Good Old Bullshit

Tobias Kniebe meint, wir würden ohne das „good old Urheberrecht“ den superreichen Künstler vermissen. Ohne „fuck-you-money“ für geniale Ideen wie Harry Potter und Star Wars, deren Urheber sich niemandem unterordnen müssen, verkäme alle Kultur zu einer lauen und dienstbeflissenen Langeweileshow. („Zählt ihr nur eure Erbsen“, SZ vom 15./16.9.2012)

Wie es sich für einen gehobenen Bildungsbürger gehört, versieht Kniebe seinen Artikel mit einer Ouvertüre, in der er sanft Adornos „Verblendungszusammenhang“ streift und sehr harmonisch passend dazu die Kapitalismuskritikharfe kurz anzupft. Das dient aber nur dazu, bei dem ebenfalls bildungsbürgerlich sozialisierten Leser die passende Stimmung für die Lektüre einer ordentlichen Portion Gesellschaftskritik herzustellen.

Die besteht vor allem darin, die Forderungen der Commons-Bewegung, kulturelle Inhalte im Netz frei verfügbar zu machen, als Anschlag auf Freiheit und Genie in der Kunst zu diskreditieren.

Ich finde es ja löblich, dass Kniebe die ohne ordentliche Arbeit superreich gewordenen Künstler als Symbole für die Möglichkeit, ohne Duckmäuserei und Plackerei seinen Weg zu machen, im Sinne der gesellschaftlichen Förderung von Freiheit vor den bösen Communarden der neuen Medien retten will. Was ich mich frage, ist aber: Ab welchem monatlichen Einkommen habe ich eigentlich die „fuck-you-money“-Grenze erreicht und bin endlich frei? Reichen 1000 Euro für meinen persönlichen kleinen Haushalt, Essen, Miete und gelegentlich die neue Scheibe von eels, nicht aus, um dem Chef im Büro den Finger zu zeigen? Wieso brauche ich dazu die Milliarde? Und wäre die Milliarde nicht im Sinne der gesellschaftlichen Förderung von Freiheit und Genialität besser angelegt, wenn sie gleichmäßig auf viele kleine monatliche 1000-Euro-fuck-you-Förderungen verteilt würde? Mehr noch, wieso brauche ich für meine eigene kleine Fuck-you-Einstellung eigentlich J.K. Rowling als Symbol für den Erfolg kreativer Ideen?

Ein Freund von mir ist Lastwagenfahrer. Als wir auf einer Party im Spaß anfingen, unsere persönliche Denkerpose vorzuführen, sagte er: „Meine Denkerpose sieht so aus.“ Dabei er fuhr sich bedächtig mit dem ausgestreckten Mittelfinger über die Augenbraue. Ich glaube, in Sachen „fuck-you-Einstellung“ könnte Tobias Kniebe von meinem Freund einiges lernen, genauso wie von all den anderen Menschen auf der Welt, die ohne die Milliardengrenze geknackt zu haben täglich ihre „fuck-you-Einstellung“ gegenüber Chefs und dem ganzen autoritären Gesocks, das versucht, unser Leben zu kontrollieren, aufrechterhalten, und zwar ohne, dass sie dabei mit glasigem Blick auf Symbole wie George Lucas starren. Solche Symbole von Freiheit werden im Kapitalismus vor allem dazu geschaffen, echte, reale Freiheit zu ersetzen durch die bloße Hoffnung auf mögliche zukünftige Freiheit.

Das „Good Old Urheberrecht“ will ich aber trotzdem nicht abschaffen. Von mir aus sollen J.K. Rowling, George Lucas und Phil Collins vor sich hinsymbolisieren, soviel sie wollen. Ich will bloß nicht in einer Zeitung, die ich monatlich bezahle, Pseudoargumente über symbolische Freiheit im Kapitalismus lesen müssen, die jetzt dazu geführt haben, dass ich eine Stunde lang statt an meinem Roman zu schreiben diesen Blogartikel schreiben musste.

Der kleinste gemeinsame Feind

Ach, was waren das noch für schöne Zeiten, als die Welt sich im Titanenkampf zwischen Kommunismus und Demokratie befand. Irgendwie war alles so klar und eindeutig.

Heute lese ich in der Süddeutschen, wie Erwin Strittmatter sich in der DDR angepasst und doch nicht angepasst hat. Gelitten habe er unter dem „Kleinbürgerdiktator“ Ulbricht und seine Funktionärsrolle im Schriftstellerverband nur widerwillig gespielt.

Ein ähnliches Leiden und doch Mitarbeiten wird über Brigitte Reimann berichtet in dem von Ina Merkel herausgegebenen Band „Das Kollektiv bin ich“. Reimann, auch sie Schriftsteller_in, identifizierte sich mit der sozialistischen Idee und lag trotzdem mit der Realität der DDR ständig im Clinch.

Bertolt Brecht, der seine letzten Lebensjahre in der DDR fristete und sich schonmal beschwerte, weil seine staatlich zugeteilte Bierration für die kreative Schöpfungstätigkeit zu klein sei, hat zu den Volksaufständen am 17. Juni 1953 in der DDR geschrieben: „Wäre es unter diesen Umständen nicht besser, die Partei löste das Volk auf und wählte ein neues?“ Volker Braun, auch er Kommunist, nannte einen Gedichtband „Training des aufrechten Ganges“. Auch ihm fiel derselbe in der DDR nicht leicht.

In meiner persönlichen Zeitgeschichte versammeln sich Schreiber_innen, die sich ständig im Spagat zwischen ihrem kommunistischen und kritischen Idealismus und dem gängelnden Alltag der DDR-Bürokratie befanden.

Soweit, so klar. Es ist nur auch interessant, wie jetzt in der Geschichtsschreibung der liberalen Presse über die Schriftsteller berichtet wird, die, obwohl Kommunisten, sich mit der DDR nicht vollends identifizieren konnten und wollten, obwohl oder gerade weil sie dort lebten. Ich will die Einstellung, die die liberalen Schreiber gegenüber Kommunisten wie Brecht einnehmen, einmal als geprägt vom „Das- Leben-der-anderen-Schema“ beschreiben.

Die werte Leser_in erinnere sich an den gleichnamigen Film, in dem gezeigt wird, wie ein Schriftsteller von der Stasi zugrundegerichtet wird. Das Schema des Filmes ist einfach: Der kritische Freidenker wehrt sich mit seinen literarischen Waffen gegen die Unterdrückung durch den DDR-Staatsapparat und gerät unter dessen Stasi-Räder. Freiheit gegen Zwang, Zwang gewinnt, zum Glück gewinnt am späten Ende, im Jahr 1989, wie der Zuschauer weiß, dann doch noch das Gute. Wir gehen kathartisch gereinigt aus dem Kino und wissen: Es war gut, dass die DDR abgeschafft wurde.

Für dieses Schema sind Menschen wie Strittmatter, Braun, Brecht und Reimann ein Problem. Sie haben die DDR gestützt, obwohl sie unter der Repression gelitten haben, die durch dieses System ausgeübt wurde. Sie haben die DDR nicht verlassen, obwohl sie einen ständigen Seiltanz zwischen Kritik und Anpassung vollziehen mussten.

Diese Lebensläufe und ihre Dokumente legen der Leser_in nahe: In der DDR kann nicht restlos alles schlecht gewesen sein. Da diese Erkenntnis aber nicht ins „Das-Leben-der-anderen-Schema“ passt, muss uminterpretiert werden. Nicht die Strahlkraft der kommunistischen Idee war gut, sondern des Kommunisten Brechts gute Seiten waren zu schwach, um sich gegen den sozialistischen Staat zu entscheiden.

Brigitte Reimann hat lange in der sozialistischen Musterstadt Hoyerswerda gelebt und gelitten, weil die sozialistischen Planer keine Freiräume für kulturelles Leben in ihrer Reißbrettstadt eingeplant hatten. 1991, kurz nach der Wende, wurde Hoyerswerda zum Symbol für sinnlose Gewalt gegen Ausländer_innen. Ostdeutsche Neonazis warfen Molotow-Cocktails auf ein Heim für Vertragsarbeiter_innen aus Vietnam. Damals konnte die deutsche Polizei diese Verbrechen nicht verhindern. Vor Kurzem wurde bekannt, dass Ermittler im Zuge der NSU-Mordserie-Ermittlungen ein Medium aufsuchten, um Kontakt zu einem der Ermordeten aufzunehmen. Während in Dresden die Polizei illegalerweise systematisch alle Telefondaten der Teilnehmer_innen einer Anti-Nazi-Demonstration erfasst, halten Polizisten bei der Suche nach Mörder_innen an Ausländer_innen Seancen ab.

Der siegreiche Kapitalismus hat, das zeigen Hoyerswerda und die NSU-Morde, seine Schattenseiten. In Spanien sind 50 % aller Jugendlichen ohne Job, die Hypothekenblase in den USA ist auf Kosten der Mittel- und Unterschicht geplatzt. Die Einkommensunterschiede zwischen arm und reich nehmen selbst im boomenden Deutschland stetig zu. Die Finanzkrise zeigt, dass weder Politik- noch Wirtschaftseliten der westlichen Länder langfristig tragfähige Lösungen für die Krisen des Kapitalismus parat haben.

Der Kapitalismus beherrscht die westliche Welt, und dennoch geht es unserer Welt nicht gut. Antonio Gramsci, der italienische Kommunist, definierte Herrschaft als „Hegemonie, gepanzert mit Zwang“. Hegemonie des Kapitalismus bedeutet: In der Süddeutschen werden Geschichten über Schriftsteller erzählt, denen es in der DDR schlecht ging. Zwang bedeutet: In Frankfurt werden bei den Blockupy-Protesten gegen die Troika aus Europäischer Kommission, IWF und EZB, die Südeuropa in die Depression stürzt, mehrere tausend Polizist_innen in Stellung gebracht gegen tausend friedliche Demonstrant_innen. Sicher: Die Situation war kritisch. Als 20 Demonstrant_innen in weißen Gewändern und langen schwarzen Perücken vor dem Frankfurter Römer ein satirisches Lied auf die Finanzkrise sangen, dachte ich auch für einen Moment, dass sie gleich die Regierung stürzen und die Demokratie abschaffen. Ich war regelrecht erleichtert, als endlich 50 Polizist_innen mit Helmen, Schilden und Schlagstöcken aufmarschierten, um ein kritisches Transparent vom Römer wieder abzureißen und so die Demokratie im letzten Moment zu retten.

Ich könnte mir vorstellen, dass die Polizist_innen in Frankfurt vorher zu Schulungszwecken gezwungen wurden, „Das Leben der anderen“ zu schauen. Leute wie ich wollten, so wurde ihnen wahrscheinlich suggeriert, dem Kommunismus doch noch zum Sieg verhelfen. Jetzt ist es so, dass ich die Geschichten über Brecht, Braun, Reimann und Strittmatter doch so abschreckend finde, dass ich mir die Stasi nicht zurückwünsche. Trotzdem möchte ich öffentlich zeigen, dass ich den Kapitalismus, weil er Profite systematisch über Menschen stellt, für eine strukturell undemokratische Wirtschaftsordnung halte.

Damit werde ich zum Problem: Ich passe irgendwie nicht ins „Das-Leben-der-anderen-Schema“. Ich bin weder Stasi-Kommunist noch verfolgter Freidenker. Ich kann diesen Blog schreiben und vor dem Römer Straßenmusik während einer Demonstration gegen den Kapitalismus machen und muss mich nicht vor dem Verfassungsschutz rechtfertigen oder meinen Computer in einem Geheimfach im Fußboden verstecken.

Ich denke, die Stasi und die Kommunismus-Variante der DDR sind der kleinste gemeinsame Feind, auf den sich die miteinander im Clinch liegenden Eliten der Republik einigen können und auf den sie rituell einschlagen, um sich zu erklären, dass sie trotz Neonazis, Massenarbeitslosigkeit, niedrigen Löhnen, politischer und wirtschaftlicher Grabenkämpfe, Unterdrückung linker Demonstrant_innen und Schuldenkrise zurecht an der Macht sind.

Ich habe eine Nachricht für die Eliten: Der Kapitalismus hat gewonnen. Sie können aufhören, auf den Kommunismus einzuschlagen. Dann bekommen sie vielleicht das Blickfeld frei, um zu prüfen, ob im Kapitalismus Menschen in Würde, das heißt frei, gleich und solidarisch, zusammenleben können. Meine Erlebnisse in Frankfurt haben da gewisse Zweifel gesät.

 

Stellvertreterkrieg die allererste: Achilles sinnlos getötet

Achilles kämpfte stellvertretend für die Armee des Agamemnon bei der Belagerung von Troja mit Hektor, dem Stärksten aus dem Trojanerlager. So ein Zweikampf war in dieser Zeit üblich, wenn der Krieg nicht entschieden werden konnte, und keiner mehr länger Blut vergießen wollte.

Agamemnon schickte den stärksten und mutigsten seiner Untergebenen in den Stellvertreterkampf.

Achilles hat die Schnauze voll von dem Hauen und Stechen, will mit einem Zweikampf seine Männer schützen, damit endlich Schluss ist mit der ermüdenden Belagerung.

Der Held stirbt, aus dem Untergebenen wird ein endgültig Ergebener. Der Hintergrund war: Der senile Tattergreis Agamemnon wollte Achilles Frau, die schöne Briseis, und hat Achilles dafür draufgehen lassen. Achilles kämpfte dafür, dass der Wahnsinn aufhört, aber Agamemnon musste aus seinem Bauernopfer des Heldens nachträglich einen Sinn machen, der über das Rauben fremder Frauen hinaus geht, damit ihm seine Leute nicht in Scharen davonlaufen, daher ließ er weiterkämpfen, bis Trojas stolze Stadtmauern dem Erdboden gleichgemacht  waren. Das zum Anfang unserer hochgepriesenen abendländischen Kultur.

Nach Freud ist der Ursprung der Kultur der gemeinsame Aufstand der Söhne gegen den Vater. Darauf folge die Befreiung von der patriarchalen Herrschaft, aber auch das schlechte Gewissen wegen des Umsturzes der väterlichen Ordnung. Es scheint mir eher so zu stehen: Unsere Zivilisation trägt das Mal einer Vorgeschichte, in der senile Greise ihre Lebenserfahrung nutzten, um junge und unerfahrene Männer in den Tod zu schicken, damit sie sich zu Hause an deren Frauen vergehen konnten. Zum Dank haben die Tattergreise über die toten Helden Geschichten erzählt, aus schlechtem Gewissen, um sie „unsterblich“ zu machen. Die Geschichten sind ihnen leider gegen ihren Willen zu Aufklärung über ihre eigene Herrschaft geronnen.

 

Freiheit, Gleichheit, Solidarität

Wer glaubt, Freiheit und Gleichheit widersprächen sich und man könne den einen Grundwert der Französischen Revolution nur Auf Kosten des anderen in einem Gemeinwesen verwirklichen, der hat nicht verstanden, dass Solidarität sowohl die Bedingung von Freiheit und Gleichheit als auch ihre Synthese ist.

Daidalos und Ikaros oder die Tragik der Technologie

Kritische Theorie der Technologie – kurz erklärt

Mir ist gerade aufgefallen, dass die Botschaft der Technologiekritik von Habermas im Mythos von Daedalos und Ikaros enthalten ist:

Das Grundproblem der Kultur besteht darin, dass wir aus dem Gefängnis, das die Natur durch unsere Körper für uns ist, deren Triebe wir nur mühsam bändigen und deren Bedürfnisse wir nicht abtöten können, nur entfliehen können, wenn wir Technik verwenden, die wir in langer, mühsamer Arbeit mit viel Erfindergeist entwickeln müssen. Das ist Daedalos. Während dieser langen mühsamen Produktion von Technik, den Flügeln, die uns aus dem Gefängnis der Naturzwänge heraustragen sollen, werden wir zu alt und zu gebrechlich, um sie verwenden zu können.

Wir geben die Technik unseren Nachkommen weiter, zusammen mit den guten Ratschlägen, die wir in der langen Gefangenschaft durch unsere Triebe und während der Arbeit erdacht haben, denn wir kennen unsere selbst entwickelten Techniken gut und besser als die jeweils nächste Generation, weil wir sie entwickelt haben.

Aber die Crux ist: Ikaros als Vertreter der Nachkommen, welche die Technik von der älteren Generation geschenkt bekommen, um der Natur ein Stück weiter zu entfliehen, als es den Älteren mit ihren von Arbeit gebeugten Rücken möglich wäre, lässt sich von der Freiheit und der Macht und den neuen Möglichkeiten übermannen, überschätzt die Technik, verwendet sie falsch, stirbt daher und die Technik wird wieder vernichtet.

Dies ist noch kein automatisch generierter Blogtext. Ihr könnt ihn deshalb vielleicht besser verstehen, als eure Nachkommen. Übersetzt ihn weiter!

Die Arroganz eines Nachgeborenen

Ein Kommentar zur Rezension: Bisky, Jens: „Du bist ein Mensch, beweise es“. In: SZ Nr. 59, 10./11.März 2012. S. 19.

Der Feuilletonist Jens Bisky hat in der Süddeutschen Zeitung eine Neuausgabe von Bruno Apitz „Nackt unter Wölfen“ rezensiert, des Romans, in dem Apitz von seinen Erfahrungen als Gefangener im KZ Buchenwald und dem Widerstand der Kommunisten gegen SS-Wärter und andere Kriminelle, die als Wärter eingesetzt wurden, berichtet.

Bisky wirft Apitz vor, der Autor neige zu Pathos. Nun heißt ja Pathos wörtlich übersetzt Leiden. Wenn es einen Grund gibt, pathetisch zu schreiben, dann die Tatsache, wegen Widerstands gegen die Nazis in ein Konzentrationslager gesperrt, dort gefoltert und entwürdigt zu werden und sich und andere nicht oder nur sehr begrenzt gegen die Gewalt der Nazis schützen zu können. Bisky gehört zu den intellektuellen Deutschen, denen es anscheinend so an Imaginationskraft mangelt, dass sie ihre ästhetischen Urteile überhaupt nicht mehr mit Sensibilität formulieren können.

Schattierungen, Konflikte und Widersprüche im Handeln des Widerstands dürfen nicht verschwiegen werden. Dass zum Beispiel Stefan J. Zweig durch die Kommunisten nur gerettet werden konnte, indem sie einen jungen Roma in den Tod schickten, ist aber Effekt der ekelhaften Mordmaschinerie der Nazis und kann nicht dem Widerstand gegen sie vorgeworfen werden. (Vgl. http://wilfriedscharf.de/2012/02/25/einigung-uber-das-kind-von-buchenwald/) Ich will eine realistische Darstellung der Taten der Kommunisten in Buchenwald. Das lässt sich aber aus der historischen Distanz von 60 Jahren, ohne die mörderischen Zustände im KZ selbst erlebt zu haben, leicht und wohlfeil fordern. Apitz hat sein Buch sehr bald nach der Befreiung des Kzs durch einen kommunistisch organisierten Aufstand veröffentlicht, dessen Darstellung in Apitz Roman Bisky in versuchter ironisierender Übersteigerung als „antifaschistisches Happy End“ bezeichnet, um gleich anzuschließen, Apitz Buch sei von der KZ-Überlebenden und Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger, als „Kitschroman“, als „der Inbegriff von KZ-Sentimentalität“ bezeichnet worden.1 Bisky enthält sich vornehm einer Wertung dieser Wertung, man kann nur schließen, dass er zustimmt. Sentimental nenne ich einen Menschen, dessen Geist von Gefühlen überwältigt ist. Wäre ich Apitz, und ich hätte gerade Jahre des Leidens durch einen selbst organisierten Aufstand beendet, und ich dächte später an diesen Aufstand zurück, ich wäre sentimental, bis mein Geist von Gefühlen ganz getränkt wäre.

Ein gänzlich unsentimentales Buch, in dem der Autor ebenfalls von seinen Erfahrungen im KZ Buchenwald berichtet, ist Imre Kertész „Roman eines Schicksalslosen“. Der Autor verwendet eine andere ästhetische Strategie, als es Apitz tut: Die Ich-Figur berichtet sachlich, völlig verzichtend auf Emotionalisierungen, von den schrecklichen Dingen, die ihr passieren. Gerade dadurch musste ich lesend in Tränen ausbrechen: Mit unbarmherziger narratologischer Kälte und Teilnahmslosigkeit zeigte mir Kertesz, dass die SS-Schergen durch ihre Gewalt und ihren Terror die Gefühle dieses Ich-Erzählers abtöten und damit versuchen wahrzumachen, was Teil der rassistischen und faschistischen Ideologie war: Dass die Menschen, die sie in KZs gesperrt haben, keine Menschen seien.

Zu Walter Krämer, der in Apitz Roman einer der kommunistischen Helden ist, fehlt in Biskys Artikel unter anderem folgende Information: „Er eignete sich medizinische Kenntnisse im Selbststudium an, organisierte die Krankenversorgung und führte auch selbst Operationen durch, um zum Beispiel durch Misshandlungen der SS verletzten oder von erfrorenen Gliedmaßen betroffenen Mithäftlingen das Leben zu retten.“2

Wer ein Held war, wie Walter Krämer, der es geschafft hat, wenigstens etwas Menschlichkeit im KZ zu bewahren, obwohl er und alle um ihn herum entmenschlicht werden sollten, der verdient es auch, als Held dargestellt zu werden, und wenn Autoren wie Bisky aus ihren bequemen Lehnsesseln in den 2010er Jahren heraus sich über das „Pathos“ und die „Sentimentalität“ von Apitz erheben wollen, dann sollen sie lieber nochmal nachdenken und Kant lesen, der Vorstellungskraft als Vorbedingung von Vernunft begriffen hat, anstatt pseudointellektuelle ästhetizistische Phrasen zu dreschen und sie als Literaturkritik zu tarnen.

Nach den KZs wird die Vernunftkonzeption der Moderne brüchig. Die Frage Kants „Was ist der Mensch?“ muss deshalb neu beantwortet werden. Ich kann mir nun meine eigene Antwort geben nach dem, was ich in den Romanen gelesen habe: Der Mensch ist ein Wesen, das sich selbst seine Würde nehmen kann, indem es versucht, anderen ihre Würde zu nehmen, wie es die Nazis getan haben. Und der Mensch ist ein Wesen, das um seine Würde kämpfen kann, wie es Apitz getan hat. Und manche Menschen sind bereit, ihre Ermordung zu riskieren, wenn sie ihre Würde und das Leben ihrer Mitmenschen nur dadurch bewahren können. Diese Menschen sind Helden. Walter Krämer gehörte dazu. Er hat dafür mit seinem Leben bezahlt.

Ich bin froh, dass die Gewalt gegen Kommunisten heute und in diesem Land sich nicht durch Schüsse und Giftspritzen verkörpert.

Biskys intellektuelle Kaltherzigkeit aber ist eine perfide Form der Gewalt, die inakzeptabel ist, weil sie nur einen Grund hat: Einen antikommunistischen Reflex. Wer keinen Respekt vor einer Ideologie hat, die zum Beispiel für Walter Krämer und Bruno Apitz ein Grund war, sich gegen Entwürdigung und Terror der Nazis zur Wehr zu setzen, der soll sich, bevor er das in die Öffentlichkeit trägt, zuerst nocheinmal die ersten 20 Artikel des Grundgesetzes durchlesen. Das Grundrecht, für seine politische Überzeugung nicht verfolgt zu werden, erstreckt sich auch auf kommunistische Überzeugungen.

Zur Nachgeschichte des Nazi-Vernichtungsterrors gehört aber auch, dass stalinistische Kommunisten Raoul Wallenberg nach dem Einmarsch der Roten Armee deportierten. Wallenberg hatte als schwedischer Diplomat in Budapest 1944/45 viele ungarische Juden vor der Ermordung geschützt, in der Stadt, in der auch György Konrád knapp überlebte. Die stalinistischen Mörderbanden haben den Helden Wallenberg ermordet, bloß weil sie glaubten, der Diplomat aus einer Bankiersfamilie sei ein westlicher Agent. (Vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Raoul_Wallenberg, letzter Zugang: 10.3.2012) Diese Form des Kommunismus schützt die politische Freiheit des Grundgesetzes nicht.

Solange wir uns an Raoul Wallenberg und an Walter Krämer erinnern, werden wir Demokraten bleiben.

1Zitiert nach: Bisky, Jens: „Du bist ein Mensch, beweise es“. In: SZ Nr. 59, 10./11.März 2012. S. 19.

2http://de.wikipedia.org/wiki/Walter_Krämer_(Politiker) Letzter Zugang: 10.3.2012

Yella oder die Angst vor der Freiheit

Ich habe lange über Christian Petzolds Film „Yella“ gegrübelt: Warum ist Yellas Traum vom unabhängigen Leben im Westen im Film ein Traum, aus dem sie nur aufwacht, um in den Tod gerissen zu werden? Warum schickt uns Petzold durch eine lange Binnenhandlung, die sich hinterher bloß als Traum vom neuen Leben zeigt, das neue Leben aber beginnt gar nicht erst, sondern endet mit dem Aufwachen?

Heute habe ich den Film verstanden: Yellas Traum, in dem sie von skrupellosen Männern ausgenutzt wird, ist die Verkörperung ihrer Angst vor der Freiheit: Nicht zu wissen, ob man den Leuten vertrauen kann, denen man vertrauen muss, um zu überleben, nicht zu wissen, ob man die Probleme lösen kann, die man lösen muss, nicht zu wissen, ob es richtig ist, was man tut: Das ist das Schreckliche an der Freiheit.

Petzold lässt Yella willenlos in den Tod stürzen, und er zeigt mir damit, wohin mich die Angst vor der Freiheit führt, wenn ich sie stark werden lasse: In den Untergang.

Wie man eine Metapher als Walze gebraucht

Wolfram Fleischhauer hat einen Roman geschrieben, der ein literaturtheoretisches Statement verkündet: Er wirft Paul de Mans Literaturtheorie vor, relativistisch zu sein und so ethische Kritik an den Naziverbrechen unmöglich zu machen. Der erzählerische Hebel ist so einfach wie effektiv: Der Literaturkritiker De Vander, gemeint ist eben Paul de Man, schreibt antisemitische Artikel im von Nazis besetzten Belgien und wird nach dem Krieg Literaturwissenschaftler in den USA. In dieser Funktion behauptet De Vander, es gebe keinen Kontext (der dem Text seinen festen Sinn verleihen könnte), und es gebe keinen Autor (den man für den Text verantwortlich machen könnte). De Vander erzeugt so eine Theorie, die seine Mitschuld an den Verbrechen der Nazis wegerklärt. Für mich barg der Roman Fleischhauers eine erhellende Neuigkeit: Dass De Man eine antisemitische Vergangenheit hatte, wusste ich nicht. Insofern danke ich dem Autor für diese wichtige Reflexion der historisch-biographischen Hintergründe von De Mans Literaturtheorie und der postmodernen Theoriediskussion.

Fleischhauer erstickt leider auf Seite 344 seines Romans jeden Funken differenzierender, erhellender Deutung von Sprache und Geschichte und diskreditiert seine romanförmige Kritik an de Mans Literaturtheorie, wenn er über Adornos Satz „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“ seinen Protagonisten, einen deutschen Studierenden, im Roman eine der wenigen positiven Identifikationsfiguren, denken lässt: „Ich wollte ihr noch sagen, dass ich diesen Satz über Auschwitz und die Gedichte immer gehasst hatte. Denn bei allem Verständnis für den, der ihn gesagt hat: War dieser Satz nicht auch ein Gasofen? Für den letzten Funken Hoffnung in die Sprache?“1

Adorno hatte mit seiner Aussage Unrecht, das haben Celan, Domin und andere seitdem tausendfach bewiesen. Aber was Fleischhauer hier über diese Aussage veröffentlicht, ist eine üble, dumme und katastrophale Metapher. Worin zum Teufel ähnelt der Satz Adornos der Ermordung von Millionen unschuldiger Menschen? Was für ein alle Differenzierungen einebnender, stumpfsinniger und von abgestorbenem moralischen Empfinden zeugender Vergleich!

Ich schrieb Fleischhauer per Mail Folgendes:

„Zuerst habe ich gedacht, diese Metapher ist genau das, was Adorno als gewalttätige, weil alle Unterschiede einebnende Metapher bezeichnet hätte. Dann habe ich mir die Sache nochmal durch den Kopf gehen lassen und überlegt, ob ich nicht mit dieser Deutung selbst alle Unterschiede einebne (in diesem Fall Gaskammer mit Gasofen gleichsetzend).

Ich denke, die Gewalt, die mich beim Lesen Ihres Satzes erschüttert hat, liegt nicht allein in dem Wort „Gasofen“, sondern in dem unscheinbaren Wörtchen „auch“. Denn dieses Wörtchen stellt einen Kontext her („Mord durch Gas“), der Adorno zum Täter gleich all den SS-KZ-Aufsehern stempelt.“

Darauf antwortete mir Fleischhauer:

„Es handelt sich bei dem Satz der Romanfigur um eine bewusste und entschiedene Zurückweisung einer Aussage, die totalitär und menschenverachtend ist. Adornos Diktum vollendet in letzter Konsequenz das, wogegen es gerichtet ist: Sogar der Urschrei nach Sinn (denn was sonst ist Dichtung?) soll der geschundenen Kreatur noch genommen werden, weil dieser Urschrei das absolut Böse und Sinnlose nicht bannen konnte und natürlich leider auch nicht bannen kann. … Adornos Satz zwingt völlig unvereinbare Dinge in einen unerträglichen Schuld-Zusammenhang.“

Wer Dichtung als „Urschrei“ versteht, der produziert folgerichtigerweise Metaphern wie Fleischhauers „Gasofen“.

Bertolt Brecht schreibt in seinem Gedicht „An die Nachgeborenen“:

„Was sind das für Zeiten, in denen ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“

Das ist sicher feiner und sensibler formuliert, als Adornos Satz über Dichtung. Aber beide Texte zeugen von demselben Schmerz: Dem Schmerz, den diese beiden Gegner der Nazis empfanden, denen die Verbrechen der Nazis das zu rauben drohten, was ihnen wie kaum etwas sonst am Herzen lag: die Sprache. Beide haben ihr Leben lang gekämpft, um die Sprache zurückzugewinnen.

Adorno hat das nicht getan, damit ein Urschrei-Schriftsteller wie Fleischhauer das wieder einebnet, was Adorno und viele Andere an sprachlichen Nuancen mühsam zurückerobert haben, nachdem die Nazis alles, auch die Sprache, zu enthumanisieren versuchten.

Ich stimme Fleischhauer zu, dass eine Dichtung, die ein „Urschrei nach Sinn“ ist, tatsächlich das Böse und Sinnlose nicht bannen kann. Zum Glück ist nicht alle Dichtung Urschrei-Dichtung. Hilde Domin schreibt:

Wen es trifft
der wird aufgehoben
wie von einem riesigen Kran
und abgesetzt
wo nichts mehr gilt,
wo keine Straße
von Gestern nach Morgen führt
Die Knöpfe, der Schmuck und die Farbe
werden wie mit Besen
von seinen Kleidern gekehrt.
Dann wird er entblößt
und ausgestellt
Feindliche Hände
betasten die Hüften
Er wird unter Druck
in Tränen gekocht
bis das Fleisch
auf den Knochen weich wird…
 
Aus: Domin, Hilde: Abel steh auf. Stuttgart: Reclam 1990. S. 14f.
 

Dieses Gedicht lesen heißt, ein wenig verstehen zu lernen, wie es war. Wie Gedichte uns die Sprache in unserer Sprachlosigkeit über die Shoa zurückgeben können, drückt für mich dieses Gedicht Hilde Domins aus:

Nicht müde werden
Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten
 
Aus: Domin, Hilde: Abel steh auf. Stuttgart: Reclam 1990. S. 36.
 

Das hat mit einem Urschrei wenig gemein. Anstatt wie Fleischhauer alle Nuancen platt zu walzen, ist es unsere Aufgabe, mit Sorgfalt, leise und vorsichtig das Wunder der Sprache wiederzugewinnen, die die Nazis uns verschlagen haben.

1Fleischhauer, Wolfram: Der gestohlene Abend. Piper: München/Zürich 2008,  S. 344.