Die Klimakrise und das Ende des Kapitalismus: Eine Alternative zu Ulrike Herrmanns Vorschlag

Am Donnerstag war ich in Marburg beim Vortrag von Ulrike Herrmann über ihr Buch „Das Ende des Kapitalismus“. Ganz grob zusammengefasst hat sie da mit Witz und Verve die These vorgetragen und verteidigt, dass der Kapitalismus eigentlich ein besseres Leben für alle bringt, aber zum Funktionieren ständiges Wirtschaftswachstum braucht, was nicht unendlich weitergeht auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen. Deshalb sei es eine Illusion, zu glauben, es könne grünes Wirtschaftswachstum geben. Also käme der Kapitalismus bald an sein Ende. Wir hätten nur die Wahl, ob dieses Ende chaotisch oder geordnet ablaufe. Sie ist für ein geordnetes Ende und schlägt dazu vor, grünes Schrumpfen zu organisieren, indem wir als Gesellschaft planen und bestimmen, was und wieviel produziert und konsumiert werden darf. Es dürfe zum Beispiel pro Person nur 50 qm Wohnfläche in Deutschland zugeteilt werden. Wenn Frau Quandt, der ein großer Anteil von BMW gehört, eine zu große Villa habe, müsse sie dann eine WG gründen.

In der Diskussion gab es auch Kritik aus dem Publikum, eine junge Frau in der Reihe vor mir sagte, dass das Problem am Kapitalismus ja nicht nur sei, dass die Natur zerstört werde, sondern auch, dass er Ausbeutung erzeuge. Darauf antwortete die Autorin, dass Ausbeutung wie zum Beispiel Sklavenarbeit den Kapitalismus hemme, weil dieser nur zur vollen Dynamik käme, wenn die Arbeiter*innen genug verdienten, um Massenkonsum möglich zu machen. Nur durch hohe Löhne könnten nämlich viele Menschen große Massen von Produkten kaufen.

Mir ist wie so oft ein guter Beitrag zur Diskussion erst Tage später eingefallen. Hier ist er nun: Mein Einwand gegen ihre These über den Kapitalismus ist folgender: Der französische Sozialhistoriker Fernand Braudel hat in seinem Buch „Die Dynamik des Kapitalismus“ 1985 die These aufgestellt, das Marktwirtschaft und Kapitalismus nicht dasselbe sind, sondern Gegensätze. Er meint nämlich, dass der Kapitalismus eine Struktur ist, die den Markt außer Kraft setzt. Für Braudel ist der Kapitalismus ein System, in dem Macht- und Wissensvorsprünge zum Beispiel von großen Konzernen genutzt werden, um eigentlich gute Marktmechanismen wie die freie Preisbildung außer Kraft zu setzen. Ein Beispiel ist dieses: Wenn Textilkonzerne über die Preise von Rohstoffen (wie Baumwolle), Lohnkosten (wie den Löhnen von Näher*innen in Bangladesh) und von Vorprodukten (wie Baumwollstoffen) in den globalen Lieferketten gut informiert ist, diese Information aber ihren Zulieferbetrieben und Partnerunternehmen, ihren Konkurrenzunternehmen und den Konsument*innen vorenthalten können, können sie viel bessere Preise für sich durchsetzen, als wenn alle über die realen Preise und Kosten des Konzerns Bescheid wüssten. Deshalb nutzen nach Braudel große Konzerne systematisch das Informationsdefizit aller anderen, um sich zu bereichern. Durch das daraus gewonnene Kapital bekommen sie noch mehr Macht über den Markt und zerstören die Marktmechanismen oder setzen sie ganz oder teilweise außer Kraft, indem sie zum Beispiel berechnen, wie lange sie Dumpingpreise für ihre Produkte durchhalten können, bis sie Konkurrenzunternehmen aus dem Markt gedrängt haben.

Ulrike Herrmanns Vorschlag, durch Rationieren die Wirtschaft grün zu schrumpfen, löst dieses Problem glaube ich nicht. Zwar wäre dann die Preisbildung kontrolliert, weil die Gesellschaft die Preise vorgeben würde und die Konzern-Machtpolitik durch Informationskontrolle nicht mehr funktionieren würde. Aber das Problem würde dann vermutlich bloß verwandelt wieder auftreten, weil es Institutionen geben müsste, die die Preise und die Zuteilungen festlegen. Institutionen sind aber immer beeinflusst durch soziale Kräfteverhältnisse. Ganz nüchtern prognostiziert würden dann wieder große Gruppen und Organisationen Macht- und Wissensvorsprünge nutzen, um für sich die profitabelsten Preise und Rationierungen durchzusetzen, bloß nicht auf dem Markt, sondern in einer anderen Institution wie dem Staat oder in zivilgesellschaftlichen Steuerungsstrukturen. In einer Gemeinwohlökonomie wären solche Strukturen zum Beispiel Bürger*innenräte, die Firmen nach Gemeinwohlkriterien bepunkten.

Mein Lösungsvorschlag wäre, diese 3 Institutionen, Markt, Staat und Gemeinwohlräte sich gegenseitig kontrollieren zu lassen, um für Transparenz für alle zu sorgen. Das sollte nicht nur national, sondern auch auf internationaler Ebene geschehen. Das Lieferkettengesetz enthält zum Beispiel einen Versuch des deutschen Staates, die Konzerne zu Transparenz zu zwingen, um idealere Märkte entstehen zu lassen. Das wird aber ohne internationale Regeln für Lieferketten nicht gut funktionieren, weil deutsche Konzerne in globaler Konkurrenz stehen. Wir brauchen eine ähnliche Regel also auch auf EU- und internationaler Ebene.

Außerdem sollte meiner Meinung nach das Kartell- und Steuerrecht international so umgestaltet werden, dass Macht mit der Zeit immer mehr dezentriert wird, indem das Kapital in der globalen Gesellschaft gerechter verteilt wird. Die internationale Mindeststeuer für global agierende Konzerne geht da in die richtige Richtung.

Zugleich müssen wir Bürger*innen, Lohnabhängige und Konsument*innen statt auf den Staat zu hoffen unsere ökonomischen Verhältnisse selber ändern, soweit das in dem bestehenden System geht, und mit einer Graswurzelökonomie den Staat, den Markt und die Gemeinwohlräte in der Transformation flankieren.

Mit diesem Programm könnten wir eventuell geordnet in die von Herrmann anvisierte Kreislaufwirtschaft übergehen. So könnten wir gleichzeitig das politische Problem von Herrmanns Rationierungs-Vorschlag lösen: Jeder Versuch einer starken staatlichen Lenkung der Wirtschaft, der mit bestehenden Privilegien bricht, wird nämlich zu einem politischen Rebound-Effekt führen. An den Bauern-Protesten sehen wir jetzt schon, was passiert, wenn die Bundesregierung bloß versucht, bereits bestehende staatliche Lenkung und Steuerung der Wirtschaft (zum Beispiel die staatliche Bezuschussung von Diesel durch Subventionen an die Agrarwirtschaft) milde klimaschonend zu reformieren. Wenn der Staat gemäß Herrmanns Vorschlag zukünftig sogar versuchen sollte, Rationierungen durchzusetzen, wird das entweder erst funktionieren, wenn die Notsituation nicht mehr zu ignorieren ist, also in einem Kollaps der natürlichen Systeme, der überall für alle spürbar ist, was wir ja gerade vermeiden wollen, oder es wird zu massiven sozialen Widerständen und Kämpfen und in deren Folge zu politischen Krisen kommen, die einen Rückschlag in klimafeindliche Politik bei den nächsten Wahlen erzeugen. Wir verlieren so im demokratischen Prozess wertvolle Zeit, die wir nicht mehr haben, weil die Klimakrise so schnell abläuft.

Gemeinwohlräte, funktionierende transparente Märkte und Graswurzelökonomie können im Konzert mit dem Staat vielleicht diese Klippen umschiffen. Idealere Märkte würden den meisten Menschen wirtschaftliche Vorteile bringen und zugleich die für die Wirtschaftsaktivitäten nötigen Informations- und Wissensflüsse ermöglichen. Diese können Staaten meiner Ansicht nach mangels Kompetenz und Mitteln gar nicht gewährleisten. Gemeinwohlräte könnten den Informationsfluss zwischen Staat und Bürger*innen verbessern, und zwar in beide Richtungen, so dass politische Krisen vermieden werden könnten. Und Graswurzelökonomie kann vielleicht das, was Ulrike Herrmann so kategorisch in Frage stellt: Grünes Wirtschaftswachstum erzeugen.

Gleich gehe ich zur Bieterunde meiner Solidarischen Landwirtschaft (SoLaWi). Bevor das zum Nischenphänomen vorkapitalistischer Sozialromantik erklärt wird: Pflanzen setzen Sonnenenergie zwar nur mit einem maximalen Wirkungsgrad von 20% um und sind damit scheinbar ineffizienter als die neuesten Photovoltaik-Module. Aber ein Baum braucht neben den Nährstoffen in seinem Samen nur die von ihm selbst erzeugte Sonnenenergie, um zu wachsen, während ein Solarmodul erstmal etwa 10 Jahre laufen muss, um die Energie wieder zu erzeugen, die bei seiner Herstellung verbraucht wurde, und da reden wir noch nicht über den Schwerölmotor des Containerschiffs, das das Modul von China nach Deutschland schippert. Holz kann dagegen wunderbar mehrmals recycelt werden, am Ende eines langen Nutzungszyklus dann als Energiequelle dienen oder je nach Bedarf in Form von Bauholz als CO2-Speicher verwendet werden, oder – ganz verrückte Idee – wir lassen den Baum einfach leben, wodurch er ganz von selbst und ohne jede menschliche Arbeit CO2 aus der Athmosphäre zieht, im Holz speichert und noch dazu zum Nulltarif Sauerstoff für Tiere herstellt und die lokalen Wasserkreisläufe reguliert. Grünes Wirtschaftswachstum ist glaube ich machbar, wenn wir den Blick von der Fixierung auf das E-Auto mal abwenden, und ein breiteres Bild gewinnen, das zum Beispiel auch Digitaltechnologie zur Kommunikation und Wissensgenerierung, in der Regionalwirtschaft traditionell erprobte Stoffkreisläufe, innovative sozioökonomische Experimentierpraxis und auch Schnittmengen der Sozialromantiken vieler Kulturen enthält, denn die sind für die Genese eines neuen gesellschaftlichen Konsenses nicht zu unterschätzen. Wir könnten dazu zum Beispiel die Prinzipien der ehrenwerten Ernte, wie sie Robin Wall Kimmerer aus Nordamerika überliefert, mit der europäischen Tradition der Allmende und anderen Sozialromantiken kombinieren. Das ist glaube ich nötig, weil die Sozialaufklärung, hier verkörpert in der ökonomischen Ideologiekritik, die Herrmann an Adam Smith, Karl Marx und ihren Nachfolgern mit deren eigenen methodischen Mitteln der ökonomischen und wissenschaftlichen Analyse übt, an ihre historischen Grenzen gestoßen ist. Aufklärung hat uns das Wissen gebracht, die Klimakrise und ihre Ursachen zu erkennen, aber nicht die Motivation, sie zu überwinden. Motivation braucht neue Narrative. Ich habe deshalb hier mal versucht, die Wirtschaftsgeschichte als Resonanzverhältnis statt als Kontrollverhältnis weiterzuschreiben.