Postpatriarchale Theoriebildung

Unsere Beziehungen sind durch die männliche Herrschaft massiv geschädigt, auch in meiner Generation, obwohl ich zu den Kindern der 2. Frauenbewegung gehöre, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts das Patriarchat glücklich sturmreif geschossen hatte. Das war die halbe Miete, und ich bin sehr dankbar dafür, aber stürmen müssen wir bis heute.

Ich glaube, dass wir in den feministischen Gemeinwesen von unseren Partner*innen insgeheim oft erwarten, dass sie die Verletzungen heilen, die uns in unseren patriarchal deformierten vorherigen Beziehungen, inklusive denen zu unseren Eltern, zugefügt wurden.

Das ist, glaube ich, eine in weiten Teilen unerfüllbare Erwartung, weil das Genesen vom Patriarchat nur ein gesamtgesellschaftlicher Heilungsprozess sein kann. In privaten Beziehungen ist das nur sehr begrenzt möglich, weil sie einen engen Rahmen haben, innerhalb dessen bloß relativ kleine Freiräume für gegenseitige Fürsorge und Akzeptanz möglich sind.

Die sturmreife, aber noch nicht gestürmte männliche Herrschaft erzeugt Chaos, nebeneinander stehende, miteinander konkurrierende soziale Ordnungen, die dann in unseren Beziehungen als Widersprüche im Fühlen, Denken und Handeln schmerzhaft wirken. Ich widerspreche mir selbst, und Du widersprichst Dir selbst, das ist eine komplexe und unberechenbare Situation, wir scheitern deshalb oft darin. Wir sind außerdem damit großteils alleingelassen, denn weder die Staaten, noch andere Institutionen unterstützen uns wirklich solide in dieser Aufgabe. Wir müssen uns selber helfen, aber das geht vermutlich nur in großen Gruppen und sozialen Bewegungen, weil nur die sich genug ermächtigen können, aber dabei zugleich eigene Dynamiken haben und die Komplexität oft nochmal steigern, was auch nicht gerade hilft.

Ein halbes Pfund Bildung, bitte!

Das Bildungssystem basiert zur einen Hälfte auf der Erkenntnis, dass nur unter hohem Druck Diamanten entstehen, und zur anderen Hälfte darauf, zu ignorieren, dass jedes in einem Diamanten feststeckende Atom dem Stoffkreislauf des Lebens verloren geht.

Warum Rechtspopulismus zum Desaster führt – eine evolutionssoziologische Hypothese

Ich lese gerade nach einem Impuls einer befreundeten Meeresbiologin das Lehrbuch „Essentials of Ecology“ von Townsend et al. Das ist für einen Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler wie mich außerordentlich lehrreich, weil es meine Konzepte von Wissenschaft in Bewegung bringt. Da bin ich natürlich gar nicht besonders originell, sondern in ehrwürdiger Tradition: Niklas Luhmann hat zum Beispiel wesentliche Elemente seiner soziologischen Theorien den Naturwissenschaften entlehnt, sein Konzept der Autopoeisis (Selbsthervorbringung) von Systemen stammt aus der Kognitionsbiologie von Maturana und Varela. Ein weiteres naturwissenschaftlich inspiriertes Element seiner Soziologie ist die Hypothese, dass Gesellschaften sich durch Evolution und nicht durch Revolution entwickeln.

Ich will aus diesen Annahmen eine Erklärung herleiten, warum Rechtspopulismus eine zwar verstehbare, aber zugleich falsche und destruktive Reaktion auf die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte ist.

Zuerst will ich erklären, wieso Luhmann seine Hypothese der Evolution von Gesellschaften entwickelt hat. Nach Luhmann ist einer der wichtigsten evolutionären Schritte der Entwicklung von Gesellschaften der letzten 300 Jahre die Entwicklung von stratifikatorischen (absolutistischen) Gesellschaften zu funktional differenzierten Gesellschaften. Am Beispiel des Verhältnisses von Wirtschaft und Politik erklärt bedeutete dieser Evolutionsschritt: Vorher war die Wirtschaft und die Politik eines Landes auf das Zentrum des Königshauses hin organisiert. Im absoluten Herrscherhaus liefen sowohl die Fäden der Macht, als auch des Geldes zusammen und von diesem Zentrum aus wurden die ökonomischen und politischen Entscheidungen für die Gesellschaft organisiert. Im Absolutismus war also der König die Sonne und deren Strahlen organisierten die umliegende Gesellschaft politisch und wirtschaftlich (um mal ein bekanntes herrschaftsverbrämendes Bild zu zitieren).

Im Gegensatz zu anderen Gesellschaftswissenschaftlern sieht Luhmann es nicht so, dass 1789 durch die Revolution in Frankreich diese Gesellschaftsform willentlich und bewusst vom französischen Volk abgeschafft wurde, um eine neue, die bürgerliche Demokratie, an ihre Stelle zu setzen, sondern die Gesellschaft hat sich eigenlogisch so entwickelt, dass aus einem Zentralsystem einzelne, voneinander abgegrenzte Teilsysteme entstanden sind, die jeweils einzelne Funktionen für die Gesamtgesellschaft erfüllen. Das nennt Luhmann „funktionale Differenzierung“. Die Politik als Teilsystem der Gesellschaft habe nach diesem Entwicklungsschritt die Funktion übernommen, für die Gesellschaft kollektiv bindende Entscheidungen zu generieren. Die Wirtschaft als Teilsystem habe die Funktion übernommen, die Gesellschaft mit knappen Gütern zu versorgen, zum Beispiel mit Nahrungsmitteln (im Gegensatz zu relativ frei verfügbaren Gütern wie Luft, wofür die Gesellschaft erstmal kein System braucht). Die neue Gesellschaft hatte dann anstelle eines einzigen Systems parallel die demokratischen Institutionen und davon unabhängig den Markt und die Ökonomie.

Diese Funktionssysteme schließen sich nach Luhmann gegeneinander ab, indem sie ein jeweils eigenes Kommunikationsmedium für ihre Kommunikationen verwenden und einen jeweils eigenen Code. Das politische System kommuniziere im generalisierten Kommunikationsmedium Macht und im binären Code „Regierung-Opposition“. Alles, was keinen Einfluss auf die Machtverhältnisse habe (also dafür, wer regiert und wer opponiert), sei für das politische System nicht beobachtbar und kommunizierbar. Das Wirtschaftssystem dagegen kommuniziere im Medium Geld und mit dem Code „Zahlung-Nichtzahlung“. Es könne daher nur beobachten und kommunizieren, was in diesem Code beschreibbar sei. Um das an einem fiktiven Beispiel zu erklären: Wenn die Regierung der BRD beschlösse, dass ab jetzt im Straßenverkehr bei roten Ampeln gefahren würde und bei grünen Ampeln stehenzubleiben sei, dann wäre das für die Wirtschaft egal, weil es keinen im Medium Geld kommunizierbaren Unterschied machen würde. Die Ampeln könnten alle bleiben wie sie sind, der Staat müsste keine neuen installieren, es würde nichts kosten und auch keinen Gewinn bringen, deshalb würde das Wirtschaftssystem darauf gar nicht reagieren.

Die Bürger*innen würden allerdings furchtbar wütend werden, weil sie sich mühsam umgewöhnen müssten, und würden die Regierung wahrscheinlich abwählen, weil die Aktion nur Mühe und Gefahren und keinen Sinn machen würde. Also wäre das im Medium Macht relevante Information.

So funktioniert nach Luhmann funktionale Differenzierung. Ein weiteres gesellschaftliches Teilsystem neben Wirtschaft und Politik ist zum Beispiel Wissenschaft. Auch sie hat einen eigenen Code (wahr/falsch).

Jetzt habe ich mir die Frage gestellt, warum sich diese Gesellschaft von mehreren Funktionssystemen evolutionär gegen die stratifikatorische Gesellschaft mit einem Zentrum durchgesetzt hat. Wenn ich den Gedanken der Evolution ernst nehme, dann müssen die funktional differenzierten Gesellschaften ja Selektionsvorteile gegenüber zentralisierten Gesellschaften haben, sonst würden sie sich in der Evolution nicht durchsetzen.

Vielleicht hilft bei der Beantwortung dieser Frage wieder die Evolutionsbiologie. In dem Essentials Buch wird der Begriff „community“ für das verwendet, was ich früher noch als „Ökosystem“ gelernt habe: Als „community“ bezeichnen Evolutionsbiolog*innen eine Art Lebensgemeinschaft von Organismen verschiedener Spezies, die in einem bestimmten Raum zusammenleben und miteinander in Interaktion (Konkurrenz, Ergänzung oder gegenseitige Unterstützung) stehen. In diesem Sinne sind zum Beispiel alle Organismen, die in den Alpen leben, eine community. (Ich werde im Folgenden „community“ mit „Gemeinwesen“ übersetzen).

Jetzt kann ich mir die Frage stellen, welchen Evolutionsvorteil Gemeinwesen mit funktionaler Differenzierung gegenüber Gemeinwesen haben, die auf ein einziges Zentrum ausgerichtet sind, also in der Metapher eine zentrale Spezies, sagen wir: Die alpine Fichte. Offensichtlich ist ein Gemeinwesen, das auf eine einzige Spezies ausgerichtet ist, genauso stabil, wie es diese Spezies ist. Wenn sich Umweltbedingungen so ändern, dass diese Spezies nicht mehr gut überleben kann, ist das ganze Gemeinwesen in Gefahr, unterzugehen, sagen wir: Durch die Klimaerwärmung. Gibt es aber andere Spezies, ist das Gemeinwesen also differenziert und diversifiziert, im Bild: Gibt es Douglasien, Kiefern und Lärchen zusätzlich zur Fichte, können die anderen Spezies Ausfälle der Systemleistungen, die die Fichte erbracht hatte, kompensieren. Die Lärche würde sich nach meinem biologischen Laienwissen wahrscheinlich nicht durchsetzen, aber Douglasien und Kiefern könnten sich auf Standorte geschädigter Fichte-Populationen ausbreiten. Das Gemeinwesen ist dann stabiler gegenüber Stress durch sich verändernde Umweltbedingungen und kann sich besser an sie anpassen, als ein Gemeinwesen, in dem es nur die Fichte gibt. Dadurch setzen sich in der Evolution tendenziell funktional differenzierte, diversifizierte Gemeinwesen gegenüber solchen durch, die arm an Spezies und zentralisiert sind. Der entsprechende Lehrsatz der biologischen Ökologie ist: Je diversifizierter ein System ist, je mehr unterschiedliche Spezies es also enthält, desto anpassungsfähiger und deshalb stabiler ist es als ganzes.

Nun komme ich zum Kern meiner Hypothese: Um die Frage zu beantworten, ob die AfD und andere rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien in Europa und den USA die richtigen Antworten auf die Krisen der Gegenwart vorschlagen, können wir diese evolutionssoziologische Analyse verwenden.

Die wichtigste Veränderung der Umweltbedingungen für die Gemeinwesen ist aus meiner Sicht seit Jahrzehnten die Globalisierung. Was passiert ist, lässt sich mit Luhmanns Konzepten so beschreiben, dass sich die wirtschaftlichen Funktionssysteme einzelner Staaten zunehmend international miteinander verzahnt haben, also aus nationalen Subsystemen ein großes internationales Wirtschaftssystem geworden ist. In einer Art Koevolution ziehen die politischen Subsysteme nach, was sichtbar wird in der Suprastaatlichkeit der EU und in den G8 und G20 Gipfeln. Es zeigt sich hier meiner Hypothese nach, dass die Funktionssysteme wie Spezies in einer community sich nicht nur funktional ergänzen, sondern zugleich auch in Konkurrenzverhältnissen zueinander stehen und einander verdrängen können. Die internationale Verzahnung der Wirtschaftssysteme stellt einen Selektionsvorteil der Wirtschaftssysteme gegenüber den weniger international verzahnten politischen Systemen dar. Die Wirtschaftssysteme transformierten sich metaphorisch gesprochen von Subsystemen der nationalen Gemeinwesen zu Umweltbedingungen für diese nationalen Gemeinwesen. Das ist ziemlich ähnlich dem, was die Spezies Mensch spätestens in den letzten 500 Jahren im Bezug auf die ökologischen Spezies-Communities gemacht hat: Unsere Spezies und unsere Gesellschaft haben sich selbst von einem Teil der ökologischen Gemeinschaften zu einem Umweltfaktor für alle ökologischen Gemeinschaften global gemacht, Die Gesellschaft der Menschen gestaltet zu einem maßgeblichen Teil heute die Umwelt für die anderen Spezies und die communities, in denen sie leben. Ein Schlüssel für diesen evolutionären Erfolg der Spezies Mensch ist genau die Globalisierung und die Verzahnung der Wirtschaftssysteme miteinander. (Karl Marx schreibt schon 1848 im kommunistischen Manifest sinngemäß: „Der Kapitalismus hat die Weltwirtschaft faktisch verwirklicht.“).

Ich denke, dass wir an einer Art Kipppunkt der sozialen Evolution der Weltgesellschaft sind. Es könnte sein, dass sich die Weltwirtschaft als Zentrum einer auf einer neuen Ebene wieder stratifikatorisch organisierten Weltgesellschaft durchsetzt und die anderen Funktionssysteme auf sich ausrichtet. Es würde sich also als nächster Evolutionsschritt eine neue stratifikatorische, zentralisierte Ordnung entwickeln zwischen den nach wie vor differenzierten Funktionssystemen. Ganz im Sinne von Luhmanns deskriptivem soziologischen Ansatz kann ich das erstmal nüchtern als mögliche nächste Phase in einer historischen Entwicklung beschreiben. Möglicherweise ist die Tendenz dazu eine Folge der Krisen von Konkurrenz und Kriegen zwischen den Nationen und dem Scheitern von Imperien, die in einem anderen globalen Gesellschaftssystem evolutionär münden. Das würde dann aber gleichzeitig bedeuten, dass die Organisationen gemeinsamer Selbstbestimmung (also die Demokratien, die politische Systeme brauchen) durch das Wirtschaftssystem entmachtet oder sogar verdrängt werden könnten.

David Salomon hat mir erzählt, dass August Bebel gesagt hat: „Der Antisemitismus ist der Antikapitalismus der dummen Kerls.“ (Ich glaube nicht, dass er so etwas vergleichsweise Väterliches auch noch gesagt hätte, wenn er Zeuge der Shoa geworden wäre.)

Parallel dazu können wir heute sagen: „Der Rechtspopulismus ist die Globalisierungskritik der dummen Kerls.“ Die Rechtspopulisten verhalten sich so, als glaubten sie, dass wir eine neue stratifikatorische Weltordnung, in der die Weltwirtschaft das Zentrum der Funktionssysteme bildet, mit wiederhergestellter nationaler Souveränität der politischen Systeme kombinieren könnten. Bezogen auf die AfD erschließt sich daraus, warum deren Parteiprogramm fordert, Sozialleistungen zu kürzen und die Oberschicht steuerlich zu entlasten, zugleich die Grenzen zu schließen und aus der EU auszutreten. Die Utopie des AfD Programms ist eine souveränere Nation Deutschland, die Reichtum durch Kapitalismus generiert, ohne auf Menschen und Nationen außerhalb der Staatsgrenzen Rücksicht zu nehmen. Um in der globalen Konkurrenz unter der Hegemonie des Wirtschaftssystems erfolgreich sein zu können, müssen deshalb logischerweise die Arbeitskosten im Land minimiert werden (also niedrige Löhne und Sozialabgaben), das Kapital konzentriert werden (also niedrige Steuern) und zugleich die internationalen Verpflichtungen des politischen Systems reduziert werden (also Rückzug aus der EU und internationalen Abkommen).

In sich widersprüchlich ist diese Utopie deshalb, weil nationale Souveränität zwar pro forma gefordert, aber schon von vornherein ausgeschlossen ist: Souverän im eigentlichen Sinne des Wortes wäre in dieser Utopie keine Nation mehr, weil das Weltwirtschaftssystem die Umweltbedingungen setzen würde und es deshalb kaum noch Selbstbestimmung und Entscheidungsgewalt einzelner demokratischer Gemeinwesen mehr gäbe. Die Logik der ökonomischen Konkurrenz würde in einer solchen Zukunft die kollektiv bindenden Entscheidungen in jedem Nationalstaat bestimmen.

Das ist soweit klassische Globalisierungskritik, wie sie seit Jahrzehnten von attac und anderen Organisationen geübt wird. Sie argumentiert normativ, indem sie sich auf die Werte der französischen Revolution beruft: Freiheit, Gleichheit und Solidarität seien nur möglich, wenn demokratische Selbstbestimmung gegen die Logik der Ökonomie bestehen könne.

Was aber ergibt sich, wenn ich diese normative Setzung einklammere, und mit Hans Kelsen werterelativistisch davon ausgehe, dass der Wert der wirtschaftlichen Sicherheit genausogut als zentraler Wert an die Stelle von Freiheit gesetzt werden kann? (Vgl. Hans Kelsen: „Was ist Gerechtigkeit?“ Stuttart: Reclam.)

Evolutionssoziologisch problematisch ist vor allem eine wahrscheinliche Folge der oben skizzierten rechtspopulistischen Utopie: Die relative Instabilität des neuen globalen Gesellschaftssystems durch dessen stratifikatorische Ausrichtung auf die Wirtschaft als zentrale „Spezies“ des „ökologischen Gemeinwesens“. Denn diese würde die Fähigkeit der Weltgesellschaft verringern, sich an veränderte Umweltbedingungen anzupassen, weil alternative Funktionssysteme (wie die Politik, aber z.B. auch die Wissenschaft) geschwächt und in Peripherie und Dependenz verdrängt würden. Damit würden die Potentiale dieser Systeme verringert, bei starken Veränderungen der Umweltbedingungen Anpassungsprobleme der Weltwirtschaft auszugleichen.

Dialektischerweise erzeugt zusätzlich aktuell die Weltwirtschaft aber gleichzeitig, befeuert durch die zentralisierte Position der Ökonomie, genau solche schnellen und radikalen Veränderungen der Umweltbedingungen: Die Klimaerwärmung, das Artensterben und die großflächige Umgestaltung von Habitaten auf dem Land und in den Meeren sind Beispiele dafür. Die Utopie der Rechtspopulisten läuft also darauf hinaus, das Gesellschaftssystem unflexibler und weniger anpassungsfähig zu machen und zeitgleich seine Umweltbedingungen radikal und schnell zu verändern. Das ist offensichtlich eine Garantie für Desaster.

Also komme ich auch dann, wenn ich die Werte der französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Solidarität“ als normative Kriterien aus der Beurteilung ausklammere und stattdessen wirtschaftliche Sicherheit als zentralen Wert annehme, mit den Mitteln einer evolutionssoziologischen Beschreibung der Situation zu dem Ergebnis, dass das Programm des Rechtspopulismus, sollte es hegemonial werden, die Krisen der Gegenwart desaströs verschlimmern würde, statt sie zu lösen.

Mein Streik gegen die Revolution

Warum exportiert die spanische Wirtschaft Wasser in Form von Obst und Gemüse, wenn Wasser dort immer knapper wird? Nach der klassischen ökonomischen Theorie der komparativen Kostenvorteile von David Ricardo dürfte das unter Freihandelsbedingungen gar nicht passieren. Produziert werden müsste in Spanien nach dieser Theorie das, was dort am kostengünstigsten herstellbar ist – und Knappheit bedeutet normalerweise Kostensteigerungen.

Gleichzeitig fallen in Deutschland überall Massen von Äpfeln und Birnen von Obstbäumen und verfaulen auf dem Boden – während in deutschen Supermärkten ebenso massenweise Äpfel und Birnen gekauft werden, die aus Neuseeland quer über den Globus transportiert wurden. Was läuft falsch in den ökonomischen Systemen, so dass sie sich solche Ressourcenverschwendung leisten?

Ich könnte jetzt sehr leicht auf den Kapitalismus und seinen Wahnsinn schimpfen, aber ich bin dessen müde, weil eh die meisten Menschen nicht mehr zuhören, wenn wir Linken das tun. Deshalb versuche ich eine andere Erklärung des Problems.

Ich verwende dafür eine Kernidee der Systemtheorie des konservativen Soziologen Niklas Luhmanns. Danach ist das Wirtschaftssystem ein Funktionssystem der Gesellschaft, das autopoeitisch und selbstreferentiell ist. Das bedeutet, dass es sich von seiner Umwelt abgrenzt und sich nach außen schließt, indem es zur Kommunikation einen Code verwendet, der allen Informationsfluss von außen unterbricht, der für die Funktionsweise des Systems egal ist. Dieser Code unterscheidet nur Zahlung und Nichtzahlung. Alles, was nicht in diesem Code im Medium Geld kommuniziert werden kann, ist für das Wirtschaftssystem irrelevant und hat erstmal keine Effekte auf seine Prozesse.

Im konkreten Beispiel bedeutet das, dass es für die Firmen in Spanien nicht beobachtbar ist, ob die Wasserressourcen übernutzt werden, solange Wasser nicht wesentlich teurer wird. In Deutschland passiert dasselbe: Die Verbraucher*innen in der deutschen Ökonomie können in ihrer Rolle als Konsument*innen die Sinnlosigkeit davon nicht wahrnehmen, dass die Äpfel von den deutschen Bäumen vergammeln, solange es teurer ist, Arbeitszeit zum Äpfelsammeln zu verwenden, als aus Neuseeland herangeschiffte Äpfel im Supermarkt zu kaufen.

Das Wirtschaftssystem ist also so selbstbezogen und nach außen geschlossen, dass es zu seiner Umwelt, den Ökosystemen der Welt, keine direkten Kommunikationsbeziehungen mehr haben kann. Nach Luhmann muss es sich aber an die Umwelt anpassen, um sich zu erhalten. Dazu verwendet es strukturelle Kopplungen. Das bedeutet, irgendwie muss es, wenn die Informationen über Wasserknappheit schon nicht in den Preisen rechtzeitig und deutlich genug ausgedrückt werden, so dass es seine Strukturen dementsprechend verändern kann, trotzdem die Umweltinformationen verarbeiten.

Ich glaube, dass wissenschaftliche Organisationen wie der IPCC gerade genau das versuchen: Sie versuchen, das Wirtschaftssystem strukturell mit den Ökosystemen zu koppeln, indem sie die Ökonomie sensibel für die Knappheiten macht, die gerade entstehen, ohne dass sich das schnell genug in Kostensteigerungen und Preisen zum Beispiel für Wasser bemerkbar macht. Zu langsam ist dies, weil die globale Ökonomie der Menschen einen historisch einmaligen Grad an Macht über die Ökosysteme aufgebaut hat, gleichzeitig aber eine solche Trägheit in ihren Grundstrukturen, zum Beispiel der fossilen Energieinfrastruktur, dass sie Zerstörungen der Ökosysteme nicht rechtzeitig aufhält, bevor sie zu irreversiblen Knappheiten von Wasser und anderen Gütern führen.

Wenn die Wissenschaft planetare Belastungsgrenzen berechnet (die zum Beispiel bei der Umnutzung von Land und der Biodiversität schon weit überschritten sind), dann versucht es, Informationen in das geschlossene Wirtschaftssystem einzuschleusen, damit es sich an die Umwelt anpassen kann, so dass Wasser als grundlegende Ressource auch weiter zur Verfügung steht und das System sich nicht selbst zerstört. Das nennt Luhmann dann strukturelle Kopplung.

Auch das politische System versucht, in das Wirtschaftssystem solche Kopplungen einzubauen, zum Beispiel durch den Handel mit Emissionszertifikaten. Der Ausstoß von CO2 ist nämlich erstmal für die Wirtschaft gar nicht beobachtbar gewesen, weil er nichts gekostet hat: Die Atomsphäre konnte jahrhundertelang als Senke für die Abgase der Wirtschaft fast kostenlos genutzt werden, sie war eine Allmende – ein Gemeingut. Jetzt versucht die Politik, die Wirtschaft ausreichend darüber zu informieren, dass diese Allmende schon lange übernutzt ist. Sie versucht durch die Zertifikate die Schäden, die die Übernutzung verursacht, in den Code Zahlung-Nichtzahlung zu übersetzen, so dass das Wirtschaftssystem sie auch beobachten und darauf reagieren kann.

Organisationen, die von innen aus dem ökonomischen System selbst heraus ähnliche Kopplungen aufbauen, sind die großen Rückversicherungskonzerne wie die Münchener Rück, die schon seit Jahren warnen, weil die mit der Klimakrise verbunden ökonomischen Risiken etwa durch Dürren, Überschwemmungen und Stürme zu unberechenbar werden, um sich dagegen noch solide und zu einem akzeptablen Preis versichern zu können.

Leider gibt es daneben andere strukturelle Kopplungen des Wirtschaftssystems, die diese Versuche der Krisenbewältigung torpedieren, indem sie in genau die entgegengesetzte Richtung zielen: Das Wirtschaftssystem ist nach Luhmanns Theorie nicht nur umgeben von der Umwelt der planetaren Ökosysteme, sondern wir Menschen sind für das ökonomische System auch Umwelt. Luhmann interpretiert uns Menschen als „psychische Systeme“, und als solche sind wir Umwelt für das Wirtschaftssystem.

Das Wirtschaftssystem arbeitet nun schon lange und sehr erfolgreich daran, uns als psychische Systeme strukturell mit ihm zu koppeln, zum Beispiel mithilfe von Werbung, Arbeit und Mythen. Ein aktueller Mythos ist der Mythos von der Elektromoblität. Der Mythos sagt: Wir können mit Hilfe von E-Autos weiter so unbegrenzt mobil sein wie bisher, ohne unsere Lebensgrundlagen zu zerstören. Wir können unsere Lebensgewohnheiten einfach beibehalten, ohne die Krise der Knappheit zu verschärfen. Ein Mythos ist das deshalb, weil diese Erzählung wichtige Aspekte der Wirklichkeit ausblendet: Klimaerhitzung durch Treibhausgase stößt nur an eine der vielen planetaren Belastungsgrenzen. Elektromoblität bedeutet weitere Umnutzung von Land durch Lithiumabbau, Energieverbrauch und Emissionen durch Produktion neuer Autos und E-Bikes und weitere Straßen und Versiegelung von Boden und Erzeugung von giftigem Müll. Das sind alles Gründe für das Artensterben, eine Krise, die genauso bedrohlich für unser Überleben als Zivilisation ist, wie die Erderhitzung.

Soviel zum Mythos der Elektromobilität, der auch Menschen frisch mit dem Wirtschaftssystem koppelt, die schon Zweifel bekommen hatten, ob das alles so gut läuft. Was aber ist gefährlich an der Art, wie wir Arbeit definieren, und wie koppelt sie uns mit dem ökonomischen System? In Deutschland ist Arbeit, eingeengt verstanden als Erwerbsarbeit, mit der im Gegensatz zur häuslichen Sorge-Arbeit Geld verdient wird, ein so integraler Bestandteil des Selbstbildes, der sozialen Wertschätzung und der Selbstdefinition von Personen, dass die meisten Menschen durch ihre Arbeit fest an das Wirtschaftssystem gekoppelt sind.

Als ich beim letzten Klimastreik auf der Raddemo über die Marburger Stadtautobahn fuhr, brüllte uns jemand aus einem vorbeirasenden Auto von der Gegenfahrbahn aus zu: „Geht arbeiten!“. Das war in meinem Fall einigermaßen absurd, weil ich an dem Freitag aus einer vollen Arbeitswoche kam und an meinem ersten freien Nachmittag versucht habe, das Wirtschaftssystem mit der natürlichen Umwelt strukturell zu koppeln. Vor mir fuhr ein weißhaariger Mann auf der Raddemo und sagte dazu: Ich habe Jahrzehnte gearbeitet, ich habe meinen Teil getan.

Die Szene ist leider ein guter Indikator dafür, dass bei dem brüllenden Autofahrer die Kopplung seines psychischen Systems mit dem Wirtschaftssystem so fest ist, dass er Forderungen nach Veränderungen des Wirtschaftssystems, in diesem Fall der Mobilität, als Forderungen nach Veränderung seiner eigenen Psyche erlebt: Eine Kritik an der Autoökonomie erscheint ihm deshalb als Angriff auf seine eigene Integrität als Person. Das Auto, das er fährt, ist so gesehen viel mehr als ein Gegenstand, den er als Instrument seiner Mobilität verwendet: Es ist eine weitere Kopplung (neben seiner Erwerbsarbeit), die sein Körper und seine Psyche mit dem Wirtschaftssystem eingegangen sind. Erwerbsarbeit und Autobesitz sind außerdem zwei Kopplungen, die ineinander verschränkt sind: Viele brauchen ihr Auto, um zur Arbeit zu kommen, und brauchen umgekehrt das Erwerbseinkommen, um sich ein Auto leisten zu können.

Wieso finde ich diese Struktur absurd? Das sind doch erstmal Notwendigkeiten der Lebensrealität. Ich finde sie absurd, weil wir Menschen alle auch Lebewesen und durch unsere Körper Teil der Ökosysteme dieser Welt sind. Wir sind zum Beispiel durch Atmung und Ernährung mit allen anderen Lebewesen auf dem Planeten strukturell gekoppelt. Die strukturellen Kopplungen mit dem Wirtschaftssystem, die sich durch Mythen, Erwerbsarbeit und Autobesitz bilden, scheinen bei vielen Menschen aber so stark zu sein, dass sie nicht mehr wahrnehmen, dass Atmen, Trinken und Essen für ihre psychische und körperliche Integrität und diejenige ihrer Kinder und Enkel wichtiger sind als ihr Auto und der Benzinpreis. Die CDU plakatiert hier in Marburg: „Autofahren verbieten verboten“ gegen die sehr gute rot-grün-grüne Verkehrsreform Move 35. Die Marburger CDU ist damit nicht mehr konservativ, sondern eine revolutionäre Partei, weil sie mit Macht daran arbeitet, die Verbindung der Menschen mit der Biosphäre, die uns hervorgebracht hat und am Leben erhält, durch Kopplungen der Menschen mit einem Wirtschaftssystem zu ersetzen, das alle planetaren Grenzen zu sprengen und alle Verhältnisse, in denen die Menschen noch atmende, fühlende und in ihre Welt eingebettete Wesen sind, umzustoßen droht.

Das bedeutet: Um die Dürre in Spanien und die Verschwendung von gutem Essen in Deutschland zu stoppen, müssen wir nicht nur das Wirtschaftssystem mit der natürlichen Umwelt durch Klimaberichte und Emissionszertifikate strukturell koppeln, sondern wir müssen auch unsere psychischen Systeme vom Wirtschaftssystem aktiv entkoppeln. Ich versuche das, indem ich in Teilzeit arbeite, so auf Einkommen verzichte und Zeit gewinne, um auf Raddemos für die Verkehrswende zu fahren und mit meinem M-Bike (ich fahre eines dieser altmodischen Räder ohne Elektromotor) in meinen Radtaschen Äpfel und Birnen hier im Marburger Umland zu sammeln und dann zu verschenken. Entkopplung ist machbar, Herr Nachbar!

Nachhaltipp: Vegane Milch leicht und schnell selbst machen

Du willst nicht immer Verpackungsmüll für Deine vegane Milch in Kauf nehmen? Du suchst eine praktische und schnelle Methode, vegane Milch für Deine heißen Getränken selbst zu machen?

Du kannst in einem Milchaufschäumer Wasser und Nuss- oder Mandelmus zu einer veganen Milch aufschäumen lassen. Ich nehme für einen veganen Cappuccino einen gestrichenen Esslöffel Bio-Haselnussmus. Das geht schnell, spart Energie und Du musst keine Tetrapacks oder Flaschen mehr kaufen. Das Nussmus ist konzentriert und ein großes Glas reicht für mehrere Liter Nussmilch. Du hast dann einen leckeren Nougat-Cappuccino. Haselnussmus hat allerdings etwas gröbere Bestandteile, die nicht ganz zermahlen sind, an die Konsistenz musst Du Dich vielleicht erstmal gewöhnen.

Mandelmus dagegen ist so fein gemahlen, dass Du eine homogene Mandelmilch daraus schäumen kannst. Besonders lecker: Matcha Pulver mit Wasser und einem Esslöffel Mandelmus zu einem Matcha aufschäumen. Die 60-70 Grad des Aufschäumers sind genau perfekt für diesen sehr gesunden Tee. Das ganze dauert eine Minute. Praktisch ist, einen Teelöfel unter den Esslöffel Mus zu halten, um das Mus ohne Tropfen in den Aufschäumer zu bugsieren.

Auch super: Milchaufschäumer mit Hafermilch und Bio-Kakaopulver und Zucker befüllen, in einer Minute ist deine schaumige heiße Schokolade fertig. Deliziös!

Spüle Deinen Aufschäumer nach dem Gebrauch mit heißem Wasser aus, lasse ihn regelmäßig mit Wasser laufen, um ihn zu spülen und reinige ihn regelmäßig. Dann hast Du länger was davon, weil sich keine Ablagerungen bilden, und Dein Matcha schmeckt nicht nach Kakao (und umgekehrt).

Meinen Milchaufschäumer habe ich auf dem Sperrmüll gefunden. Durch die Stromersparnis, weil er viel weniger braucht als eine Herdplatte, und die gesparten Produktionskosten hat die Methode dann eine super Ökobilanz. Gebraucht kaufen ist auch ok.

Danke, Greta!

Dass Du Dich öffentlich gegen einen großen Teil der Ökologiebewegung dafür aussprichst, erstmal in Ruhe nachzudenken, bevor jetzt Atomkraftwerke abgeschaltet werden, das steigert meinen Respekt für Dich noch einmal.

Ich habe mit 16, 1993, bei den Jungen Grünen gegen Atomkraft protestiert, wir haben unter anderem an die Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl 1986 erinnert. Als ich 9 war, durften wir wegen der radioaktiven Wolke nicht mehr draußen auf dem Boden spielen. Ich bin gegen Atomkraft. Aber Prinzipien und Empörung allein bringen uns jetzt nicht weiter.

Wir stehen in politischen Kämpfen mit Rechtskonservativen und Rechtsextremen, für die ökologisch denkende Menschen der Feind sind, und sie bekommen, wie die AfD in Niedersachsen, immer mehr Stimmen. Mehr Menschen wählen die AfD, weil sie Angst haben, die Gas- und Stromrechnungen nicht mehr bezahlen zu können. Es ist nicht der Zeitpunkt, Symbolpolitik zu machen. Weil wir die Krise des Ukrainekrieges, der Klimakrise und der Pandemie alle gleichzeitig lösen müssen, müssen wir überlegen, was funktioniert, und nicht, wofür wir den meisten Applaus bekommen. Greta, Du bist meine Lehrerin.

Solidarität mit den russischen Anarchist*innen

Ein guter Freund und ich haben beide ein Problem: Es fällt uns schwer, als Linke angesichts des Ukrainekriegs eine klare Position zu den konkreten Maßnahmen gegen den Krieg zu finden.

Im Gespräch habe ich dann gesagt, dass es eigentlich nur eine Klarheit für mich gibt: Dass ich die Aktionen von russischen Anarchist*innen gegen die Kriegspolitik der russischen Regierung, von denen Bernhard Clasen in der Taz berichtet, gut und mutig finde.

https://taz.de/Sabotageakte-in-Russland/!5844653/

Deshalb bin ich solidarisch mit Aleksandra Skochilenko, die in einem Laden Preisschilder durch Informationen über den Angriffskrieg der russischen Regierung gegen die Ukraine ersetzt hat, und deshalb jetzt vor Gericht steht:

Quelle: Siehe den hier angegebenen Link, abgerufen am 29.7.2022:

https://avtonom.org/en/news/hearing-extension-pre-trial-detention-aleksandra-skochilenko

Die Aktivistin hat eine bipolare Störung und ist deshalb besonders verletzlich angesichts der Repression. Auf der Seite finden sich auch Spendenmöglichkeiten für die Aktivist*innen, die sich in Russland der Regierung widersetzen.

Mein Herz ist bei euch.

солидарность!

Sekundäre Heteronomie

Judith Butler schreibt in „Die Macht der Gewaltlosigkeit“, dass Menschen immer zuerst aufeinander angewiesen sind, bevor sie ein wenig Autonomie entwickeln können, die aber immer partiell und brüchig bleibt. Ich finde ihre Analyse des „Phantasmas“ des autonomen Subjekts, eines aus der Geschichte und den Beziehungen gefallenen Robinsons ohne Bindungen, sehr treffend. Allerdings bleibt für mich das Angewiesensein aufeinander ein Skandal: Wie ungerecht, als Säugling in eine Welt geworfen zu werden, in der ich ohne die Hilfe und Zuneigung anderer Menschen nicht überleben kann. Was kann unter diesen Umständen realistischerweise Freiheit heißen? Und wieso stanzt die Gesellschaft diese Freiheitsideale in mich ein, die Butler jetzt als Phantasmen enthüllt, wenn sie gar nicht wirklich erreichbar sind?

Heute beim Yoga, das ich jeden Morgen gegen meine Bandscheibenvorfälle mache, kam mir ein Gedanke, den Du vielleicht auch interessant findest: „Sekundäre Heteronomie“. Schon die primäre Heteronomie als Säugling ist ein Skandal, wie Butler ausführt: Sie ist der Grund, aus dem wir in Liebesbeziehungen immer auch Aggressionen auf die geliebte Person empfinden, weil wir, sobald wir einander nah kommen, durch diese Nähe und unsere Angewiesenheit auf die Liebe der anderen Person an unsere Verletzlichkeit als Säugling errinnert werden.

Viel mehr noch ist die sekundäre Heteronomie ein Skandal: Ich beobachte oft, dass Paare einander ergänzen, wofür es im Französischen das schöne Wort „Pendant“, Gegenstück, gibt. Wie ein Paar Schuhe, bei denen der linke ohne den rechten unbrauchbar ist und umgekehrt, funktionieren die Paare nur zusammen in dieser Gesellschaft gut, und sind einzeln hilflos. Das binäre System der Geschlechter ist fundamental auf diese Struktur aufgebaut, auch wenn ich vermute, dass die Pendant-Struktur andere Wege finden würde, sich durchzusetzen, selbst wenn das binäre System abgeschafft würde.

Die Pendant-Struktur ist eine Form von sekundärer Heteronomie: Sie greift, wo eigentlich Chancen auf Autonomie existieren, und unterläuft diese Chancen, indem sie Menschen dazu erzieht, einander auf eine bestimmte Weise zu brauchen. Ich habe mal bei einer Partner*innensuchplattform einen Persönlichkeitstest gemacht, mithilfe dessen der Algorhythmus mich dann matchen sollte. Ich sollte zum Beispiel geometrische Formen bewerten und eingeben, ob sie mich positiv ansprechen. Das Ergebnis des Tests wurde mir in einem Bericht zusammengefasst und auch gleich eine Empfehlung für meine Suche nach einer Partnerin gegeben: Ich sei ein sehr emotionaler Mensch und solle mir eine Frau suchen, die etwas rationaler plant.

Nun ist das leider wahr, rationale Planung ist wirklich keine Stärke von mir. Aber der Skandal besteht darin, dass unsere Gesellschaft eigentlich für eine Art Idealperson geschaffen zu sein scheint, in der alle Kräfte, Charaktereigenschaften und Kompetenzen ideal ausbalanciert sind. Menschen tun sich zu Paaren oder Gruppen oder Teams zusammen, auch weil sie von der Gesellschaft nicht individuell akzeptiert werden, so dass sie in ihr mit ihren Schwächen und Defiziten willkommen sind. Dahinter steckt der Leistungszwang, der alles soziale Leben durchzieht, und um dem gerecht zu werden wir diese Idealperson sein müssten, wenn es nicht die anderen Menschen gäbe, die uns helfen und ergänzen und uns so vom Druck, ideal sein zu müssen, entlasten.

Die Gesellschaft prägt also durch Leistungszwang unsere Beziehungen zu anderen und schafft so eine zweite, kulturell vermittelte Schicht unserer Persönlichkeit, die die erste unserer Bedürftigkeitserfahrung als Säugling überformt. Diese Schicht und ihre Berührungen mit anderen Menschen werden erneut zu einer Quelle von Wut, Ohnmacht, Verzweiflung und Schmerz. Vielleicht habe ich mich durch die primäre Erfahrung des Angewiesenseins so an die damit verbundenen Gefühle gewöhnt, dass die zweite Schicht daran andocken konnte und ich bereit war, trotz des dadurch entstehenden Leids diese neue Persönlichkeitsschicht anzunehmen. Sekundäre Heteronomie, aus der diese schmerzhaften Gefühle entspringen, ist noch frustrierender, weil sie eigentlich nicht notwendig wäre: Dass wir als hilflose Wesen geboren werden, ist eine biologische Realität, und wir können das nicht ändern. Aber die sekundäre Angewiesenheit auf ein Pendant ist nicht notwendig, sondern entspringt der falschen Struktur unserer Gesellschaft, ihren Leistungszwängen und von den Menschen abgekoppelten Idealen.

Das Einstanzen von Freiheits- und Autonomieidealen kann ich auf der Basis dieser Überlegungen nun auch besser analysieren: Es ist Teil der Struktur der Leistungszwänge, weil es Menschen dazu zwingt, die eigenen Defizite zu erkennen, zu beseitigen oder durch Beziehungen auszugleichen. Das ist das, worauf der Algorhytmus der Partner*innenbörse (und das Wort Börse trifft es ganz genau) mich sanft und unmissverständlich hingewiesen hat: Willst Du erfolgreich leben, dann suche dir eine Partnerin nach dem Schema xy. „Freiheit“ ist dann aber bloß noch eine Funktion im Algorhythmus einer Gesellschaft, die blind ist für reale Individuen, der es nur ums eigene Funktionieren und den Erhalt der sozialen Strukturen geht.

Mir

Am Sonntag war ich auf der Demo für Frieden in der Ukraine in Frankfurt.

Konsens der Redner*innen war, dass wir jetzt alle Flüchtenden aus der Ukraine aufnehmen müssen und dass die russische Führung der Aggressor ist und deren Armee sich sofort aus der Ukraine zurückziehen muss.

Dissens war deutlich bei der Frage, ob wir aufrüsten sollten, also das 100 Milliarden Euro Sondervermögen für Rüstung der Bundesregierung sinnvoll ist, und ob wir Waffen an die Ukraine liefern sollten. Attac und ein Friedensaktivist sprachen dagegen, der Attac Vertreter wurde dafür ausgebuht, der Frankfurter Oberbürgermeister Feldmann und ein Kirchvertreter sprachen dafür.

Für mich war interessant, dass die Demo auch dadurch bei einem gemeinsamen Grundkonsens sehr plural war, es fühlte sich sehr angenehm an, mit Menschen zusammen zu demonstrieren, die in Aspekten unterschiedlicher Meinung sind. Normalerweise bin ich auf Demos, wo gemeinsame gleiche Empörung stilbildend ist, und am Sonntag habe ich gemerkt, dass ich mich damit eigentlich wegen des Drucks, den das auf mich aufbaut, gar nicht so wirklich wohl fühle und eigentlich nur aus Pflichtgefühl hingehe. Die Fridays waren da schon ein bisschen anders, weil da viel Kreativität und wenig Frontendenken war. Vielleicht lernt die Zivilgesellschaft gerade, dass Pluralität und Gemeinsamkeit gar kein Widerspruch sein müssen.