Ausbeutung im Authentizitätsmodus

Warum werden immer mehr Menschen depressiv und verstummen in ihrer Depression? Ich versuche im Folgenden eine sozialphilosophische Erklärung für diese Tatsache. Die grundlegende These lautet, dass kluge und ehrliche Menschen das Verstummen in der Depression wählen, um die Ausbeutung immer größerer Bereiche ihres Lebens durch ihre Arbeit zu unterbrechen.

 

Axel Honneth analysiert in seinem Aufsatz „Organisierte Selbstverwirklichung – Paradoxien der Individualisierung“ neue Typen sozialer Widersprüche, die die soziale Genese der Subjekte in der Gegenwart restrukturiert haben.1 Diese Widersprüche nehmen die Form von Paradoxien an. Darunter versteht Honneth soziale Widersprüche, die normativ strukturiertes Handeln von Individuen sozial so einbetten, dass die eigentlichen normativen Ziele der Subjekte nicht nur nicht erreicht werden, sondern sogar gegenteilige Folgen verursachen. Honneth analysiert Prozesse, in denen Anerkennungsforderungen durch neue Formen der Organisation von Arbeit, menschlichen Beziehungen und Freizeit scheinbar erfüllt werden, sich aber die vormaligen Anerkennungsforderungen der Subjekte in soziale Erwartungen an die Subjekte verwandeln und so scheinbare Legitimität ökonomischer Transformationsprozesse erzeugt wird, in Wirklichkeit aber die Organisationsformen, in denen das geschieht, Freiheiten in Zwänge verkehren.

 

Eine Reaktion auf diese Forderungen ist nach Honneth das „Verstummen“ vieler Menschen in depressiven Erkrankungen.2 Die diese Reaktion verursachende Dynamik kapitalistischer Entwicklungen lässt sich wie folgt zusammenfassen: Kapitalistische Gesellschaften eröffnen durch rationalisierte Arbeitsprozesse und durch sozialdemokratische Umverteilungspolitik gesteigerten Wohlstand und mehr Freizeit. In diesem sozialen Kontext entwickeln sich die romantischen Programme von Authentizität und Selbstverwirklichung, die, um mit Adorno zu sprechen, als kulturelles Reservoir der ideologischen Kompensation sozialer Widersprüche von kleinen subkulturellen Gruppen tradiert worden sind, zu Anerkennungsforderungen eines Großteils der Bevölkerung.3 Beispiele sind die Selbstverwirklichungsziele der 68er Bewegung. Dieser kulturelle Prozess verbindet sich nun mit Umstrukturierungen im ökonomischen Verwertungsprozess: Überall dort, wo aus standardisierter fordistischer Produktionsweise eine auf die Eigeninitiative, Kreativität und soziale Vernetzung der Arbeitenden basierende Produktionsweise hervorgeht, verwandeln sich die Anerkennungsforderung nach Selbstverwirklichung und individuellen Freiräumen in Forderungen an die Arbeitenden. Aus berechtigten normativ orientierten Forderungen nach individueller Freiheit werden im Zuge der Verknüpfung kultureller Strömungen mit ökonomischen Verwertungsimperativen neue Zwänge: Erwartet wird Flexibilität, die Bereitschaft, sich in seiner Biographie ständig neuen Bedingungen anzupassen und „sich neu zu erfinden“, einhergehend mit dem Abbau von institutionellen und finanziellen Sicherheiten, desgleichen das Einbringen vormals lebensweltlicher Ressourcen wie Vernetzung, Kreativität und sozialer Kompetenz in ökonomische Verwertungsprozesse und die Aktivierung der eigenen persönlichen Authentizität im Sinne dieser Verwertungsprozesse.

 

Honneth zufolge bleibt den Individuen angesichts der Paradoxie, dass ihnen die Möglichkeit vorgespiegelt wird, sich im Beruf selbst zu verwirklichen, damit aber tatsächlich die Freiheit der Selbstverwirklichung in einen Zwang zur Selbstverwirklichung verkehrt wird, nur die unattraktive Alternative zwischen „aus strategischen Gründen inszenierter Originalität“ und „krankhafter Verstummung.“4

 

Das Verstummen in der Depression ist damit soziologisch betrachtet ein Ergebnis der Tatsache, dass Menschen die Forderung, auch im Beruf ständig „authentische Selbstfindung“ zu praktizieren, nicht mehr erfüllen können:

 

„(…) der permanente Zwang, aus dem eigenen Innenleben den Stoff einer authentischen Selbstverwirklichung zu beziehen, verlangt den Subjekten eine dauerhafte Form der Introspektion ab, die an irgendeinem Punkt gleichsam in die Leere führen muß; und ein solcher Punkt, an dem auch bei starkem Vorsatz die psychischen Erlebnisse nicht mehr eine Richtung des Lebensvollzugs vorgeben, markiert nach Ehrenberg den Augenblick des Beginns einer Depression.“5

Das Verstummen, das Honneth hier skizziert, muss näher analysiert werden. Warum und auf welche Weise verstummen Menschen, die sich unter dem Druck der Arbeitsprozesse gegen inszenierte Originalität entscheiden und denen damit nur das Verstummen in der Depression bleibt? Handelt es sich dabei wirklich um eine Entscheidung oder geschieht den depressiven Menschen ihr Verstummen?

 

Ein Kopierladen in Marburg heißt „be authentic“. Genau diesen Ratschlag gab mir der geschäftliche Leiter einen freien Schule, bei der ich mich nach dem Referendariat beworben habe, als ich ihn fragte, was beim Vorstellungsgespräch von mir erwartet werde: „Seien sie authentisch.“ Es handelt sich bei dieser Aufforderung um einen klassischen performativen Selbstwiderspruch. Das Konzept der Authentizität beinhaltet zentral die Eigenschaft, spontan aus innerem Antrieb heraus zu handeln. So gesehen ist jedes Handeln im Rahmen von Institutionen per se so vorstrukturiert, dass vollendete Authentizität unmöglich ist, insofern es normative Erwartungen an alle Personen gibt, gemäß ihrer institutionellen Rolle zu agieren. Selbiges gilt natürlich auch für die Institution der freien Schule und das dort stattfindende Vorstellungsgespräch. Vorstellungsgespräche haben die Eigenschaft, institutionelle Räume für Kandidaten zu öffnen, die Rollen in diesen Räumen einnehmen könnten. Getestet wird in Vorstellungsgesprächen also auch die Fähigkeit, den normativen Erwartungen der Institution genüge zu tun. Die Institution der freien Schule erwartete von mir also anscheinend, authentisch agieren zu können (im Übrigen wird Authentizität inzwischen generell in der Lehrerausbildung als Gütekriterium für erfolgreiches Lehrerhandeln angesehen, ein Ergebnis auch der Transformationsprozesse, die freie Schulen als Folge der 68er Bewegung in der Pädagogik angestoßen haben). Insofern Rollen aber immer äußere, soziale Rollenerwartungen an Menschen herantragen, gerät die institutionelle Authentizitätsforderung in einen Widerspruch: Sie kreiert einen Raum der Unsicherheit, in dem nämlich unsicher ist, was als authentisch gilt. Offensichtlich öffnet sich die Institution für den Kandidaten nur, wenn er von den anderen als authentisch anerkannt wird. Das Paradox der Situation besteht darin, dass der Kandidat weiß, dass er von den anderen als authentisch anerkannt werden muss, wenn er in die Institution aufgenommen werden will. Daher wird er alle Formen der Inszenierung vermeiden, die als solche erkennbar sind. Genau das Bewusstsein dieser Strategie aber macht es unmöglich, nicht-reflexiv, nicht-strategisch und spontan zu agieren, und das sind alles notwendige Bedingungen für Authentizität. Die explizite Erwartung: „Seien Sie authentisch“ verwickelt also den Kandidaten in eine Situation, in der er strategisch nur erfolgreich sein kann, wenn er im vollen Bewusstsein der Erwartungen der anderen so handelt, als handelte er nicht aufgrund dieser Erwartungen, wie er handelt, sondern aufgrund innerer Antriebe. Außerdem kann er dies nur leisten, wenn er gleichzeitig verbirgt, dass er sich dieses Widerspruchs bewusst ist. Er wird also im Falle, dass er die Situation begreift, gezwungen, unauthentisch zu sein und zugleich zu verbergen, dass er es ist. Daraus folgt, dass nur Menschen, die zu einer so verlogenen Inszenierung auch moralisch fähig sind, im Authentizitätsspiel erfolgreich sein können, oder Menschen, die sich der Widersprüchlichkeit der Situation nicht bewusst sind. Die Authentizitätsnorm begünstigt also kluge Menschen, die gut lügen können und naive Menschen.

 

Mein Erklärungsansatz für das Verstummen von Menschen in der Depression besteht nun darin, dass dieses Verhalten Menschen wählen, die weder naiv sind, noch gut lügen können, und sich der paradoxen Authentizitätsforderung deshalb nicht erfolgreich beugen können. Die Depression wird aber von ihnen nicht als freie Wahl erlebt. Das muss erklärt werden, damit die These Bestand hat. Ich erkläre den Widerfahrnischarakter der Depressionserlebnisse damit, dass die in paradoxe Anforderungen verstrickten Menschen zuerst versuchen, Handlungen zu vollziehen, die als authentisch gelten können, ihnen aber irgendwann die Puste ausgeht in dem Sinne, dass sie bei der inneren Suche nach authentischen Ideen nichts mehr finden. Dass sie nichts mehr finden, hängt meiner These nach damit zusammen, dass sie die Balance zwischen reflexiver Transparenz (indem sie die die Differenz von Rolle und Person explizit ansprechen, etwa wenn ein Lehrer zu Schüler_innen sagt: „Ich muss von euch als Lehrer korrektes Verhalten verlangen, auch wenn ich selbst euch mehr Freiheiten geben will.“) und spontaner Selbstvergessenheit (etwa, wenn ein Lehrer sagt: „Die Individualisierung ist ein hochspannendes Thema, weil sie so widersprüchlich ist.“) im Handeln nicht mehr so hergestellt bekommen, dass sie die paradoxe Authentizitätsforderung erfüllen können.

 

Um die Balance zwischen Selbstvergessenheit (in der Psychologie als „flow“ verharmlost) und reflexiver Transparenz (die ebensowenig harmlos ist, weil sie die Unfähigkeit zeigt, Rollenerwartungen mit den eigenen Wünschen und Fähigkeiten zur Stimmung zu bringen) zu halten, muss eine Person ständig zwischen diesen zwei Strategien wählen, und für diese Wahl gibt es Gelingensbedingungen, weil nicht in jeder institutionell gerahmten Situation beide Strategien erfolgreich problemlösend wirken. Die ständige Analyse der Situation ist zermürbend, nicht nur, weil sie kognitiv anstrengend ist, sondern weil die Situation die Wahl zwischen zwei schlechten Alternativen auf Dauer stellt. Um diese ständige Wahl zwischen Skylla und Charybdis aushalten zu können, müssen Personen eine ganze Reihe außerinstitutioneller Motivationsquellen anzapfen: Ihre Familie, ihre Partner, ihre Freunde, ihre Hobbies, ihren Konsum, politische Gruppen, soziale Netzwerke aller Art. Manche Menschen wählen daher die Depression, weil es die einzige Möglichkeit ist, die Ausbeutung ihrer sozialen Ressourcen durch ihre Arbeit zu unterbrechen und aus der Mobilisierung all ihrer Kraftquellen für die Arbeit auszusteigen. Andere Depressive schützen mit dem Verstummen die Ausbeutung ihrer inneren, motivationalen Ressourcen: Ihre Interessen und die Art, wie sie sich auf Erlebnisse einlassen.

 

Insgesamt ist festzuhalten, dass die Authentizitätsimperative viele Menschen in Verhaltensweisen zwingen, die immer größere Bereiche ihres Lebens als Quellen für die Ausbeutung im Verwertungsprozess erschließen. Das Schweigen in der Depression unterbricht die diskursiven Achsen, auf denen diese Ausbeutung verläuft. Manche Menschen haben den Depressiven gegenüber den immensen Vorteil, dass sie sich für authentisch halten, wo sie bloß Handlungsweisen kopieren. Der Authentizitätsmodus der Ausbeutung macht die klugen Ehrlichen stumm und die klugen Verlogenen und die Naiven erfolgreich. Die Arbeitsgesellschaft geht schweren Zeiten entgegen.

 

Literatur:

Honnet, Axel: „Das Ich im Wir. Studien zur Anerkennungstheorie.“ Berlin: Suhrkamp 2010. S. 202-220.

1Vgl. Honneth 2010 S. 202ff.

2Honneth 2010, S. 220.

3Vgl. Adorno: „Studien zum autoritären Charakter.“ Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995.

4Honneth 2010, S. 220.

5Honneth 2010, S. 220.

Lesen Sie die Bibel, Herr Bouffier?

eine Frage anlässlich meiner Erlebnisse beim Polizeikessel auf der Blockupy-Demonstration am 1.6.2013 in Frankfurt a.M.

Die hessische CDU scheint es für ein Beispiel christlicher Nächstenliebe zu halten, Menschen, die für eine gerechte Welt demonstrieren, von der Polizei mit Knüppeln verprügeln und mit Pfefferspray verätzen zu lassen.Ich muss wohl meine Bibel nochmal lesen, denn ich hatte Jesus da irgendwie anders verstanden.

„Selig sind, die da hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden.“

„Selig sind die Friedfertigen, denn sie sollen Gottes Kinder heißen.“

Ich will nicht auf den Himmel warten. Und ich will nicht von einer Partei regiert werden, die das „C“ in ihrem Namen anscheinend nur noch zu Publicityzwecken für eine Politik der Gewalt und Ungerechtigkeit missbraucht.

Herr Bouffier hat jetzt gütig angekündigt, von den etwa 270000 in Hessen benötigten Sozialwohnungen sage und schreibe 2000 zu bauen. Danke! Vielleicht können sie die restlichen 268000 Familien auch gleich verprügeln lassen, das wäre ehrlicher, als sie weiter bei überteuerten Mieten in engen Wohnungen einzusperren.

Bei Paulus heißt es: „Es bleiben diese drei: Glaube, Liebe Hoffnung. Am höchsten aber ist die Liebe.“

Ich hoffe ja auf eine Weltwirtschaft, in der keine  Näher_innen in einstürzenden Schrott-Textilfabriken in Bangladesch zu Tode gequetscht werden, damit Frankfurter Bürger_innen auf der Zeil ihre Plastiktüten mit 9,90-Euro-Jeans vollstopfen können. Und ich glaube an eine Gesellschaft, die nach andern Prinzipien als Profitmaximierung und Konkurrenz bis aufs Blut funktioniert, nämlich nach den Prinzipien der Solidarität, der Freiheit und der offenen Kommunikation.

Von Liebe habe ich allerdings nicht mehr viel gespürt, als ich vor dem nigelnagelneuen Wasserwerfer der hessischen Polizei stand. Dazu hatte ich zuviel Angst. Und meine Mitdemonstrant_in mit der Beule am Kopf wird sich ihr T-Shirt mit dem Herzen vorne drauf und dem Slogan „reloveUtion“ hinten drauf das nächste Mal vielleicht auch nicht mehr anziehen.

Eines meiner Lieblingsbücher neben der Bibel ist ja das Grundgesetz der Bundesrepublik deutschland. Dort kannst du die folgenden verfassungsmäßigen Grundlagen unserer Staatsordnung nachlesen:

Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden. (Artikel 2)

Weiter heißt es ebenda:

Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. (Artikel 20)

Wie würden Sie das 9stündige Festhalten von 1000Personen in einem Polizeikessel, ohne genügend Wasser oder eine Toilette allein mit der Begründung, einige der Eingekesselten hätten ein Tuch vor dem Mund gehabt und es seien Feuerwerkskörper geworfen worden, vor dem Hintergrund dieser Grundgesetzartikel beurteilen?

Schöne Grüße, Herr Bouffier, ich empfehle Ihnen wärmstens diese zwei Bücher:

Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Autorenkollektiv.

Die Bibel. Verfasser nur teilweise bekannt.

In welcher Reihenfolge Sie sie lesen und welches ihnen wichtiger ist, ist mir egal.

 

Das zweite Gesicht des Kapitalismus

Ein Kommentar zu dem Artikel „Wer gibt uns einen Feind mit Gesicht?“ von Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung vom 27./28.8.2011

Ich habe ein Problem: Ich habe Angst vor den Auswirkungen der Finanzkrise. Das ist besonders deshalb bemerkenswert, weil ich als Beamter in Deutschland arbeite und damit die materiell und institutionell abgesichertste Position einnehme, die es weltweit überhaupt gibt. Die Finanzkrise könnte mir persönlich also im Unterschied zu den gleich gut Qualifizierten meiner Generation in Spanien, Portugal und Italien egal sein. Sie ist es aber nicht.

Das ist auch kein Wunder, denn seit Jahren lese ich in der Süddeutschen in schöner Regelmäßigkeit davon, dass wir in einer permanenten Krise leben, da unser Wirtschaftssystem instabil sei. Als historisch gebildeter Mensch erinnere ich mich an die Bilder von jungen Männern, die ein Schild um den Hals tragen, auf dem steht: „Nehme jede Arbeit an“, und daran, dass kurz danach die Nazis die Wahlen gewannen. Als politisch informierter Mensch kenne ich die Ausmaße der Staatsverschuldung meines Landes und der Nachbarländer und ich erinnere mich noch an die letzten Krisen: Das Platzen der Dot-Com-Blase, die Argentinien- und die Asienkrise. Ich beobachte, wie unter Verweis auf durch Wirtschaftskrisen verursachte politische Sachzwänge die Sozialtransferleistungen gekürzt werden. Ich beobachte den Verkauf von staatlicher Infrastruktur an die Privatwirtschaft, zum Beispiel im Bereich der Post, der Telekommunikation, der Wasserversorgung und der Gesundheitsversorgung. Ich beobachte, wie mit den so flüssig gemachten Steuergeldern bankrotte Banken gekauft werden, weil sie als systemrelevant eingestuft werden.

Ich frage mich, was für ein System das ist, für das Banken wie die HypoRealEstate „relevant“ sind: Banken, die mit gebündelten Hypothekenkrediten handeln, die auf völlig illusorischen Wertprognosen beruhen und deshalb in sich zusammenfallen.

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es ein System ist, zu dessen Grundstruktur permanente Krisen gehören. Ich kann mich außerdem des Eindrucks nicht erwehren, dass aus jeder systemisch produzierten Krise die meisten großen Akteure als Gewinner und die meisten kleinen Akteure als Verlierer hervorgehen. Und trotzdem glaube ich nicht, dass die großen Akteure das System so programmieren. Insofern ist tatsächlich die Suche nach einem Feind mit Gesicht ein Fehler.

Thomas Steinfeld irrt übrigens, wenn er behauptet: „Der Wirtschaft steht die Aufklärung noch bevor.“ Richtig ist: Die Anhänger der neoliberalen Doktrin haben sich bisher als ausgesprochen resistent gegen die Aufklärung über ökonomische Verhältnisse erwiesen. Der Glaube an die Selbstregulierung der Märkte ist in weiten Teilen der politischen Kaste trotz aller gegenläufigen Erfahrungen der letzten Jahrzehnte ungebrochen. Und tatsächlich haben diese Leute Recht: Natürlich regulieren sich die Märkte selbst. Ganz regelmäßig sind die großen privaten Vermögen die Gewinner und die Allgemeinheit ist die Verliererin. Jeder Marktteilnehmer hält sich an die Regel, dass in Konkurrenz zu den anderen möglichst viel Gewinn gemacht werden muss. Dadurch werden die Reichen im Verhältnis zu den Armen immer reicher. Das Marktgeschehen ist also, von einer höheren Warte aus betrachtet, tatsächlich sehr reguliert. Nur eben falsch reguliert.

Ich denke, dass die Demokratie langfristig nur bestehen kann, wenn sie dem ökonomischen System Regeln gibt, die das Allgemeinwohl herstellen und erhalten. Im Falle des Finanzsystems sind die demokratischen Staaten der Welt ein solches Regelwerk bisher schuldig geblieben, vor allem wegen des Egoismus und der widersprüchlichen Interessen reicher Nationen wie der BRD und der USA. Es wird Zeit, dass sich das ändert.