Ich weiß nicht, ob Dir das auch so geht, aber ich fühle mich oft schuldig, wenn ich nicht arbeite. Ich sitze dann auf meinem Sofa und nach spätestens einer halben Stunde Nichtstun plustert sich mein Gewissen auf und brüllt: Arbeite! Arbeite, Du faules Stück! Und dann versuche ich meistens, mich ein bisschen locker zu machen und zögere die Pause noch um ca. 20 Minuten hinaus, wodurch sich mein schlechtes Gewissen proportional dazu aufbläht, bis ich fast ganz davon ausgefüllt werde und irgendwann aus Angst, meine Psyche könnte sich vollständig in ein einziges schlechtes Gewissen verwandeln, aufstehe und mich an den Schreibtisch setze.
Ich hab jetzt ein paar Tricks entwickelt, um mein Gewissen auszutricksen. Meine Freunde fragen in letzter Zeit immer, wieso meine Wohnung so aufgeräumt und sauber ist. Die Antwort ist ganz einfach: Weil ich, wenn ich putze, zwar nicht meiner Arbeit nachgehe, aber doch irgendwie was Produktives mache. Also hänge ich Wäsche auf, spüle Geschirr, obwohl ich eine Spülmaschine habe und wische auch mal den Küchenfußboden. Aus Gesprächen mit Lehrerkolleg*innen weiß ich, dass diese Strategie weit verbreitet ist.
Ein anderer Trick ist, sich Verpflichtungen aufzuerlegen, die zwar freiwillig sind, aber moralisch Sinn machen, zum Beispiel ehrenamtliche Arbeit. So habe ich einem Iraker Deutschunterrcht gegeben und sammle Unterschriften gegen das TTIP. Das Schöne an diesem Trick ist: Man hat mit netten Leuten zu tun, die man sich selber aussucht, aber das Gewissen kann dagegen nichts machen, weil es moralische Rechtfertigungen daür gibt, nicht zu arbeiten.
Aber das ändert nicht grundsätzlich etwas an diesem Schuldgefühl, was immer lauert, wenn ich mich vor unangenehmen Arbeiten drücke. Zum Glück bin ich nicht so diszipliniert, dass ich aufhöre, Philosophie zu lesen. Im Moment lese ich Judith Butlers „Psyche der Macht – das Subjekt der Unterwerfung“ und bin da auf eine interessante Erklärung für mein schlechtes Gewissen gestoßen. Judith Butler stellt sich die Frage, wie Subjektivation und Macht zusammenhängen. Eine Erklärung lautet: Macht erzeugt die Illusion, grundsätzlich schuldig zu sein, und sich nur durch mühsame Arbeit von dieser Schuld befreien zu können. Das Perfide ist, dass Menschen den Wunsch haben, als Subjekte anerkannt und respektiert zu werden: Wir wollen, dass unsere Stimme gehört wird und unser Wille etwas zählt. Und dieser Wunsch bringt uns dazu, uns schuldig zu fühlen, obwohl wir gar nichts tun – genauer gesagt: wir fühlen uns schuldig, weil wir gar nichts tun. Denn um anerkannt zu werden, müssen wir etwas leisten, das bedeutet: uns unterwerfen und arbeiten. Verweigern wir diese Arbeit, wenden wir uns gegen unsere eigenen Wünsche nach Anerkennung.
Das erinnert mich jetzt an eine These aus Freuds Psychoanalyse: Der erklärt das Gewissen so, dass sich ein Teil der Triebenergie, die in Form von Wünschen unser Verhalten leitet, gegen das Es, unsere Triebe, wendet. Letztendlich steht dahinter eine triebökonomische Strategie: Triebkontrolle soll vollständigere Befriedigung der Triebwünsche ermöglichen als der Verzicht auf Kontrolle.
Judith Butler geht einen beträchtlichen Schritt weiter: Sie schreibt nämlich, dass die Erzählung, die unser Schuldbewusstsein hervorruft, keinen Sinn macht: Schuldig können nämlich nur Menschen sein, die den Subjektstatus schon haben, dass heißt denen Verantwortung für ihre Taten zugeschrieben werden kann, weil sie sich im Raum der diskursiven Macht positioniert haben. Blöderweise ist die Schuld aber sowas wie die Eintrittskarte in diesen diskursiven Raum. Ohne Schuld kein Subjektstatus, aber, ups: Ohne Subjektstatus keine Schuld. Die Erzählung lautet: Du warst schuldig und musst dich deshalb dem Diskurs unterwerfen, dann bekommst Du deinen Status als Subjekt und kannst arbeiten, um Buße zu tun. Der Haken an der Story ist nur: Das Subjekt der Schuld entsteht erst durch die Buße. Daher kann die Erzählung, die unser schlechtes Gewissen hervorruft, nicht stimmen: Die Schuld kann nicht der Grund für unsere Unterwerfung sein, weil wir vor der Unterwerfung gar nicht schuldfähig sind.
Das kommt mir alles verdächtig bekannt vor: Im Christentum gibt es die Erzählung von der Erbschuld – danach haben wir von Adam und Eva die Schuld geerbt, durch das Essen vom Baum der Erkenntnis aus dem Paradies vertrieben, müssen wir im Schweiße unseres Angesichts für unsern Lebensunterhalt arbeiten, die Frauen müssen bei der Geburt ihrer Kinder Schmerzen leiden, und wir haben es irgendwie selbst verbockt, weil die Menschheit sich mit ihrem Erkenntnisdrang selbst ihrer Unschuld beraubt.
Also fühle ich mich schuldig, wenn ich faul bin, weil mir eine Geschichte erzählt wird, die nicht stimmen kann. Schuld kann man nicht erben, und niemand kann mich mit der Begründung, ich hätte ja schon eine Eintrittskarte in den Raum der Macht, dazu zwingen, dass ich eine Eintrittskarte in den Raum der Macht kaufe.
Ich werde versuchen, beim nächsten Mal, wenn ich auf meinem Sofa ein schlechtes Gewissen bekomme, daran zu denken, dass man nicht jede Geschichte glauben kann.