Menschenrechte, Fußballspielen und das gute Leben

In diesem Artikel geht es um Widersprüche zwischen dem allgemein normativ Richtigen in der Gesellschaft und den partikularen Konzepten guten Lebens einzelner Gruppen. Ich schlage außerdem ein neues Element des Modells des personalen Selbst vor, das ich das generalisierte Eigene nenne.

Der Soziologe George Herbert Mead hat ein wirkmächtiges Modell des personalen Selbst vorgeschlagen: Das Selbst ist demnach zusammengesetzt aus dem „I“, dem spontanen Teil der menschlichen Psyche, und dem „Me“, dem reflektierten Teil des menschlichen Geistes, der sich dadurch bildet, dass ein Mensch sich selbst gemäß des Blicks seiner Mitmenschen auf sich zu betrachten lernt und so in sein Selbstbild das Bild integriert, was andere von ihm haben. Um dies tun zu können, müssen Menschen etwas konstruieren, was Mead als das „generalisierte Andere“ bezeichnet: Sie müssen sozusagen die Quersumme aus allen Sichtweisen der verschiedensten Mitmenschen bilden und sich so aus der Perspektive eines verallgemeinerten Mitmenschen, eben des generalisierten Anderen, betrachten.

Ich möchte nun eine Erweiterung dieses Modell des Selbst vorschlagen. Ich bin der Überzeugung, dass zu unserem Selbstbild auch immer das Konstrukt eines generalisierten Eigenen gehört. Damit meine ich folgendes: Stellen wir uns unser soziales Leben als ein Spiel vor, das einerseits durch Solidarität und andererseits durch Konkurrenz geprägt ist, wobei wir in unserer Gruppe (zum Beispiel in der Familie oder im Freundeskreis) solidarisch zusammenspielen, aber dabei in Konkurrenz zu anderen Gruppen stehen, gegen die wir gemeinsam spielen. Außerdem gibt es noch Spielregeln, die für alle mitspielenden Gruppen und Individuen festlegen, was als faires Spielen gilt.

Meads generalisierter Anderer wäre jetzt mein Konstrukt der Quersumme aus den Blickwinkeln aller Spielenden auf dem Spielfeld auf mich und mein Spiel. Meine Idee ist jetzt, das ich nicht nur diese Quersumme bilde, sondern zugleich auch den Blick der Gegner auf mich vom Blick meiner Teamteilnehmenden auf mich unterscheide. Den Blick meines Teams auf mich fasse ich in einem generalisierten Eigenen zusammen, dessen Teil ich bruchlos sein kann – weil mein Blick auf mich genau wie der der anderen Teamteilnehmer auf den Erfolg unserer Gruppe in der Konkurrenzsituation des Spiels ausgerichtet ist. Er hat deshalb starke normative und evaluative Komponenten: Ich beobachte mich genau wie alle anderen meines Teams mich beaobachten, hinsichtlich des Beitrags, den mein Spielverhalten für den Gruppenerfolg leistet. Ich beurteile daher mein Verhalten auch als richtig oder falsch, und zwar nach dem Doppelstandard des generalisierten Anderen einerseits (aus dieser Sicht zählt, was normativ gemäß der für alle geltenden Spielregeln und aus der Sicht aller Spielenden als fair gilt), und nach dem Standard des geralisierten Eigenen andererseits (hier zählt, was evaluativ als gut für den Gruppenerfolg gilt). Ob ich den evaluativen Standard meiner Gruppe und den normativen Standard aller Mitspielenden widerspruchsfrei zur Deckung bringen kann, hängt von den teilnehmenden Gruppen und ihrem Spielverhalten und von den Spielregeln ab.

Wenn zum Beispiel eine Fußballspieler_in ständig Alleingänge vor dem gegnerischen Tor versucht, ohne ihre Mitspieler, die frei stehen, anzuspielen, ist ihr Verhalten zwar normativ korrekt, insofern es den Spielregeln konform ist, aber es wird evaluativ als schlecht bewertet, weil es nicht im Sinne der Gruppe ist, jedenfalls solange es nicht erfolgreich ist und nicht zu einem Tor führt. Die Alleingänger_in weiß das, weil sie sich ständig aus der Sicht ihres Teams beobachtet und bewertet und ihr Spiel danach ausrichtet.

Jetzt hat dieser mein Vorschlag für ein neues Modell des Selbst in der Gesellschaft eine gefährliche Konsequenz: Der Rahmen, der für das gesellschaftliche Leben gilt, ist ein normativer, er besteht aus Regeln, die richtig und falsch festlegen. Die Unterscheidung zwischen gutem und schlechten Leben ist dem normativen Fairnessrahmen der Gesellschaft untergeordnet, insofern wir unser Verhalten im Zweifelsfall an allgemein geltenden Normen als an gruppenspezifischen Werten orientieren müssen. Das hat Vorteile, insofern man, wie Rawls es vorgeschlagen hat, innerhalb eines funktionierenden Gerechtigkeitsrahmens unterschiedliche kulturelle Gemeinschaften mit unterschiedlichen Konzepten guten Lebens spielen lassen kann, ohne dass es zu Gewalt und Unterdrückung kommt. Aber es hat auch Nachteile, denn wenn die Spielregeln absolut gesetzt werden, können wir uns nicht mehr mit einem Konzept guten Lebens im Rücken kritisch auf den normativen Rahmen beziehen, selbst wenn er unseren gemeinsamen gruppeninternen Vorstellungen des guten Lebens widerspricht. Wir könnten also im Fußball nicht kritisieren, dass Männer und Frauen in getrennten Ligen spielen, weil das zum normativen Rahmen des Spiels gehört. Deshalb würde sich der normative Rahmen auch nicht weiterentwickeln. Damit Spielende die Spielregeln verändern können, müssen sie alle Mitspieler überzeugen können, dass ihre Vorstellung vom guten Spielen zwar im Gegensatz zu den normativ wirksamen Spielregeln steht, aber aus der Sicht aller Spielenden das Spiel verbessern würde, wenn der normative Rahmen entsprechend verändert würde. Wenn also der FC Frankfurt demnächst in der Männerbundesliga mit einer geschlechtergemischten Mann/Frauschaft aufspielt, müsste sich der DFB fragen lassen, ob es nicht im Sinne aller wäre, gemischte Ligen zuzulassen.

Insofern können Regelbrüche durch Gruppen auch transformatorischen Charakter bekommen, indem Konzepte guten Lebens über normative Traditionen gestellt und dann diskursiv hinsichtlich ihrer Kongruenz mit dem Allgemeinwohl geprüft werden. Ein gutes normatives Rahmengerüst von Gesellschaften enthält deshalb vor allem Verfahrensregeln, wie und inwiefern evaluative Konzepte guten Lebens auf die abstraktere Ebene normativer Spielregeln gehoben und verallgemeinert werden können. Allerdings werden auch diese Verfahrensregeln von kulturellen Gemeinschaften hinsichtlich ihrer Funktionalität für des gute Leben diskutiert. Die Menschen- und Grundrechte erfüllen dabei die Funktion, den Teufelskreis der Evaluation der Normen und der Normierung der Evaluation zu unterbrechen. Sie müssen deshalb seltsame Hybride aus Werten und Normen sein, sonst könnten sie ihre Funktion nicht erfüllen.

Der generalisierte Andere ist also sozusagen die innere Instanz, vor der jede Person ihre im Konzept des generalisierten Eigenen enthaltenen Vorstellungen des guten Spielens prüfen kann. Insofern sind zum Beispiel aus der Sicht von Fußballspielenden ungeahndete Fouls zwar im Sinne der Mannschaft, aber nicht richtig. Andererseits kann es dazu kommen, dass Normen Konzepten guten Lebens widersprechen. Ein Beispiel dafür ist der Widerspruch zwischen Konzepten gendergerechten Lebens und den Regeln des Sports in unserer Gesellschaft. Die Regeln des Sports müssen sich vor diesen neuen Werten als gerechtfertigt darstellen oder geändert werden. Gendergerechtes Leben wird nur durch Auflösung der starren und unrealistischen Mann-Frau-Unterscheidung möglich werden. Immer wieder werden Intersexuelle Sporler_innen Opfer der Mann-Frau-Abstraktion von der realen Geschlechtervielfalt, und in absehbarer Zeit werden sich die Sportverbände hinsichtlich der normativen Verfasstheit des Sports den Forderungen des Gender Mainstreaming stellen müssen, wenn sich nicht gesellschaftliche Gruppen ganz von ihnen abwenden sollen.

Der normative Rahmen bundesdeutscher Staatlichkeit ist insofern wesentlich weiter entwickelt als der der Sportverbände: In Artikel 4 heißt es: „Niemand darf wegen seines Geschlechts … benachteiligt oder bevorzugt werden…“. Hier ist zum Glück nicht nur von Männern und Frauen die Rede. Vor dem HIntergrund der Tatsache, dass erst 1919 die Frauenbewegung ihr Konzept guten Lebens mühsam in die normative Ordnung gehoben hat, dergestalt, dass endlich „allgemeines Wahlrecht“ auch Wahlrecht für Frauen hieß, kann man sehen, welche Kämpfe es erfordert, die normative Ordnung zu transformieren.

Allerdings bleibt zu warnen, dass es auch Konzepte des generalisierten Eigenen gibt, die humanitäre Verbrechen mitverursachen: Rassismus ist ein solches Konzept, ein evaluatives Konzept, in dem zum Beispiel die Hautfarbe als Gütekriterium und Inklusionsmerkmal auftaucht. Die Sperren im normativen Rahmen gegen evaluativ bedingte Veränderungen, wie sie der Antidiskriminierungsartikel beispielhaft zeigt, sind daher zwar oft konservativ, aber sie schützen gerade deswegen vor verbrecherischen partikularen Konzepten wie dem Rassismus. Nicht jedes Konzept des guten Lebens ist gut.

Zum Konzept des Spiels gehört es, das jeder jederzeit aussteigen kann. Sonst ist es kein Spiel, sondern Ernst. Aus der Tatsache, dass kein Fußballspieler aus einem Bundesligaspiel aussteigen kann, will er nicht Opfer von Missachtung und Verfolgung werden, kann man deshalb schließen, dass es sich bei dem in der Bundesligea organisierten Fußball nicht um ein echtes Spiel handelt, sondern um eine Disziplinierungs- und Herrschaftsmaschine. Ich weiß nicht, ob das an der normativen oder der evaluativen Komponente der Bundesliga liegt, vielleicht an beidem. Mein Konzept des guten Lebens sagt deshalb zur Bunten Liga ja und zur Bundesliga nein. Mal sehen, was sich im Laufe der Geschichte durchsetzt.

 

 

 

 

Frankfurt, Blockupy 2012 – mein Leben und die anderen

Bislang unveröffentlichter Artikel vom 24.6.2012

Ach, was waren das noch für schöne Zeiten, als die Welt sich im Titanenkampf zwischen Kommunismus und Demokratie befand. Irgendwie war alles so klar und eindeutig.

Heute lese ich in der Süddeutschen, wie Erwin Strittmatter sich in der DDR angepasst und doch nicht angepasst hat. Gelitten habe er unter dem „Kleinbürgerdiktator“ Ulbricht und seine Funktionärsrolle im Schriftstellerverband nur widerwillig gespielt. Ein ähnliches Leiden und doch Mitarbeiten wird über Brigitte Reimann berichtet in dem von Ina Merkel herausgegebenen Band „Das Kollektiv bin ich“. Reimann, auch sie Schriftsteller_in, identifizierte sich mit der sozialistischen Idee und lag trotzdem mit der Realität der DDR ständig im Clinch. Bertolt Brecht, der seine letzten Lebensjahre in der DDR fristete und sich schonmal beschwerte, weil seine staatlich zugeteilte Bierration für die kreative Schöpfungstätigkeit zu klein sei, hat zu den Volksaufständen am 17. Juni 1953 in der DDR geschrieben: „Wäre es unter diesen Umständen nicht besser, die Partei löste das Volk auf und wählte ein neues?“ Volker Braun, auch er Kommunist, nannte einen Gedichtband „Training des aufrechten Ganges“. Auch ihm fiel derselbe in der DDR nicht leicht. In meiner persönlichen Zeitgeschichte versammeln sich Schreiber_innen, die sich ständig im Spagat zwischen ihrem kommunistischen und kritischen Idealismus und dem gängelnden Alltag der DDR-Bürokratie befanden. Soweit, so klar. Es ist nur auch interessant, wie jetzt in der Geschichtsschreibung der liberalen Presse über die Schriftsteller berichtet wird, die, obwohl Kommunisten, sich mit der DDR nicht vollends identifizieren konnten und wollten, obwohl oder gerade weil sie dort lebten. Ich will die Einstellung, die die liberalen Schreiber gegenüber Kommunisten wie Brecht einnehmen, einmal als geprägt vom „Das- Leben-der-anderen-Schema“ beschreiben. Die werte Leser_in erinnere sich an den gleichnamigen Film, in dem gezeigt wird, wie ein Schriftsteller von der Stasi zugrundegerichtet wird. Das Schema des Filmes ist einfach: Der kritische Freidenker wehrt sich mit seinen literarischen Waffen gegen die Unterdrückung durch den DDR-Staatsapparat und gerät unter dessen Stasi-Räder. Freiheit gegen Zwang, Zwang gewinnt, zum Glück gewinnt am späten Ende, im Jahr 1989, wie der Zuschauer weiß, dann doch noch das Gute. Wir gehen kathartisch gereinigt aus dem Kino und wissen: Es war gut, dass die DDR abgeschafft wurde. Für dieses Schema sind Menschen wie Strittmatter, Braun, Brecht und Reimann ein Problem. Sie haben die DDR gestützt, obwohl sie unter der Repression gelitten haben, die durch dieses System ausgeübt wurde. Sie haben die DDR nicht verlassen, obwohl sie einen ständigen Seiltanz zwischen Kritik und Anpassung vollziehen mussten. Diese Lebensläufe und ihre Dokumente legen der Leser_in nahe: In der DDR kann nicht restlos alles schlecht gewesen sein. Da diese Erkenntnis aber nicht ins „Das-Leben-der-anderen-Schema“ passt, muss uminterpretiert werden. Nicht die Strahlkraft der kommunistischen Idee war gut, sondern des Kommunisten Brechts gute Seiten waren zu schwach, um sich gegen den sozialistischen Staat zu entscheiden. Brigitte Reimann hat lange in der sozialistischen Musterstadt Hoyerswerda gelebt und gelitten, weil die sozialistischen Planer keine Freiräume für kulturelles Leben in ihrer Reißbrettstadt eingeplant hatten. 1991, kurz nach der Wende, wurde Hoyerswerda zum Symbol für sinnlose Gewalt gegen Ausländer_innen. Ostdeutsche Neonazis warfen Molotow-Cocktails auf ein Heim für Vertragsarbeiter_innen aus Vietnam. Damals konnte die deutsche Polizei diese Verbrechen nicht verhindern. Vor Kurzem wurde bekannt, dass Ermittler im Zuge der NSU-Mordserie-Ermittlungen ein Medium aufsuchten, um Kontakt zu einem der Ermordeten aufzunehmen. Während in Dresden die Polizei illegalerweise systematisch alle Telefondaten der Teilnehmer_innen einer Anti-Nazi-Demonstration erfasst, halten Polizisten bei der Suche nach Mörder_innen an Ausländer_innen Seancen ab. Der siegreiche Kapitalismus hat, das zeigen Hoyerswerda und die NSU-Morde, seine Schattenseiten. In Spanien sind 50 % aller Jugendlichen ohne Job, die Hypothekenblase in den USA ist auf Kosten der Mittel- und Unterschicht geplatzt. Die Einkommensunterschiede zwischen arm und reich nehmen selbst im boomenden Deutschland stetig zu. Die Finanzkrise zeigt, dass weder Politik- noch Wirtschaftseliten der westlichen Länder langfristig tragfähige Lösungen für die Krisen des Kapitalismus parat haben. Der Kapitalismus beherrscht die westliche Welt, und dennoch geht es unserer Welt nicht gut. Antonio Gramsci, der italienische Kommunist, definierte Herrschaft als „Hegemonie, gepanzert mit Zwang“. Hegemonie des Kapitalismus bedeutet: In der Süddeutschen werden Geschichten über Schriftsteller erzählt, denen es in der DDR schlecht ging. Zwang bedeutet: In Frankfurt werden bei den Blockupy-Protesten gegen die Troika aus Europäischer Kommission, IWF und EZB, die Südeuropa in die Depression stürzt, mehrere tausend Polizist_innen in Stellung gebracht gegen tausend friedliche Demonstrant_innen. Sicher: Die Situation war kritisch. Als 20 Demonstrant_innen in weißen Gewändern und langen schwarzen Perücken vor dem Frankfurter Römer ein satirisches Lied auf die Finanzkrise sangen, dachte ich auch für einen Moment, dass sie gleich die Regierung stürzen und die Demokratie abschaffen. Ich war regelrecht erleichtert, als endlich 50 Polizist_innen mit Helmen, Schilden und Schlagstöcken aufmarschierten, um ein kritisches Transparent vom Römer wieder abzureißen und so die Demokratie im letzten Moment zu retten. Ich könnte mir vorstellen, dass die Polizist_innen in Frankfurt vorher zu Schulungszwecken gezwungen wurden, „Das Leben der anderen“ zu schauen. Leute wie ich wollten, so wurde ihnen wahrscheinlich suggeriert, dem Kommunismus doch noch zum Sieg verhelfen. Jetzt ist es so, dass ich die Geschichten über Brecht, Braun, Reimann und Strittmatter doch so abschreckend finde, dass ich mir die Stasi nicht zurückwünsche. Trotzdem möchte ich öffentlich zeigen, dass ich den Kapitalismus, weil er Profite systematisch über Menschen stellt, für eine strukturell undemokratische Wirtschaftsordnung halte. Damit werde ich zum Problem: Ich passe irgendwie nicht ins „Das-Leben-der-anderen-Schema“. Ich bin weder Stasi-Kommunist noch verfolgter Freidenker. Ich kann diesen Blog schreiben und vor dem Römer Straßenmusik während einer Demonstration gegen den Kapitalismus machen und muss mich nicht vor dem Verfassungsschutz rechtfertigen oder meinen Computer in einem Geheimfach im Fußboden verstecken. Ich denke, die Stasi und die Kommunismus-Variante der DDR sind der kleinste gemeinsame Feind, auf den sich die miteinander im Clinch liegenden Eliten der Republik einigen können und auf den sie rituell einschlagen, um sich zu erklären, dass sie trotz Neonazis, Massenarbeitslosigkeit, niedrigen Löhnen, politischer und wirtschaftlicher Grabenkämpfe, Unterdrückung linker Demonstrant_innen und Schuldenkrise zurecht an der Macht sind. Ich habe eine Nachricht für die Eliten: Der Kapitalismus hat gewonnen. Sie können aufhören, auf den Kommunismus einzuschlagen. Dann bekommen sie vielleicht das Blickfeld frei, um zu prüfen, ob im Kapitalismus Menschen in Würde, das heißt frei, gleich und solidarisch, zusammenleben können. Meine Erlebnisse in Frankfurt haben da gewisse Zweifel gesät.

Mit Pfefferspray gegen Care-Demonstrant_in

Das folgende Interview habe ich mit einer Mitdemonstrant_in geführt, die ich am 1.6.2013 auf der Blockupy Demonstration in Frankfurt a.M. getroffen habe. Auf eigenen Wunsch bleibt die Demonstrant_in anonym.
Utopolitan: Wir haben uns das erste Mal auf der Blockupy-Demonstration getroffen. Wofür wolltest Du dort demonstrieren?
Ich wollte eigentlich im „Care“-Block demonstrieren, leider hatten wir den Block gerade zu dem Zeitpunkt erreicht, als die Demonstration von der Polizei gestoppt worden war. Ich wollte für eine feministische Perspektive in der Blockupy-Bewegung und in der linken Kapitalismuskritik demonstrieren. Es geht mir darum, dass die mit der „Finanz-Krise“ verbundene Krise der sozialen Reproduktionsverhältnisse, die sich im Bereich von Care-Arbeit zeigt, thematisiert wird. Es geht mir dabei um das Aufzeigen der Verschränkung der vielfachen Machtmechanismen in der Care-Arbeit und darum, dass es in der Diskussion um die Bewältigung der Finanzkrise nachrangig um die Bedürfnisse der Menschen geht und dass dies eine Perspektive zeigt, die auch in Nicht-Krisen-Situationen des Kapitalismus herrscht. Es geht um die Achtung der Care-Arbeit an sich, aber auch darum, dass den Bedürfnissen der Menschen generell mehr Bedeutung und Beachtung geschenkt wird und deren Missachtung nicht als nichtintendierte Nebenfolge des kapitalistischen Systems zu verstehen ist, sondern als politisch grundsätzliche Frage. Für mich geht es dabei um das Recht aller Menschen, ein Leben zu führen, in dem die vielfältigen und vielseitigen Bedürfnisse Platz und Raum haben.
Utopolitan: Du warst sehr aufgewühlt, als ich Dich nachmittags beim
Verdi-Lautsprecherwagen traf. Was war passiert?
Wir warteten die ganze Zeit auf der Höhe des „Care-Blocks“ darauf, dass die Demonstration weiterging. Wir standen mit einigen anderen wartenden Leuten in einem Durchgang zwischen dem hinteren Teil des Gebäudes der Oper Frankfurt und einem kleinen Park. In der Mitte des Durchgangs stand ein weißer Kombi der Polizei, auf dessen Dach eine Kamera montiert war, die sich drehte und während der gesamten Wartezeit offenbar die Umstehenden filmte. Die Leute im Demonstrationszug auf der Hofstrasse standen einige Meter von uns entfernt. Der Durchgang zum vorderen Teil der Oper war durch Zäune, die die Polizei dort angebracht hatte und dahinterstehenden PolizistInnen abgeriegelt.
Wir warteten an der beschriebenen Stelle ca. 2 Stunden, in denen wir immer wieder versuchten, herauszufinden, wieso die Demo überhaupt gestoppt worden war, jedoch verstanden wir weder die Durchsagen von den Lautsprecherwagen, noch konnten PolizistInnen uns eine plausible Auskunft geben. Um ca. 15 Uhr hatten sich an dem Durchgang mehrere Leute angesammelt, die alle wissen wollten, wie es mit der Demo weiterginge, unter anderem waren darunter drei ältere Menschen, die in meiner direkten Nähe standen; dann flog auf den erwähnten weißen Kombi der Polizei ein roter Farbbeutel. Zum gleichen Zeitpunkt hatten sich hinter der erwähnten Polizeiabsperrung ca. 15 PolizistInnen in einer Reihe versammelt. Ich stand bestimmt drei Meter von den PolizistInnen entfernt, als ich bemerkte, wie diese sich ohne Ankündigung in Bewegung setzten und die Leute in meiner Nähe anfingen, sich hektisch zu bewegen.  Ich duckte mich und wollte nur noch aus der Menge herauskommen, einige der DemonstrantInnen schrien und dann spürte ich auf einmal etwas Nasses auf meinem Gesicht. Meine rechte Gesichtshälfte und meine beiden Augen begannen fürchterlich zu brennen, weil mir über die anderen Menschen hinweg Pfefferspray ins Gesicht gesprüht worden war. Mein Freund zog mich aus der Menge heraus und ich versuchte, meine Augen und meine geschwollene Haut vom Pfefferspray zu reinigen.
Utopolitan: Es gibt die Meinung, dass die Polizei zurecht präventiv
gewaltbereite Demonstrierende gekesselt habe. Was meinst Du nach Deinen Beobachtungen dazu?
Was ich gesehen hatte, war eine Rakete gewesen, die aus dem Demonstrationszug abgefeuert worden war, außerdem hatte ich einen Busch gesehen, der qualmte und der von der Polizei mit einem Feuerlöscher gelöscht wurde. Meiner Meinung nach waren diese Taten kein Grund, die ganze Demonstration zu stoppen, weil es meiner Meinung nach eine politische Auslegung ist, diese Taten als gewaltbereit auszulegen oder nicht. Aus diesem Grund meine ich, dass die Interpretation und Beurteilung dieser Taten als „Bedrohung“ ein Anlass war, der gesucht wurde, um die Demonstration stoppen zu können und ein Versuch, die Bewegung und alle Teilnehmenden zu kriminalisieren.
Utopolitan: Wirst Du wieder Demonstrieren gehen und wenn ja, was wird anders sein?
Ja, ich werde auf jeden Fall und immer wieder demonstrieren gehen, weil das ein grundlegendes Recht ist. Allerdings habe ich bei dieser Demonstration zum ersten Mal in meinem Leben erlebt, wie ausgeliefert und zu unrecht man behandelt werden kann.
Es war für mich ein Schock zu merken, dass die Polizei als Vertreterin der staatlichen Macht mich körperlich angreifen kann, es in Kauf nimmt, mich zu verletzen, obwohl ich nichts getan hatte, sondern einfach an dem Durchgang gestanden hatte.
Für mich stellt sich nach diesem Erlebnis die Frage, inwiefern innerhalb der Polizei und bei den Polizeikräften die Macht und Gewalt, die ihnen verliehen wurde, reflektiert wird und es hat mir gezeigt, dass menschliche Kollateralschäden für offenbar politische Zwecke in Kauf genommen werden. Ich werde sicher nicht mehr darauf vertrauen, dass Polizeikräfte mich ausschliesslich schützen, sondern bin mir jetzt bewusst, dass sie meine körperliche Unversehrtheit verletzen können, ohne dass ich mich wehren kann.
Utopolitan: Danke für das Interview.

 

Gewerkschaften zu Tode loben – Teil 1

Thomas Lobinger lobt in der SZ die Tarifautonomie und sieht den Mindestlohn als grundgesetzwidrige Übernahme von gewerkschaftlichen Aufgaben durch den Staat.Besser sei es, das System der Kombi-Löhne gerechter zu machen. Der Sozialstaat finanziere Niedriglohnarbeitsverhältnisse zugunsten mancher Unternehmer mit, durch eine Abgabe für diese Unternehmer solle das begrenzt werden.

Lobinger argumentiert mit der grundgesetzlich geschützten Vertragsfreiheit. Nun gilt die nicht absolut, sondern in Grenzen: Kein Vertrag hätte vor Gericht Bestand, in dem der Arbeitnehmer auf sein Wahlrecht verzichtet. Die Grenzen, in denen Verträge geschlossen werden, werden politisch durch Gesetze gezogen. Warum sollte ein Mindestlohn von 10 Euro hier eine unzulässige Einschränkung der Vertragsfreiheit darstellen, dient er doch erst einmal nur dazu, die grundgesetzlichen Rechte auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu realisieren?

Oberhalb von 10 Euro gibt es immer noch genug Verhandlungsmasse, um die Gewerkschaften vor der Bedeutungslosigkeit zu retten. Ich kenne keinen Gewerkschafter, der nicht lieber für eine Lohnerhöhung von 20 auf 22 Euro kämpfen würde als die Abwehrschlacht gegen eine Minderung des Reallohnes von 6 auf 4 Euro zu schlagen.

Lesen Sie die Bibel, Herr Bouffier?

eine Frage anlässlich meiner Erlebnisse beim Polizeikessel auf der Blockupy-Demonstration am 1.6.2013 in Frankfurt a.M.

Die hessische CDU scheint es für ein Beispiel christlicher Nächstenliebe zu halten, Menschen, die für eine gerechte Welt demonstrieren, von der Polizei mit Knüppeln verprügeln und mit Pfefferspray verätzen zu lassen.Ich muss wohl meine Bibel nochmal lesen, denn ich hatte Jesus da irgendwie anders verstanden.

„Selig sind, die da hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.“

„Selig sind die Friedfertigen, denn sie sollen Gottes Kinder heißen.“

Ich will nicht auf den Himmel warten. Und ich will nicht von einer Partei regiert werden, die das „C“ in ihrem Namen anscheinend nur noch zu Publicityzwecken für eine Politik der Gewalt und Ungerechtigkeit missbraucht.

Herr Bouffier hat jetzt gütig angekündigt, von den etwa 270000 in Hessen benötigten Sozialwohnungen sage und schreibe 2000 zu bauen. Danke! Vielleicht können sie die restlichen 268000 Familien auch gleich verprügeln lassen, das wäre ehrlicher, als sie weiter bei überteuerten Mieten in engen Wohnungen einzusperren.

Bei Paulus heißt es: „Es bleiben diese drei: Glaube, Liebe Hoffnung. Am höchsten aber ist die Liebe.“

Ich hoffe ja auf eine Weltwirtschaft, in der keine  Näher_innen in einstürzenden Schrott-Textilfabriken in Bangladesch zu Tode gequetscht werden, damit Frankfurter Bürger_innen auf der Zeil ihre Plastiktüten mit 9,90-Euro-Jeans vollstopfen können. Und ich glaube an eine Gesellschaft, die nach andern Prinzipien als Profitmaximierung und Konkurrenz bis aufs Blut funktioniert, nämlich nach den Prinzipien der Solidarität, der Freiheit und der offenen Kommunikation.

Von Liebe habe ich allerdings nicht mehr viel gespürt, als ich vor dem nigelnagelneuen Wasserwerfer der hessischen Polizei stand. Dazu hatte ich zuviel Angst. Und meine Mitdemonstrant_in mit der Beule am Kopf wird sich ihr T-Shirt mit dem Herzen vorne drauf und dem Slogan „reloveUtion“ hinten drauf das nächste Mal vielleicht auch nicht mehr anziehen.

Eines meiner Lieblingsbücher neben der Bibel ist ja das Grundgesetz der Bundesrepublik deutschland. Dort kannst du die folgenden verfassungsmäßigen Grundlagen unserer Staatsordnung nachlesen:

Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden. (Artikel 2)

Weiter heißt es ebenda:

Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. (Artikel 20)

Wie würden Sie das 9stündige Festhalten von 1000Personen in einem Polizeikessel, ohne genügend Wasser oder eine Toilette allein mit der Begründung, einige der Eingekesselten hätten ein Tuch vor dem Mund gehabt und es seien Feuerwerkskörper geworfen worden, vor dem Hintergrund dieser Grundgesetzartikel beurteilen?

Schöne Grüße, Herr Bouffier, ich empfehle Ihnen wärmstens diese zwei Bücher:

Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Autorenkollektiv.

Die Bibel. Verfasser nur teilweise bekannt.

In welcher Reihenfolge Sie sie lesen und welches ihnen wichtiger ist, ist mir egal.

 

Polizei erstickt Demonstrationsrecht mit Pfefferspray

Ein Medienspiegel zur Blockupy Demonstration am 1.6.2013

Ich war dabei. Stellt gerne Fragen per Mail.

 

http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/blockupy-proteste-in-frankfurt-neun-stunden-im-kessel-1.1686594

 

http://www.hr-online.de/website/specials/extended/index.jsp?key=standard_document_48621415&jmpage=1&type=v&rubrik=81261&jm=1&mediakey=fs/hessenschau/130601195202_hs_blockupy_6990

 

http://ea-frankfurt.org/

 

http://www.fr-online.de/blockupy-frankfurt/blockupy-frankfurt-live-ticker-stimmung-wird-immer-aggressiver,15402798,23082772,view,asFirstTeaser.html

 

http://www.fr-online.de/frankfurt/blockupy-frankfurt-ende-einer-demonstration,1472798,23093936.html

 

http://www.grundrechtekomitee.de/node/581

 

http://www.fr-online.de/blockupy-frankfurt/blockupy-frankfurt-blockupy-tage-gehen-zuende,15402798,23090704.html

 

http://www.hr-online.de/website/specials/extended/index.jsp?rubrik=81261&key=standard_document_48633809

Die Finanzkrise, Kojève und warum es gut ist, wenn ich keine Lust habe zu arbeiten

Ich bin heute krank und muss deshalb nicht arbeiten. Da ich aber Protestant bin und daher seit meiner Kindheit an den Gedanken gewöhnt wurde, dass ich durch Arbeit in den Himmel komme, habe ich meine durch Krankheit gewonnene freie Zeit gleich mal dazu genutzt, einen politisch-philosophischen Essay von Alexandre Kojeve durchzuarbeiten, den man von der Hoover.org Seite herunterladen kann.

 

In dem Artikel geht es darum, wie Frankreich es schaffen kann, seine politische Autonomie und die Werte seiner Zivilisation gegen verschiedene Imperien zu bewahren. Kojeve schlägt vor, ein „Empire Latin“ zu schaffen, dass neben Frankreich vor allem die katholisch geprägten südeuropäischen Länder am Mittelmeer umfasst, Italien und Spanien zum Beispiel.

 

Jetzt wundert sich vermutlich manche, und tatsächlich ist der Essay von Kojeve 1945 geschrieben worden. Das mit dem Empire Latin kannst du ad acta legen. Trotzdem stecken bedenklich aktuelle Erkenntnisse in dem Text. Zum Beispiel: Wäre ich kein deutscher Protestant, sondern ein katholischer Franzose, würde ich jetzt, statt diesen Blogbeitrag zu schreiben, wahrscheinlich mit einer schönen Frau ordentlich Rotwein trinken und dabei extrem gut angezogen sein.

 

Kojeve lobt die dem zugrundeliegenden Werte, vor allem die Wertschätzung der Muße, weil man sie braucht, um in Ruhe nachzudenken, und der Schönheit, und glaubt, dass diese von Aristoteles über die katholische Tradition ins moderne Frankreich transportiert wurden und gefälligst gegen die angelsächsich-germanische Arbeitswut verteidigt werden sollten. Ich stimme voll zu, tue mich aber praktisch etwas schwer mit der Umsetzung, wie du liest, weil ich nicht aufhören kann zu schreiben.

 

Jetzt ist es so, dass Aristoteles ein freier Bürger Athens war, und als solcher die Muße lobte, während etliche Sklaven in den Weinbergen geschuftet haben, damit der gute Aristoteles beim Philosohieren ordentlich Rotwein picheln konnte. Insofern würde ich vielleicht die protestantische, angelsächsisch-germanische Arbeitsethik jetzt zumindest als historischen Beitrag zu einer gerechteren Gesellschaft verteidigen und fühle mich auch gleich besser dabei, diesen Artikel weiterzuschreiben.

 

Gustav Seibt hat den Kojeve-Artikel ja nicht zufällig jetzt in der SZ mit einer Rezension bedacht – fast 70 Jahre nach dessen Entstehung. Kojeve hat nämlich etwas verblüffend früh vorausgesehen: Die deutsche Wirtschaft ist – unter anderem dank einer kapitalistisch geprägten, extremen Wertschätzung der Arbeit und des Sparens – im Gegensatz zu der Wirtschaft von Spanien, Italien und teilweise Frankreichs ziemlich krisenfest. Die deutsche Arbeitswut hat nämlich in den vergangenen Jahren die europäischen Nachbarländer in Grund und Boden konkurriert. Die dadurch gewonnene politische Macht nutzt der deutsche Staat, um sein Modell den europäischen Partnerstaaten aufzuzwingen. Und zu Recht sehen sich deshalb viele Spanier, Griechen und Italiener als Opfer einer imperialen Strategie, allerdings ist das Imperium sehr komplex und widersprüchlich, weil sich noch nicht mal Deutschland und Großbritannien, zwei neoliberal-kapitalistische Musterstaaten, auf eine gemeinsame Politik einigen können.

 

Jede imperiale Strategie nach außen braucht eine imperiale Strategie nach innen – und die drückt sich im Falle von mir und dem neoliberalen BRD-Kapitalismus darin aus, dass ich seit einem Jahr kein einziges Mal zu Hause geblieben bin, wenn ich krank war – auch wenn ich Rückenschmerzen hatte, die zu Schweißausbrüchen geführt und es fast unmöglich gemacht haben, an die Tafel zu schreiben und meine Schultasche zu tragen.

 

Zum Glück ist das alles nicht ganz so schlimm, weil ich außerdem im ganzen letzten Jahr jede Woche einmal Abends mit Freunden gut gegessen, Rotwein getrunken und ausführlich gequatscht habe – Arbeit hin oder her. Jede imperiale Strategie stößt auf Gegenstrategien.

Allerdings sind solche Abendessen jetzt für die zwangsgeräumten spanischen Familien, denen die Deutsche Bank ihre Häuser weggenommen hat, nicht besonders hilfreich, da kann ich noch so viel italienischen Rotwein dazu trinken.

Dank Kojeve weiß ich jetzt aber, was das schlechte Gewissen, das mich dauernd befällt, wenn ich mal die Beine lang mache und nicht arbeite, mit der politischen und kulturellen Lage in Europa zu tun hat – und dass es in Ordnung ist, öfters statt zu arbeiten auf meinem Sofa Kontemplation zu betreiben. Das Ergebnis meiner heutigen Kontemplation ist, dass es sinnvoll ist, sich weiter bei attac gegen die Hegemonie kapitalistischer Arbeitsvergötterung zu engagieren, auch wenn es zusätzliche Arbeit macht. Außerdem fühle ich mich dank der Beichtfunktion, die dieser Blog erfüllt, der mir gottlosen Protestanten einen katholischen Beichtstuhl ersetzt, befreit und kann zum Dolce-Far-Niente-Teil des Tages übergehen.

Au Relire!

 

 

Ein exklusiver Club braucht eine exklusive Logik – am besten eine, die den gesunden Menschenverstand ausschließt

Philipp Gassert stellt in der SZ Studiengebühren als gerecht dar, weil sie die einkommensstarken Familien träfen, deren Kinder sehr viel häufiger studieren als Arbeiter_innenkinder.

Wenn Gassert wirklich ein sozial gerechteres Bildungssystem will, warum fordert er dann nicht eine Vermögenssteuer und einen höheren Spitzensteuersatz? Das damit eingenommene Geld kann in die notleidenden Unis und in Stipendien für Arbeiter_innenkinder gesteckt werden. Dann wird unser Hochschulwesen besser und sozial ausgewogener.

Gassert fordert stattdessen Studiengebühren. Diese machen es den einkommensschwachen Familien aber noch schwerer, ihre Kinder auf die Uni zu schicken.

Gasserts Logik lässt sich so illustrieren: 7 junge Menschen gründen einen Leseclub. Leider ist nur einer von den 7 ein Hauptschüler aus einer einkommensschwachen Familie. Zum Glück ist Herr Gassert mit seinem scharfen Verstand und seinem sozialpolitischen Überblick zugegen und weiß die Lösung: Der Club soll seinen Mitgliedsbeitrag verdoppeln. Mit dem Geld sollen bessere Bücher angeschafft werden. Der Hauptschüler war aber mit dem bisherigen Mitgliedsbeitrag schon an seinen finanziellen Grenzen. Und nun die Preisfrage: Wieviele einkommensschwache Hauptschüler sind Mitglieder des Clubs, wenn Gasserts Rat befolgt wird?

Wo hat Herr Gassert eigentlich studiert? Und wer hat ihm diese Art zu Denken beigebracht? Und wer hat den dafür bezahlt? Wahrscheinlich die Kassiererin, die Gassert als Kronzeugin für sein Studiengebührenplädoyer aufruft. Wie wäre es, wenn wir der Kassiererin die Lohnsteuer erlassen, wenn ihre Kinder aufs Gymnasium und auf die Uni gehen? Von mir aus können wir dann auch den erlassenen Lohnsteuerbetrag als Studiengebühren erheben. Allerdings nur, wenn die Studierenden selbst entscheiden können, ob diese Gebühren Ideologen wie Herrn Gassert zugute kommen oder Lehrenden, die ihren gesunden Menschenverstand noch nicht an der Kasse abgegeben haben.

 

Kapitalismus ist analysierbar, Herr Nachbar

Kommentar zu Andreas Zielcke: „Das Monster in uns“ SZ Nr 40, Samstag/Sonntag, den 16./17.2013, S. 13.

Meines Erachtens ist die feuilletonistische Kapitalismuskritik von Zielcke der verzweifelte Versuch, den offensichtlich und unverdrängbar gewordenen Krisen des aktuellen Kapitalismus Herr zu werden, ohne sich aus seinem bildungsbürgerlichen und liberal-konservativen Dunstkreis herausbewegen zu müssen. Denn eines ist ja klar: Die Linken können nicht recht haben. Sie kritisieren den Kapitalismus zwar schon seit zweihundert Jahren, sind aber Schuld an Stalin und deshalb aus moralischen Gründen als nicht erkenntnisfähig zu betrachten.

Wer den Kapitalismus „intuitiv und heuristisch“ statt analytisch kritisiert, wie das nach Zielcke der FAZ-Autor Frank Schirrmacher in seinem Buch „Ego“ tut, der kommt logischerweise am Ende bei dem Irrtum heraus, die „Scheinrationalität“ des Kapitalismus sei „nicht zu verstehen“.

Natürlich kann man den Kapitalismus nicht verstehen, wenn man nicht von der Ausbeutung der Arbeitenden reden will, und stattdessen über die zerstörerische Wirkung von Informationsmaschinen auf das Sinnverstehen und die Destruktion von Gemeinschaft und Loyalität durch das Menschenbild des homo oeconomicus lange Artikel schreibt.

Sicher haben Schirrmacher und Zielcke mit diesen Thesen vollkommen recht, sie vertauschen nur Ursache und Wirkung. Die Modelle der Wirtschaftstheorie wie rational choice, Spieltheorie und homo oeconomicus sind nicht die Ursachen für die Pathologien des Kapitalismus, sie sind Lösungsversuche für Probleme innerhalb der kapitalistischen Logik. Genauer gesagt sind es Versuche, das Problem zu lösen, dass wirtschaftliche Interaktionen wie Kreditvergaben, Kaufverträge oder Firmenfusionen in einem entgrenzten und freien Marktraum für die Akteure stets gefährlich sind, weil die anderen Akteure zu einem hohen Grad unberechenbar sind. Die ökonomischen Modelle sollen den Akteuren die Berechnung der anderen Marktteilnehmenden ermöglichen.

Aber wo Konkurrenzdruck immer weiter steigt und ökonomischer Erfolg zum wichtigsten Prinzip wird, funktioniert ironischerweise selbst der Marktmechanismus nicht mehr, der zu diesem Zustand erst geführt hat. Axel Honneth vertritt in „Das Recht der Freiheit“ die These, dass Märkte sich auf vorgängige soziale Normen stützen müssen, die sie zu ihrem Funktionieren brauchen, aber selbst nicht herstellen können. Wo nur der Gewinn zählt, wird mit dem Informationsmangel der anderen Marktteilnehmenden Geld verdient. Es gewinnen diejenigen, die mit Erfolg Informationspolitik betreiben. Das gezielte Verschweigen und Verfälschen von Informationen wird so zur Erfolgsstrategie, aber da jeder weiß, dass das so ist, kann niemand absehen, was er alles nicht weiß und wem er worin trauen kann. Genau das führte zur Verschärfung der Finanzkrise, als keine Bank mehr der anderen traute. Aber es verursachte sie nicht.

Genau die Marktfreiheit, die Honneth als dritte Freiheitssphäre neben Politik und persönlichen Beziehungen bezeichnet, ist nämlich meiner Ansicht nach eine Hauptursache für die aktuelle Krise: Begonnen hatte diese mit der Hypothekenkrise in den USA, weil dort die Häuserpreise so stark fielen, dass die Preisprognosen, auf denen die Hypothekenkredite basierten, sich als völlig falsch entpuppten. Die Preisbildung auf entgrenzten Märkten führt regelmäßig zu Preisen, die mit dem realen Bedarf an Gütern und Dienstleistungen kaum noch etwas zu tun haben. Das widerum hängt damit zusammen, dass Geldkapital so konzentriert in wenigen Händen ist, dass Geld nicht mehr in erster Linie für die Befriedigung von Bedürfnissen ausgegeben wird, sondern vor allem für das Erwirtschaften von noch mehr Geld. Der reale Bedarf an Wohnraum in den USA wurde daher durch die Häuserpreise nicht realistisch abgebildet, weder, als die Häuser viel zu teuer, noch, als die Häuser viel zu billig wurden.

Die andere Seite der Irrationalität der Märkte ist die Abkopplung der Preise der Produkte von der Arbeit, die zu ihrer Herstellung nötig ist. Wie viel Arbeit für ein Produkt notwendig ist, spiegelt sich in Zeiten des Lohndumpings in den Nähfabriken Asiens einerseits und der aberwitzigen Steigerung von Managerboni in Europa andererseits in den Preisen nicht mehr wieder. Auch diese Abkopplung führt zu unvorhersehbaren Geldströmen und damit zu Krisen. Wären die Einkommen gerechter auf die unterschiedlichen Arbeitsformen verteilt, würden sich die Geldströme berechenbarer bewegen.

Wenn der Großteil der Menschheit nicht mehr oder kaum noch in der Lage ist, durch Arbeit die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen, während eine Minderheit immer ausgefeiltere Bedürfnisse entwickelt, die so wenig zwingend und so diversifiziert sind, dass jeder sich schnell für ein anderes Produkt entscheiden kann, sobald der Trend vom Ipod zur handgestrickten Weste umschwingt, gibt es eine logische Tendenz zu Instabilität. Die Abkopplung der Preise von den realen Bedürfnissen und von der Arbeit verstärken sich außerdem phasenweise gegenseitig. Die kapitalistische Form der Marktwirtschaft ist aus strukturellen Gründen die Permanenz der Krise. Nach Fernand Braudel gibt es aber auch eine Marktwirtschaft ohne Kapitalismus. Folgende Probleme müssen gelöst werden, um eine solche Marktwirtschaft zu etablieren:

1. Reichtum und Marktmacht sind sowohl zwischen Regionen als auch zwischen sozialen Gruppen zu ungleich verteilt. Das führt zu einer Reihe von Instabilitäten (dysfunktionale Konzentration von Kapital in wenigen Händen, Nachfrageprobleme, politische und soziale Konflikte, starke Abhängigkeiten, extreme Preisschwankungen).

2. Die Märkte sind nicht transparent. Märkte funktionieren optimal, wenn allen Teilnehmenden alle Informationen zugänglich sind. Das ist nicht der Fall. Dies führt zu Vertrauensverlust, systematischem Betrug und Instabilität (Over the Counter-Geschäfte, komplexe Finanzprodukte, undurchschaubare Waren- und Geldströme).

3. Die Märkte sind rechtlich nicht gut reguliert und die demokratischen Strukturen sind nicht so internationalisiert sind wie die Konzerne. (Fragmentierter internationaler Rechtsraum, mangelnde Rechtsvorschriften, Konkurrenz unter den Nationen).

4. Die Politik wird zu oft von Kapitalinteressen beherrscht, statt sich am Allgemeininteresse zu orientieren. (Mangelnde Besteuerung von Großkonzernen und großen Vermögen, Ausverkauf von staatlichen Garantien für Güter wie Bildung, Wohnen, Wasser- und Stromversorgung, Gesundheit).

Alle diese Merkmale kapitalistischer Marktwirtschaft lassen sich politisch beseitigen. Aber sie lassen sich weder beseitigen, indem man nur das kapitalistische Menschenbild kritisiert, noch durch Reaktivierung von „Loyalität und Gemeinschaft“ (schließlich will ich nicht mehr zu meinem Gutsherren und meinem Pfarrer gehen und um Erlaubnis fragen müssen, wenn ich heiraten will).

Das Schirrmacher nach Zielcke zu Pessimismus neigt, wundert mich nicht. Wahrscheinlich merkt er, dass seine Kapitalismuskritik nicht zu realistischen praktischen Konsequenzen führt. Das liegt an seinem idealistischen Fokus: Anderes Denken alleine wird die Destruktivität des Kapitalismus nicht aufhalten. Politische Kämpfe können sie aufhalten.