihrer Versicherungspolice lesen sollen, denn darin sind Brandschäden durch Feuersbrünste, die durch Kabelbrand in Elektrogeräten, die älter als 2 Jahre sind, ausgelöst wurden, ausdrücklich von der Erstattung ausgenommen.

Leider ist allein die Zeit, die man braucht, um sich mit der Bewandtnis seiner eigenen Versicherungspolicen vertraut zu machen, inzwischen so enorm, dass man entweder seinen Job kündigen oder auf Kontakt zu seinen Freunden verzichten müsste, um wirklich zu verstehen, was man tut, wenn man die Policen unterschreibt.

Wie schwierig wird es dann wohl, die Bewandtnisganzheit zu verstehen? Ich finde, wir sollten es da mit Heideggers Lehrer Husserl halten, der geschrieben hat, dass man, wenn man überhaupt etwas erkennen will, gut daran tut, alle Sinnkonstruktionen, die man beim Wahrnehmen normalerweise automatisch verwendet, zeitweise außer Kraft zu setzen, und ersteinmal möglichst unvoreingenommen zu schauen, was man vor sich hat. Die Bewandtnisganzheit können wahrscheinlich nur Leute, die ordentlich Peyote genommen haben, ansatzweise verstehen. Und die haben dann natürlich alles wieder vergessen, sobald sie wieder klar sind. Wahrscheinlich zum Glück.