Postpatriarchale Trickkiste, Trick Nr. 2: Ent-Identifizierung und Re-Identifizierung

Im Trick Nr. 1 habe ich über den patriarchalen Anteil geschrieben, der darin gründet, dazu erzogen zu sein, die eigene Trauer und den eigenen Schmerz nicht wahrzunehmen, sondern nur die eigene Wut.

Mir ist beim nochmaligen Lesen von Trick Nr. 1 aufgefallen, das etwas wichtiges fehlt. Denn woher kommt die Wut, die ich empfinde? Aus Trauer und Schmerz folgt ja nicht unbedingt notwendig Wut, sie können auch in Angst, Scham, Schuld und Verzweiflung münden.

Eine typische heutige Wutszene ist: Eine Mitbewohner*in klopft an meiner Tür. Ich werde wütend, fühle mich gestört und lasse sie, wenn überhaupt, nur widerwillig in mein Zimmer. Dabei muss ich mich dann oft innerlich sehr zusammenreißen, freundlich und nicht abweisend und schroff zu sein.

Biographische Szenen, in denen meine Wut gründet, sind die Wutausbrüche meines Vaters, der in mein Kinderzimmer kam und sich mir gegenüber aggressiv verhielt. Paradoxerweise passieren bei meiner Übertragung dieser biographischen Szenen auf die Situationen heute in meinem Wohnprojekt zwei gegenläufige Prozesse gleichzeitig: Ich empfinde die Wut noch einmal, die ich als Junge auf meinen Vater hatte, aber nicht zeigen konnte, weil ich körperlich unterlegen war, und die ich also unterdrücken musste. Und ich identifiziere mich zugleich mit der Aggressivität meines Vaters, und kopiere sein Emotionsmuster.

Die erste Wutempfindung richtet sich also auch gegen meine*n Mitbewohner*in als Stellvertreter*in für den nicht mehr präsenten Vater, weil ich mich aggressiv abgrenzen und mein Zimmer verteidigen möchte, was mir als Kind nicht so gut möglich war.

Zum anderen Teil richtet sich in meiner Identifikation mit dem inneren Aggressor meine Wutempfindung aber auch gegen mich selbst, weil ich mich dabei gleichzeitig daran erinnere, wie ich als Junge unter der Wut meines Vaters gelitten habe. Ich projiziere also in der Situation doppelt, setze mich als Vaterstellvertreter ein und projiziere mein kindliches Ich auf meine Mitbewohner*in.

Ich merke dann meistens irgendwie, dass meine Wutempfindung der heutigen Situation nicht wirklich angemessen ist, weil sich die Projektionen gegenseitig widersprechen und weil ich meine Mitbewohner*innen außerdem mag und mich eigentlich meistens freue, sie zu sehen. Aber da passende Empfindungen wie Freude, Empathie oder Neugier unter der alten Wut oft untergehen, bleibt mir dann nur, meine Wut innerlich gegen mich selbst zu wenden und als Energie für Selbstdisziplin zu verwenden. Dann mache ich die Tür auf, sage ein paar freundliche Worte und bin froh, wenn ich wieder alleine bin und keine Selbstdisziplin mehr ausüben muss.

Dass viele Männer im Alter Depressionen bekommen, Misstrauen ihr vorherrschendes soziales Gefühl ist und sie vereinsamen, ist vor dem Hintergrund solcher Muster echt kein Wunder. Eine Lösung kann eine Ent-Identifizierung mit dem inneren Aggressor sein.

Statt die Wut in Selbstdisziplin zu verwandeln und deshalb nicht wirklich in Beziehung treten zu können, kann ich mich mit anderen inneren Anteilen identifizieren, mit der Freude an der Beziehung zu nahen Menschen, dem Interesse an Ihnen und der Interaktion mit ihnen und der Sensibilität für deren Gefühle. Es gab es in meiner Kindheit viele biographische Szenen, in denen diese Gefühle und Haltungen prägend waren, und an die ich mich erinnern kann, auch mit meinem Vater. Ich kann also die Ent-Identifizierung mit dem inneren Aggressor mit einer Re-Identifizierung mit dem inneren Geschwisterkind, dem umsorgten Kind und den umsorgenden Eltern ergänzen. Gleichzeitig ist es sicher gut, sich der Erfahrungen, aus denen Wut sich speist, bewusst zu bleiben und diese Seite des eigenen Selbst nicht zu verdrängen oder zu vergessen.

Die Funktion apokalyptischen Denkens

Viele utopische Gedanken haben einen apokalyptischen Schatten. Die Vision einer Gesellschaft in Harmonie mit der Natur zum Beispiel taucht oft zugleich mit dem Schreckensszenario einer planetaren ökologischen Katastrophe auf. Der apokalyptische Schatten hat dann meistens die Funktion, Menschen zu motivieren, sich in die Richtung des utopischen Gedankens zu bewegen, obwohl sie dafür Mühe, Zeit, Kraft und Ressourcen brauchen und große Risiken eingehen müssen.

begrenzt utopisch Denken

Diesen Blog habe ich Utopolitan genannt, weil er (wenn auch ironisch verfremdet) eine Art Online-Magazin für utopisches Denken und Handeln werden sollte. Das ist er, vielleicht zum Glück, nicht ganz geworden.

Gerade habe ich für meinen Unterricht Teile von Hans Jonas „Das Prinzip Verantwortung“ gelesen. Besonders interessant ist nicht nur, dass er schon 1979 auf anderthalb Seiten alle wichtigen Analysen und Prognosen der Klimakrise knapp zusammenfasst, inklusive Kipppunkten, sondern auch eine Ethik aus der Verletzlichkeit lebendiger Wesen ableitet, wie es Judith Butler in „Die Macht der Gewaltlosigkeit“ tut.

Für mich und diesen Blog sind darüber hinaus seine Überlegungen zu Utopien besonders bedenkenswert. Er schreibt nämlich, dass er Utopien ablehnt und sie für schädlich hält. Er schaut sich die philosophischen Utopien der Marxisten, vor allem von Ernst Bloch und Marx selbst an, und weist überzeugend nach, dass wir sie nicht wirklich wollen können.

Besonders überzeugend ist sein Argument, dass utopisches Denken gegenwärtig lebende Menschen immer zu Mitteln degradiere, die den Zielen zukünftiger Menschen dienten. Er plädiert stattdessen dafür, sich der Arbeit und den Aufgaben zu stellen, die unser Leben von uns fordert, sobald wir wahrnehmen und akzeptieren, dass wir Menschen und unsere Gesellschaften immer unvollkommen, fehlerhaft und fehlbar sein werden.

Soweit ich ihn bisher verstehe, ist sein Argument gegen Utopien vor allem dieses: Ignorieren wir die prinzipielle und nie überwindbare Unvollkommenheit von Menschen und Gesellschaften und lassen Utopien unser Handeln bestimmen, dann tendieren wir dazu, ideologisch und totalitär zu handeln, weil wir andere Menschen und uns selbst in den Dienst einer perfekten Gesellschaft der Zukunft stellen, die wir auch gegen Widerstand von anderen schaffen müssen, koste es in der Gegenwart, was es wolle. Und zwar selbst dann, wenn wir nicht bestimmen können oder wollen, wie diese perfekte Gesellschaft beschaffen sein sollte, sondern das späteren Menschen überlassen wollen. Die Menschheit sei nämlich in solchem utopischen Denken noch nicht voll verwirklicht, nicht vollkommen sie selbst, sondern werde erst in der Zukunft verwirklicht, weshalb wir heute lebenden Menschen in diesem Denken sozusagen nur ein Zwischenstadium auf dem Weg dorthin sind, der Sinn und Zweck unserer Existenz liege im utopischen Denken deshalb darin, die volle Entfaltung der Menschheit in der Zukunft zu ermöglichen, nicht in unserer eigenen Existenz hier und heute.

Zuerst dachte ich, ich schließe diesen Blog oder benenne ihn um, denn das ist so überzeugend und unbestreitbar vernünftig, dass mir erstmal kein Gegenargument eingefallen ist.

Dann habe ich etwas darüber nachgedacht und mir ist aufgefallen, dass Jonas Ethik der Verantwortung eigentlich eine Struktur hat, die eine ähnliche Folge wie das utopische Denken hat. „Handle stets so, dass die Folgen Deines Handelns vereinbar sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ ist sein verantwortungsethischer Imperativ. Das bedeutet aber auch, dass meine Existenz heute immer auch dem Sinn und Ziel dient, menschliches Leben auf Dauer zu sichern. Er beschäftigt sich zwar mit dem Argument, dass es nicht wirklich eine zwingende moralische Argumentation gibt, die von uns heutigen Menschen abverlangen kann, dass wir auch neue Menschen auf die Welt bringen – vertraut aber einfach darauf, dass der Fortpflanzunsgtrieb sowieso dafür sorgen wird, dass es immer eine nächste Generation geben wird, um deren Existenz und menschenwürdiges Leben wir uns sorgen müssen, für die wir also Verantwortung übernehmen müssen.

Nehmen wir aber einmal an, Posthumanist*innen hätten die gesamte Weltbevölkerung der Zukunft mithilfe wissenschaftlicher Erkenntnisse davon überzeugt, dass das Leben auf der Erde unter der Menschheit mehr leidet, als dass die Menschheit dem Leben nützt, und alle Menschen hätten deshalb aus Achtung und Sorge um das Leben aller anderen Lebewesen beschlossen, so konsequent zu verhüten, dass keine neue Generation von Menschen mehr entsteht. Das wäre nach allen moralischen Maßstäben, die ich kenne, keine unmoralische Entscheidung, weil es in der Autonomie der Menschen liegt, diese Entscheidung treffen zu dürfen. Es kann für Menschen keine Pflicht geben, sich fortzupflanzen, sobald bewiesen ist, dass die Menschen allen anderen Lebwesen mehr schaden als nützen, wofür aktuell einiges spricht, ohne der Forschung da vorgreifen zu wollen. Robin Wall Kimmerer möge mir die Konstruktion dieses Gedankenexperiments verzeihen. (Sie glaubt, dass wir menschliche Kulturen erhalten und neu schaffen können, die uns Menschen zu einem heilenden Element der Biosphäre machen).

Das einzige moralische Argument, das ich sehe, warum die Menschheit unbedingt weiterleben muss, selbst wenn sie den anderen Lebewesen mehr schadet als nützt, ist, dass wir uns durch Kultur, Sprache und Technik von Naturzwängen freier gemacht haben, als alle anderen uns bekannten Lebewesen das können, und Freiheit ist ein so zentraler Wert, dass wir die Pflicht haben, ihn zu schützen, selbst wenn die Biosphäre darunter leidet.

Nun ist es so, dass wir nicht widerspruchsfrei argumentieren können, um der Freiheit willen hätten wir uns der Pflicht unterzuordnen, uns fortzupflanzen, weil das ja unsere Freiheit empfindlich einschränken und so zu einem Selbstwiderspruch führen würde.

In der fiktiven Situation des Gedankenexperiments wäre der verantwortungsethische Imperativ von Hans Jonas nicht mehr zwingend, weil die freiwillige und allgemeine Verhütung zwar die Permanenz menschlichen Lebens auf Erden unmöglich machen würde, trotzdem aber verantwortungsethisch gedacht nicht unmoralisch ist, sondern genau das Gegenteil: Eine verantwortliche gemeinsame Entscheidung.

Es wäre allerdings eine Reihe Folgeprobleme zu bewältigen, unter anderem, wie ein würdiges Altern und Sterben der Menschheit unter diesen Bedingungen möglich wäre, wenn wir das nicht durch Pflegeroboter mit eingebauter Halbwertszeit garantieren wollen. Außerdem müssen wir natürlich mit der Fallibilität unserer wissenschaftliche Erkenntnisse rechnen, wir können uns eben auch dann, wenn wir sehr kluge und informierte Posthumanist*innen sind, in so fundamentalen Fragen wie dem Effekt der Existenz der Menschheit auf die Biosphäre und das Leben allgemein gründlich täuschen.

Ein Schüler von mir aus der 10ten Klasse hat mir zum Beispiel ein ziemlich gewichtiges Argument mitgegeben, warum es evolutionär trotz aller Schäden für das Leben Sinn macht, dass die Biosphäre die Menschen hervorgebracht und sich so hat entwickeln lassen: Die Menschheit scheint eine ziemlich erfolgversprechende Methode zu sein, dafür zu sorgen, dass das Leben auch eine verheerende Katastrophe, etwa den Einschlag eines Kometen auf der Erde, überleben kann, indem es sich durch Raumfahrt auf andere Himmelskörper ausbreitet und so die Wahrscheinlichkeit erhöht, selbst nach einer Katastrophe, die den Planeten unbewohnbar macht, weiterzuexistieren.

Ich würde aus meinem Gedankenexperiment diesen Schluss ziehen: Wenn wir überhaupt verantwortungsethisch denken wollen, dann brauchen wir begrenzt utopisches Denken. Das kann zum Beispiel daraus entwickelt werden, was Robin Wall Kimmerer entwirft: Menschliche Kulturen der Zukunft, die sich auf indigene Traditionen stützen und das Leben schützen und fördern, und zugleich eine Zivilisation bilden, die den schädlichen Impact von Raumfahrt auf die Biosphäre verantworten kann, ohne mehr Schaden als Nutzen anzurichten oder das Leben auf dem Planeten gar unmöglich zu machen.

Tatsächlich ist das natürlich nur eine Variante utopischen Denkens angesichts der ökologischen Krise der Gegenwart, eine andere wäre zum Beispiel, zu akzeptieren, dass nach allem, was wir wissen, das Leben auch als Ganzes Grenzen in der Zeit hat und das vielleicht auch in Ordnung ist, wenn wir nicht mutwillig und spezies-egoistisch daraus ableiten zu können glauben, dass wir der Biosphäre alles antun dürfen, was wir können, sondern es im Gegenteil als unsere Aufgabe ansehen, das Leben, so lange es uns möglich ist, hier auf der Erde zu pflegen und zu schützen, bis wir mit ihm zusammen durch natürliche Ursachen enden.

Mein Plädoyer für begrenztes utopisches Denken ist inmitten einer ziemlich ausufernden utopischen Spekulation zum Stehen gekommen – weshalb ich es an dieser Stelle wiederholen und ihm Folge leisten möchte. Ich denke, Grenzen in der Zeit sind eine Variante begrenzten utopischen Denkens, begrenzt wäre also die letzte Utopievariante, nicht die Version mit der Raumfahrt und der Auswanderung des Lebens ins All. Hier schließe ich mich Hans Jonas an in der Haltung, die Akzeptanz von Endlichkeit, Begrenztheit und Unvollkommenheit dem Streben nach Unendlichkeit, Ewigkeit und Perfektion vorzuziehen. Denn auch die Unterordnung unter das Ziel, das Leben um jeden Preis zu erhalten, auch gegen Kometen, macht uns und auch alle anderen Lebewesen der Gegenwart zu bloßen Mitteln für die zukünftige Existenz von anderen Lebewesen – ethisch keine gut begründbare Position, weil sie sich bis ins Unendliche fortsetzen ließe, so dass es nie eine Gemeinschaft von Lebewesen gäbe, die zuerst (und vielleicht sogar nur) ihrer gemeinsamen gegenwärtigen Existenz zuliebe da wäre. Was wäre dann das Leben, sollte es irgendwann enden, was wahrscheinlicher ist als das Gegenteil, gewesen?

Die Klimakrise und das Ende des Kapitalismus: Eine Alternative zu Ulrike Herrmanns Vorschlag

Am Donnerstag war ich in Marburg beim Vortrag von Ulrike Herrmann über ihr Buch „Das Ende des Kapitalismus“. Ganz grob zusammengefasst hat sie da mit Witz und Verve die These vorgetragen und verteidigt, dass der Kapitalismus eigentlich ein besseres Leben für alle bringt, aber zum Funktionieren ständiges Wirtschaftswachstum braucht, was nicht unendlich weitergeht auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen. Deshalb sei es eine Illusion, zu glauben, es könne grünes Wirtschaftswachstum geben. Also käme der Kapitalismus bald an sein Ende. Wir hätten nur die Wahl, ob dieses Ende chaotisch oder geordnet ablaufe. Sie ist für ein geordnetes Ende und schlägt dazu vor, grünes Schrumpfen zu organisieren, indem wir als Gesellschaft planen und bestimmen, was und wieviel produziert und konsumiert werden darf. Es dürfe zum Beispiel pro Person nur 50 qm Wohnfläche in Deutschland zugeteilt werden. Wenn Frau Quandt, der ein großer Anteil von BMW gehört, eine zu große Villa habe, müsse sie dann eine WG gründen.

In der Diskussion gab es auch Kritik aus dem Publikum, eine junge Frau in der Reihe vor mir sagte, dass das Problem am Kapitalismus ja nicht nur sei, dass die Natur zerstört werde, sondern auch, dass er Ausbeutung erzeuge. Darauf antwortete die Autorin, dass Ausbeutung wie zum Beispiel Sklavenarbeit den Kapitalismus hemme, weil dieser nur zur vollen Dynamik käme, wenn die Arbeiter*innen genug verdienten, um Massenkonsum möglich zu machen. Nur durch hohe Löhne könnten nämlich viele Menschen große Massen von Produkten kaufen.

Mir ist wie so oft ein guter Beitrag zur Diskussion erst Tage später eingefallen. Hier ist er nun: Mein Einwand gegen ihre These über den Kapitalismus ist folgender: Der französische Sozialhistoriker Fernand Braudel hat in seinem Buch „Die Dynamik des Kapitalismus“ 1985 die These aufgestellt, das Marktwirtschaft und Kapitalismus nicht dasselbe sind, sondern Gegensätze. Er meint nämlich, dass der Kapitalismus eine Struktur ist, die den Markt außer Kraft setzt. Für Braudel ist der Kapitalismus ein System, in dem Macht- und Wissensvorsprünge zum Beispiel von großen Konzernen genutzt werden, um eigentlich gute Marktmechanismen wie die freie Preisbildung außer Kraft zu setzen. Ein Beispiel ist dieses: Wenn Textilkonzerne über die Preise von Rohstoffen (wie Baumwolle), Lohnkosten (wie den Löhnen von Näher*innen in Bangladesh) und von Vorprodukten (wie Baumwollstoffen) in den globalen Lieferketten gut informiert ist, diese Information aber ihren Zulieferbetrieben und Partnerunternehmen, ihren Konkurrenzunternehmen und den Konsument*innen vorenthalten können, können sie viel bessere Preise für sich durchsetzen, als wenn alle über die realen Preise und Kosten des Konzerns Bescheid wüssten. Deshalb nutzen nach Braudel große Konzerne systematisch das Informationsdefizit aller anderen, um sich zu bereichern. Durch das daraus gewonnene Kapital bekommen sie noch mehr Macht über den Markt und zerstören die Marktmechanismen oder setzen sie ganz oder teilweise außer Kraft, indem sie zum Beispiel berechnen, wie lange sie Dumpingpreise für ihre Produkte durchhalten können, bis sie Konkurrenzunternehmen aus dem Markt gedrängt haben.

Ulrike Herrmanns Vorschlag, durch Rationieren die Wirtschaft grün zu schrumpfen, löst dieses Problem glaube ich nicht. Zwar wäre dann die Preisbildung kontrolliert, weil die Gesellschaft die Preise vorgeben würde und die Konzern-Machtpolitik durch Informationskontrolle nicht mehr funktionieren würde. Aber das Problem würde dann vermutlich bloß verwandelt wieder auftreten, weil es Institutionen geben müsste, die die Preise und die Zuteilungen festlegen. Institutionen sind aber immer beeinflusst durch soziale Kräfteverhältnisse. Ganz nüchtern prognostiziert würden dann wieder große Gruppen und Organisationen Macht- und Wissensvorsprünge nutzen, um für sich die profitabelsten Preise und Rationierungen durchzusetzen, bloß nicht auf dem Markt, sondern in einer anderen Institution wie dem Staat oder in zivilgesellschaftlichen Steuerungsstrukturen. In einer Gemeinwohlökonomie wären solche Strukturen zum Beispiel Bürger*innenräte, die Firmen nach Gemeinwohlkriterien bepunkten.

Mein Lösungsvorschlag wäre, diese 3 Institutionen, Markt, Staat und Gemeinwohlräte sich gegenseitig kontrollieren zu lassen, um für Transparenz für alle zu sorgen. Das sollte nicht nur national, sondern auch auf internationaler Ebene geschehen. Das Lieferkettengesetz enthält zum Beispiel einen Versuch des deutschen Staates, die Konzerne zu Transparenz zu zwingen, um idealere Märkte entstehen zu lassen. Das wird aber ohne internationale Regeln für Lieferketten nicht gut funktionieren, weil deutsche Konzerne in globaler Konkurrenz stehen. Wir brauchen eine ähnliche Regel also auch auf EU- und internationaler Ebene.

Außerdem sollte meiner Meinung nach das Kartell- und Steuerrecht international so umgestaltet werden, dass Macht mit der Zeit immer mehr dezentriert wird, indem das Kapital in der globalen Gesellschaft gerechter verteilt wird. Die internationale Mindeststeuer für global agierende Konzerne geht da in die richtige Richtung.

Zugleich müssen wir Bürger*innen, Lohnabhängige und Konsument*innen statt auf den Staat zu hoffen unsere ökonomischen Verhältnisse selber ändern, soweit das in dem bestehenden System geht, und mit einer Graswurzelökonomie den Staat, den Markt und die Gemeinwohlräte in der Transformation flankieren.

Mit diesem Programm könnten wir eventuell geordnet in die von Herrmann anvisierte Kreislaufwirtschaft übergehen. So könnten wir gleichzeitig das politische Problem von Herrmanns Rationierungs-Vorschlag lösen: Jeder Versuch einer starken staatlichen Lenkung der Wirtschaft, der mit bestehenden Privilegien bricht, wird nämlich zu einem politischen Rebound-Effekt führen. An den Bauern-Protesten sehen wir jetzt schon, was passiert, wenn die Bundesregierung bloß versucht, bereits bestehende staatliche Lenkung und Steuerung der Wirtschaft (zum Beispiel die staatliche Bezuschussung von Diesel durch Subventionen an die Agrarwirtschaft) milde klimaschonend zu reformieren. Wenn der Staat gemäß Herrmanns Vorschlag zukünftig sogar versuchen sollte, Rationierungen durchzusetzen, wird das entweder erst funktionieren, wenn die Notsituation nicht mehr zu ignorieren ist, also in einem Kollaps der natürlichen Systeme, der überall für alle spürbar ist, was wir ja gerade vermeiden wollen, oder es wird zu massiven sozialen Widerständen und Kämpfen und in deren Folge zu politischen Krisen kommen, die einen Rückschlag in klimafeindliche Politik bei den nächsten Wahlen erzeugen. Wir verlieren so im demokratischen Prozess wertvolle Zeit, die wir nicht mehr haben, weil die Klimakrise so schnell abläuft.

Gemeinwohlräte, funktionierende transparente Märkte und Graswurzelökonomie können im Konzert mit dem Staat vielleicht diese Klippen umschiffen. Idealere Märkte würden den meisten Menschen wirtschaftliche Vorteile bringen und zugleich die für die Wirtschaftsaktivitäten nötigen Informations- und Wissensflüsse ermöglichen. Diese können Staaten meiner Ansicht nach mangels Kompetenz und Mitteln gar nicht gewährleisten. Gemeinwohlräte könnten den Informationsfluss zwischen Staat und Bürger*innen verbessern, und zwar in beide Richtungen, so dass politische Krisen vermieden werden könnten. Und Graswurzelökonomie kann vielleicht das, was Ulrike Herrmann so kategorisch in Frage stellt: Grünes Wirtschaftswachstum erzeugen.

Gleich gehe ich zur Bieterunde meiner Solidarischen Landwirtschaft (SoLaWi). Bevor das zum Nischenphänomen vorkapitalistischer Sozialromantik erklärt wird: Pflanzen setzen Sonnenenergie zwar nur mit einem maximalen Wirkungsgrad von 20% um und sind damit scheinbar ineffizienter als die neuesten Photovoltaik-Module. Aber ein Baum braucht neben den Nährstoffen in seinem Samen nur die von ihm selbst erzeugte Sonnenenergie, um zu wachsen, während ein Solarmodul erstmal etwa 10 Jahre laufen muss, um die Energie wieder zu erzeugen, die bei seiner Herstellung verbraucht wurde, und da reden wir noch nicht über den Schwerölmotor des Containerschiffs, das das Modul von China nach Deutschland schippert. Holz kann dagegen wunderbar mehrmals recycelt werden, am Ende eines langen Nutzungszyklus dann als Energiequelle dienen oder je nach Bedarf in Form von Bauholz als CO2-Speicher verwendet werden, oder – ganz verrückte Idee – wir lassen den Baum einfach leben, wodurch er ganz von selbst und ohne jede menschliche Arbeit CO2 aus der Athmosphäre zieht, im Holz speichert und noch dazu zum Nulltarif Sauerstoff für Tiere herstellt und die lokalen Wasserkreisläufe reguliert. Grünes Wirtschaftswachstum ist glaube ich machbar, wenn wir den Blick von der Fixierung auf das E-Auto mal abwenden, und ein breiteres Bild gewinnen, das zum Beispiel auch Digitaltechnologie zur Kommunikation und Wissensgenerierung, in der Regionalwirtschaft traditionell erprobte Stoffkreisläufe, innovative sozioökonomische Experimentierpraxis und auch Schnittmengen der Sozialromantiken vieler Kulturen enthält, denn die sind für die Genese eines neuen gesellschaftlichen Konsenses nicht zu unterschätzen. Wir könnten dazu zum Beispiel die Prinzipien der ehrenwerten Ernte, wie sie Robin Wall Kimmerer aus Nordamerika überliefert, mit der europäischen Tradition der Allmende und anderen Sozialromantiken kombinieren. Das ist glaube ich nötig, weil die Sozialaufklärung, hier verkörpert in der ökonomischen Ideologiekritik, die Herrmann an Adam Smith, Karl Marx und ihren Nachfolgern mit deren eigenen methodischen Mitteln der ökonomischen und wissenschaftlichen Analyse übt, an ihre historischen Grenzen gestoßen ist. Aufklärung hat uns das Wissen gebracht, die Klimakrise und ihre Ursachen zu erkennen, aber nicht die Motivation, sie zu überwinden. Motivation braucht neue Narrative. Ich habe deshalb hier mal versucht, die Wirtschaftsgeschichte als Resonanzverhältnis statt als Kontrollverhältnis weiterzuschreiben.

Postpatriarchale Trickkiste; Trick Nr. 1: Erkenne und eliminiere den patriarchalen Anteil

Mein Freund Reinhard hat mir den Begriff „projektiver Anteil“ beigebracht. Das ist der Anteil von meinen auf eine Person bezogenen Gedanken, Gefühlen und Handlungen, der aus Projektionen besteht, also zum Beispiel aus Erfahrungen, die ich mit ganz anderen Personen gemacht habe und die ich jetzt auf die Person in meiner Gegenwart übertrage.

Ich habe bemerkt, dass ich oft wütend auch auf nahe Menschen bin, und innerlich richtige Wuttiraden ausdenke, die ich den Personen sagen könnte. Aber ich habe Bell Hooks Buch über Männer, Männlichkeit und Liebe gelesen, und da schreibt sie darüber, was das Patriarchat mit Jungen macht, sie zum Beispiel dazu zu erziehen, dass Wut die einzige Emotion ist, die ein Mann zeigen darf, ja sogar soll, weil er dann als besonders männlich gilt.

Mein Trick besteht jetzt darin, mich zu fragen, was von meiner Wut auf nahe Personen eigentlich wirklich mit diesen Personen selbst zu tun hat und mit ihrem Verhalten mir gegenüber in der Gegenwart, und wieviel meiner Wut eigentlich aus im Patriarchat anerzogenen „männlichen“ Emotionsmustern besteht.

Es ist erstaunlich viel, und darunter ist oft eine ganz andere Emotion, zum Beispiel Traurigkeit, weil ich nicht geliebt werde oder wiel ich missachtet werde. Oft ist auch Schmerz darunter, weil mir jemand wehgetan hat. Ich versuche dann, in meinem Handeln nicht wütend, sondern gemäß meiner eigentlichen Emotionen wie Traurigkeit und Schmerz zu handeln, oft ist auch etwas Wut dabei, aber die ist viel gemäßgter, als ich zuerst dachte und spürte.

Das schöne an dem Trick ist, dass ich dann der Person gerecht werden kann. So kann ich adäquater auf sie reagieren. Und sehr erleichternd ist: Es ist für mich sogar schon innerlich viel weniger anstrengend, meinen Schmerz und meine Traurigkeit zu spüren, weil innere Wut total anstrengend ist, wenn sie eigentlich von irgendetwas patriarchalem in mir erzwungen werden muss, statt dass ich die Gefühle spüre, die wirklich meine sind.

Probiers mal aus.

Postpatriarchale Theoriebildung

Unsere Beziehungen sind durch die männliche Herrschaft massiv geschädigt, auch in meiner Generation, obwohl ich zu den Kindern der 2. Frauenbewegung gehöre, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts das Patriarchat glücklich sturmreif geschossen hatte. Das war die halbe Miete, und ich bin sehr dankbar dafür, aber stürmen müssen wir bis heute.

Ich glaube, dass wir in den feministischen Gemeinwesen von unseren Partner*innen insgeheim oft erwarten, dass sie die Verletzungen heilen, die uns in unseren patriarchal deformierten vorherigen Beziehungen, inklusive denen zu unseren Eltern, zugefügt wurden.

Das ist, glaube ich, eine in weiten Teilen unerfüllbare Erwartung, weil das Genesen vom Patriarchat nur ein gesamtgesellschaftlicher Heilungsprozess sein kann. In privaten Beziehungen ist das nur sehr begrenzt möglich, weil sie einen engen Rahmen haben, innerhalb dessen bloß relativ kleine Freiräume für gegenseitige Fürsorge und Akzeptanz möglich sind.

Die sturmreife, aber noch nicht gestürmte männliche Herrschaft erzeugt Chaos, nebeneinander stehende, miteinander konkurrierende soziale Ordnungen, die dann in unseren Beziehungen als Widersprüche im Fühlen, Denken und Handeln schmerzhaft wirken. Ich widerspreche mir selbst, und Du widersprichst Dir selbst, das ist eine komplexe und unberechenbare Situation, wir scheitern deshalb oft darin. Wir sind außerdem damit großteils alleingelassen, denn weder die Staaten, noch andere Institutionen unterstützen uns wirklich solide in dieser Aufgabe. Wir müssen uns selber helfen, aber das geht vermutlich nur in großen Gruppen und sozialen Bewegungen, weil nur die sich genug ermächtigen können, aber dabei zugleich eigene Dynamiken haben und die Komplexität oft nochmal steigern, was auch nicht gerade hilft.

Ein halbes Pfund Bildung, bitte!

Das Bildungssystem basiert zur einen Hälfte auf der Erkenntnis, dass nur unter hohem Druck Diamanten entstehen, und zur anderen Hälfte darauf, zu ignorieren, dass jedes in einem Diamanten feststeckende Atom dem Stoffkreislauf des Lebens verloren geht.

Warum Rechtspopulismus zum Desaster führt – eine evolutionssoziologische Hypothese

Ich lese gerade nach einem Impuls einer befreundeten Meeresbiologin das Lehrbuch „Essentials of Ecology“ von Townsend et al. Das ist für einen Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler wie mich außerordentlich lehrreich, weil es meine Konzepte von Wissenschaft in Bewegung bringt. Da bin ich natürlich gar nicht besonders originell, sondern in ehrwürdiger Tradition: Niklas Luhmann hat zum Beispiel wesentliche Elemente seiner soziologischen Theorien den Naturwissenschaften entlehnt, sein Konzept der Autopoeisis (Selbsthervorbringung) von Systemen stammt aus der Kognitionsbiologie von Maturana und Varela. Ein weiteres naturwissenschaftlich inspiriertes Element seiner Soziologie ist die Hypothese, dass Gesellschaften sich durch Evolution und nicht durch Revolution entwickeln.

Ich will aus diesen Annahmen eine Erklärung herleiten, warum Rechtspopulismus eine zwar verstehbare, aber zugleich falsche und destruktive Reaktion auf die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte ist.

Zuerst will ich erklären, wieso Luhmann seine Hypothese der Evolution von Gesellschaften entwickelt hat. Nach Luhmann ist einer der wichtigsten evolutionären Schritte der Entwicklung von Gesellschaften der letzten 300 Jahre die Entwicklung von stratifikatorischen (absolutistischen) Gesellschaften zu funktional differenzierten Gesellschaften. Am Beispiel des Verhältnisses von Wirtschaft und Politik erklärt bedeutete dieser Evolutionsschritt: Vorher war die Wirtschaft und die Politik eines Landes auf das Zentrum des Königshauses hin organisiert. Im absoluten Herrscherhaus liefen sowohl die Fäden der Macht, als auch des Geldes zusammen und von diesem Zentrum aus wurden die ökonomischen und politischen Entscheidungen für die Gesellschaft organisiert. Im Absolutismus war also der König die Sonne und deren Strahlen organisierten die umliegende Gesellschaft politisch und wirtschaftlich (um mal ein bekanntes herrschaftsverbrämendes Bild zu zitieren).

Im Gegensatz zu anderen Gesellschaftswissenschaftlern sieht Luhmann es nicht so, dass 1789 durch die Revolution in Frankreich diese Gesellschaftsform willentlich und bewusst vom französischen Volk abgeschafft wurde, um eine neue, die bürgerliche Demokratie, an ihre Stelle zu setzen, sondern die Gesellschaft hat sich eigenlogisch so entwickelt, dass aus einem Zentralsystem einzelne, voneinander abgegrenzte Teilsysteme entstanden sind, die jeweils einzelne Funktionen für die Gesamtgesellschaft erfüllen. Das nennt Luhmann „funktionale Differenzierung“. Die Politik als Teilsystem der Gesellschaft habe nach diesem Entwicklungsschritt die Funktion übernommen, für die Gesellschaft kollektiv bindende Entscheidungen zu generieren. Die Wirtschaft als Teilsystem habe die Funktion übernommen, die Gesellschaft mit knappen Gütern zu versorgen, zum Beispiel mit Nahrungsmitteln (im Gegensatz zu relativ frei verfügbaren Gütern wie Luft, wofür die Gesellschaft erstmal kein System braucht). Die neue Gesellschaft hatte dann anstelle eines einzigen Systems parallel die demokratischen Institutionen und davon unabhängig den Markt und die Ökonomie.

Diese Funktionssysteme schließen sich nach Luhmann gegeneinander ab, indem sie ein jeweils eigenes Kommunikationsmedium für ihre Kommunikationen verwenden und einen jeweils eigenen Code. Das politische System kommuniziere im generalisierten Kommunikationsmedium Macht und im binären Code „Regierung-Opposition“. Alles, was keinen Einfluss auf die Machtverhältnisse habe (also dafür, wer regiert und wer opponiert), sei für das politische System nicht beobachtbar und kommunizierbar. Das Wirtschaftssystem dagegen kommuniziere im Medium Geld und mit dem Code „Zahlung-Nichtzahlung“. Es könne daher nur beobachten und kommunizieren, was in diesem Code beschreibbar sei. Um das an einem fiktiven Beispiel zu erklären: Wenn die Regierung der BRD beschlösse, dass ab jetzt im Straßenverkehr bei roten Ampeln gefahren würde und bei grünen Ampeln stehenzubleiben sei, dann wäre das für die Wirtschaft egal, weil es keinen im Medium Geld kommunizierbaren Unterschied machen würde. Die Ampeln könnten alle bleiben wie sie sind, der Staat müsste keine neuen installieren, es würde nichts kosten und auch keinen Gewinn bringen, deshalb würde das Wirtschaftssystem darauf gar nicht reagieren.

Die Bürger*innen würden allerdings furchtbar wütend werden, weil sie sich mühsam umgewöhnen müssten, und würden die Regierung wahrscheinlich abwählen, weil die Aktion nur Mühe und Gefahren und keinen Sinn machen würde. Also wäre das im Medium Macht relevante Information.

So funktioniert nach Luhmann funktionale Differenzierung. Ein weiteres gesellschaftliches Teilsystem neben Wirtschaft und Politik ist zum Beispiel Wissenschaft. Auch sie hat einen eigenen Code (wahr/falsch).

Jetzt habe ich mir die Frage gestellt, warum sich diese Gesellschaft von mehreren Funktionssystemen evolutionär gegen die stratifikatorische Gesellschaft mit einem Zentrum durchgesetzt hat. Wenn ich den Gedanken der Evolution ernst nehme, dann müssen die funktional differenzierten Gesellschaften ja Selektionsvorteile gegenüber zentralisierten Gesellschaften haben, sonst würden sie sich in der Evolution nicht durchsetzen.

Vielleicht hilft bei der Beantwortung dieser Frage wieder die Evolutionsbiologie. In dem Essentials Buch wird der Begriff „community“ für das verwendet, was ich früher noch als „Ökosystem“ gelernt habe: Als „community“ bezeichnen Evolutionsbiolog*innen eine Art Lebensgemeinschaft von Organismen verschiedener Spezies, die in einem bestimmten Raum zusammenleben und miteinander in Interaktion (Konkurrenz, Ergänzung oder gegenseitige Unterstützung) stehen. In diesem Sinne sind zum Beispiel alle Organismen, die in den Alpen leben, eine community. (Ich werde im Folgenden „community“ mit „Gemeinwesen“ übersetzen).

Jetzt kann ich mir die Frage stellen, welchen Evolutionsvorteil Gemeinwesen mit funktionaler Differenzierung gegenüber Gemeinwesen haben, die auf ein einziges Zentrum ausgerichtet sind, also in der Metapher eine zentrale Spezies, sagen wir: Die alpine Fichte. Offensichtlich ist ein Gemeinwesen, das auf eine einzige Spezies ausgerichtet ist, genauso stabil, wie es diese Spezies ist. Wenn sich Umweltbedingungen so ändern, dass diese Spezies nicht mehr gut überleben kann, ist das ganze Gemeinwesen in Gefahr, unterzugehen, sagen wir: Durch die Klimaerwärmung. Gibt es aber andere Spezies, ist das Gemeinwesen also differenziert und diversifiziert, im Bild: Gibt es Douglasien, Kiefern und Lärchen zusätzlich zur Fichte, können die anderen Spezies Ausfälle der Systemleistungen, die die Fichte erbracht hatte, kompensieren. Die Lärche würde sich nach meinem biologischen Laienwissen wahrscheinlich nicht durchsetzen, aber Douglasien und Kiefern könnten sich auf Standorte geschädigter Fichte-Populationen ausbreiten. Das Gemeinwesen ist dann stabiler gegenüber Stress durch sich verändernde Umweltbedingungen und kann sich besser an sie anpassen, als ein Gemeinwesen, in dem es nur die Fichte gibt. Dadurch setzen sich in der Evolution tendenziell funktional differenzierte, diversifizierte Gemeinwesen gegenüber solchen durch, die arm an Spezies und zentralisiert sind. Der entsprechende Lehrsatz der biologischen Ökologie ist: Je diversifizierter ein System ist, je mehr unterschiedliche Spezies es also enthält, desto anpassungsfähiger und deshalb stabiler ist es als ganzes.

Nun komme ich zum Kern meiner Hypothese: Um die Frage zu beantworten, ob die AfD und andere rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien in Europa und den USA die richtigen Antworten auf die Krisen der Gegenwart vorschlagen, können wir diese evolutionssoziologische Analyse verwenden.

Die wichtigste Veränderung der Umweltbedingungen für die Gemeinwesen ist aus meiner Sicht seit Jahrzehnten die Globalisierung. Was passiert ist, lässt sich mit Luhmanns Konzepten so beschreiben, dass sich die wirtschaftlichen Funktionssysteme einzelner Staaten zunehmend international miteinander verzahnt haben, also aus nationalen Subsystemen ein großes internationales Wirtschaftssystem geworden ist. In einer Art Koevolution ziehen die politischen Subsysteme nach, was sichtbar wird in der Suprastaatlichkeit der EU und in den G8 und G20 Gipfeln. Es zeigt sich hier meiner Hypothese nach, dass die Funktionssysteme wie Spezies in einer community sich nicht nur funktional ergänzen, sondern zugleich auch in Konkurrenzverhältnissen zueinander stehen und einander verdrängen können. Die internationale Verzahnung der Wirtschaftssysteme stellt einen Selektionsvorteil der Wirtschaftssysteme gegenüber den weniger international verzahnten politischen Systemen dar. Die Wirtschaftssysteme transformierten sich metaphorisch gesprochen von Subsystemen der nationalen Gemeinwesen zu Umweltbedingungen für diese nationalen Gemeinwesen. Das ist ziemlich ähnlich dem, was die Spezies Mensch spätestens in den letzten 500 Jahren im Bezug auf die ökologischen Spezies-Communities gemacht hat: Unsere Spezies und unsere Gesellschaft haben sich selbst von einem Teil der ökologischen Gemeinschaften zu einem Umweltfaktor für alle ökologischen Gemeinschaften global gemacht, Die Gesellschaft der Menschen gestaltet zu einem maßgeblichen Teil heute die Umwelt für die anderen Spezies und die communities, in denen sie leben. Ein Schlüssel für diesen evolutionären Erfolg der Spezies Mensch ist genau die Globalisierung und die Verzahnung der Wirtschaftssysteme miteinander. (Karl Marx schreibt schon 1848 im kommunistischen Manifest sinngemäß: „Der Kapitalismus hat die Weltwirtschaft faktisch verwirklicht.“).

Ich denke, dass wir an einer Art Kipppunkt der sozialen Evolution der Weltgesellschaft sind. Es könnte sein, dass sich die Weltwirtschaft als Zentrum einer auf einer neuen Ebene wieder stratifikatorisch organisierten Weltgesellschaft durchsetzt und die anderen Funktionssysteme auf sich ausrichtet. Es würde sich also als nächster Evolutionsschritt eine neue stratifikatorische, zentralisierte Ordnung entwickeln zwischen den nach wie vor differenzierten Funktionssystemen. Ganz im Sinne von Luhmanns deskriptivem soziologischen Ansatz kann ich das erstmal nüchtern als mögliche nächste Phase in einer historischen Entwicklung beschreiben. Möglicherweise ist die Tendenz dazu eine Folge der Krisen von Konkurrenz und Kriegen zwischen den Nationen und dem Scheitern von Imperien, die in einem anderen globalen Gesellschaftssystem evolutionär münden. Das würde dann aber gleichzeitig bedeuten, dass die Organisationen gemeinsamer Selbstbestimmung (also die Demokratien, die politische Systeme brauchen) durch das Wirtschaftssystem entmachtet oder sogar verdrängt werden könnten.

David Salomon hat mir erzählt, dass August Bebel gesagt hat: „Der Antisemitismus ist der Antikapitalismus der dummen Kerls.“ (Ich glaube nicht, dass er so etwas vergleichsweise Väterliches auch noch gesagt hätte, wenn er Zeuge der Shoa geworden wäre.)

Parallel dazu können wir heute sagen: „Der Rechtspopulismus ist die Globalisierungskritik der dummen Kerls.“ Die Rechtspopulisten verhalten sich so, als glaubten sie, dass wir eine neue stratifikatorische Weltordnung, in der die Weltwirtschaft das Zentrum der Funktionssysteme bildet, mit wiederhergestellter nationaler Souveränität der politischen Systeme kombinieren könnten. Bezogen auf die AfD erschließt sich daraus, warum deren Parteiprogramm fordert, Sozialleistungen zu kürzen und die Oberschicht steuerlich zu entlasten, zugleich die Grenzen zu schließen und aus der EU auszutreten. Die Utopie des AfD Programms ist eine souveränere Nation Deutschland, die Reichtum durch Kapitalismus generiert, ohne auf Menschen und Nationen außerhalb der Staatsgrenzen Rücksicht zu nehmen. Um in der globalen Konkurrenz unter der Hegemonie des Wirtschaftssystems erfolgreich sein zu können, müssen deshalb logischerweise die Arbeitskosten im Land minimiert werden (also niedrige Löhne und Sozialabgaben), das Kapital konzentriert werden (also niedrige Steuern) und zugleich die internationalen Verpflichtungen des politischen Systems reduziert werden (also Rückzug aus der EU und internationalen Abkommen).

In sich widersprüchlich ist diese Utopie deshalb, weil nationale Souveränität zwar pro forma gefordert, aber schon von vornherein ausgeschlossen ist: Souverän im eigentlichen Sinne des Wortes wäre in dieser Utopie keine Nation mehr, weil das Weltwirtschaftssystem die Umweltbedingungen setzen würde und es deshalb kaum noch Selbstbestimmung und Entscheidungsgewalt einzelner demokratischer Gemeinwesen mehr gäbe. Die Logik der ökonomischen Konkurrenz würde in einer solchen Zukunft die kollektiv bindenden Entscheidungen in jedem Nationalstaat bestimmen.

Das ist soweit klassische Globalisierungskritik, wie sie seit Jahrzehnten von attac und anderen Organisationen geübt wird. Sie argumentiert normativ, indem sie sich auf die Werte der französischen Revolution beruft: Freiheit, Gleichheit und Solidarität seien nur möglich, wenn demokratische Selbstbestimmung gegen die Logik der Ökonomie bestehen könne.

Was aber ergibt sich, wenn ich diese normative Setzung einklammere, und mit Hans Kelsen werterelativistisch davon ausgehe, dass der Wert der wirtschaftlichen Sicherheit genausogut als zentraler Wert an die Stelle von Freiheit gesetzt werden kann? (Vgl. Hans Kelsen: „Was ist Gerechtigkeit?“ Stuttart: Reclam.)

Evolutionssoziologisch problematisch ist vor allem eine wahrscheinliche Folge der oben skizzierten rechtspopulistischen Utopie: Die relative Instabilität des neuen globalen Gesellschaftssystems durch dessen stratifikatorische Ausrichtung auf die Wirtschaft als zentrale „Spezies“ des „ökologischen Gemeinwesens“. Denn diese würde die Fähigkeit der Weltgesellschaft verringern, sich an veränderte Umweltbedingungen anzupassen, weil alternative Funktionssysteme (wie die Politik, aber z.B. auch die Wissenschaft) geschwächt und in Peripherie und Dependenz verdrängt würden. Damit würden die Potentiale dieser Systeme verringert, bei starken Veränderungen der Umweltbedingungen Anpassungsprobleme der Weltwirtschaft auszugleichen.

Dialektischerweise erzeugt zusätzlich aktuell die Weltwirtschaft aber gleichzeitig, befeuert durch die zentralisierte Position der Ökonomie, genau solche schnellen und radikalen Veränderungen der Umweltbedingungen: Die Klimaerwärmung, das Artensterben und die großflächige Umgestaltung von Habitaten auf dem Land und in den Meeren sind Beispiele dafür. Die Utopie der Rechtspopulisten läuft also darauf hinaus, das Gesellschaftssystem unflexibler und weniger anpassungsfähig zu machen und zeitgleich seine Umweltbedingungen radikal und schnell zu verändern. Das ist offensichtlich eine Garantie für Desaster.

Also komme ich auch dann, wenn ich die Werte der französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Solidarität“ als normative Kriterien aus der Beurteilung ausklammere und stattdessen wirtschaftliche Sicherheit als zentralen Wert annehme, mit den Mitteln einer evolutionssoziologischen Beschreibung der Situation zu dem Ergebnis, dass das Programm des Rechtspopulismus, sollte es hegemonial werden, die Krisen der Gegenwart desaströs verschlimmern würde, statt sie zu lösen.

Mein Streik gegen die Revolution

Warum exportiert die spanische Wirtschaft Wasser in Form von Obst und Gemüse, wenn Wasser dort immer knapper wird? Nach der klassischen ökonomischen Theorie der komparativen Kostenvorteile von David Ricardo dürfte das unter Freihandelsbedingungen gar nicht passieren. Produziert werden müsste in Spanien nach dieser Theorie das, was dort am kostengünstigsten herstellbar ist – und Knappheit bedeutet normalerweise Kostensteigerungen.

Gleichzeitig fallen in Deutschland überall Massen von Äpfeln und Birnen von Obstbäumen und verfaulen auf dem Boden – während in deutschen Supermärkten ebenso massenweise Äpfel und Birnen gekauft werden, die aus Neuseeland quer über den Globus transportiert wurden. Was läuft falsch in den ökonomischen Systemen, so dass sie sich solche Ressourcenverschwendung leisten?

Ich könnte jetzt sehr leicht auf den Kapitalismus und seinen Wahnsinn schimpfen, aber ich bin dessen müde, weil eh die meisten Menschen nicht mehr zuhören, wenn wir Linken das tun. Deshalb versuche ich eine andere Erklärung des Problems.

Ich verwende dafür eine Kernidee der Systemtheorie des konservativen Soziologen Niklas Luhmanns. Danach ist das Wirtschaftssystem ein Funktionssystem der Gesellschaft, das autopoeitisch und selbstreferentiell ist. Das bedeutet, dass es sich von seiner Umwelt abgrenzt und sich nach außen schließt, indem es zur Kommunikation einen Code verwendet, der allen Informationsfluss von außen unterbricht, der für die Funktionsweise des Systems egal ist. Dieser Code unterscheidet nur Zahlung und Nichtzahlung. Alles, was nicht in diesem Code im Medium Geld kommuniziert werden kann, ist für das Wirtschaftssystem irrelevant und hat erstmal keine Effekte auf seine Prozesse.

Im konkreten Beispiel bedeutet das, dass es für die Firmen in Spanien nicht beobachtbar ist, ob die Wasserressourcen übernutzt werden, solange Wasser nicht wesentlich teurer wird. In Deutschland passiert dasselbe: Die Verbraucher*innen in der deutschen Ökonomie können in ihrer Rolle als Konsument*innen die Sinnlosigkeit davon nicht wahrnehmen, dass die Äpfel von den deutschen Bäumen vergammeln, solange es teurer ist, Arbeitszeit zum Äpfelsammeln zu verwenden, als aus Neuseeland herangeschiffte Äpfel im Supermarkt zu kaufen.

Das Wirtschaftssystem ist also so selbstbezogen und nach außen geschlossen, dass es zu seiner Umwelt, den Ökosystemen der Welt, keine direkten Kommunikationsbeziehungen mehr haben kann. Nach Luhmann muss es sich aber an die Umwelt anpassen, um sich zu erhalten. Dazu verwendet es strukturelle Kopplungen. Das bedeutet, irgendwie muss es, wenn die Informationen über Wasserknappheit schon nicht in den Preisen rechtzeitig und deutlich genug ausgedrückt werden, so dass es seine Strukturen dementsprechend verändern kann, trotzdem die Umweltinformationen verarbeiten.

Ich glaube, dass wissenschaftliche Organisationen wie der IPCC gerade genau das versuchen: Sie versuchen, das Wirtschaftssystem strukturell mit den Ökosystemen zu koppeln, indem sie die Ökonomie sensibel für die Knappheiten macht, die gerade entstehen, ohne dass sich das schnell genug in Kostensteigerungen und Preisen zum Beispiel für Wasser bemerkbar macht. Zu langsam ist dies, weil die globale Ökonomie der Menschen einen historisch einmaligen Grad an Macht über die Ökosysteme aufgebaut hat, gleichzeitig aber eine solche Trägheit in ihren Grundstrukturen, zum Beispiel der fossilen Energieinfrastruktur, dass sie Zerstörungen der Ökosysteme nicht rechtzeitig aufhält, bevor sie zu irreversiblen Knappheiten von Wasser und anderen Gütern führen.

Wenn die Wissenschaft planetare Belastungsgrenzen berechnet (die zum Beispiel bei der Umnutzung von Land und der Biodiversität schon weit überschritten sind), dann versucht es, Informationen in das geschlossene Wirtschaftssystem einzuschleusen, damit es sich an die Umwelt anpassen kann, so dass Wasser als grundlegende Ressource auch weiter zur Verfügung steht und das System sich nicht selbst zerstört. Das nennt Luhmann dann strukturelle Kopplung.

Auch das politische System versucht, in das Wirtschaftssystem solche Kopplungen einzubauen, zum Beispiel durch den Handel mit Emissionszertifikaten. Der Ausstoß von CO2 ist nämlich erstmal für die Wirtschaft gar nicht beobachtbar gewesen, weil er nichts gekostet hat: Die Atomsphäre konnte jahrhundertelang als Senke für die Abgase der Wirtschaft fast kostenlos genutzt werden, sie war eine Allmende – ein Gemeingut. Jetzt versucht die Politik, die Wirtschaft ausreichend darüber zu informieren, dass diese Allmende schon lange übernutzt ist. Sie versucht durch die Zertifikate die Schäden, die die Übernutzung verursacht, in den Code Zahlung-Nichtzahlung zu übersetzen, so dass das Wirtschaftssystem sie auch beobachten und darauf reagieren kann.

Organisationen, die von innen aus dem ökonomischen System selbst heraus ähnliche Kopplungen aufbauen, sind die großen Rückversicherungskonzerne wie die Münchener Rück, die schon seit Jahren warnen, weil die mit der Klimakrise verbunden ökonomischen Risiken etwa durch Dürren, Überschwemmungen und Stürme zu unberechenbar werden, um sich dagegen noch solide und zu einem akzeptablen Preis versichern zu können.

Leider gibt es daneben andere strukturelle Kopplungen des Wirtschaftssystems, die diese Versuche der Krisenbewältigung torpedieren, indem sie in genau die entgegengesetzte Richtung zielen: Das Wirtschaftssystem ist nach Luhmanns Theorie nicht nur umgeben von der Umwelt der planetaren Ökosysteme, sondern wir Menschen sind für das ökonomische System auch Umwelt. Luhmann interpretiert uns Menschen als „psychische Systeme“, und als solche sind wir Umwelt für das Wirtschaftssystem.

Das Wirtschaftssystem arbeitet nun schon lange und sehr erfolgreich daran, uns als psychische Systeme strukturell mit ihm zu koppeln, zum Beispiel mithilfe von Werbung, Arbeit und Mythen. Ein aktueller Mythos ist der Mythos von der Elektromoblität. Der Mythos sagt: Wir können mit Hilfe von E-Autos weiter so unbegrenzt mobil sein wie bisher, ohne unsere Lebensgrundlagen zu zerstören. Wir können unsere Lebensgewohnheiten einfach beibehalten, ohne die Krise der Knappheit zu verschärfen. Ein Mythos ist das deshalb, weil diese Erzählung wichtige Aspekte der Wirklichkeit ausblendet: Klimaerhitzung durch Treibhausgase stößt nur an eine der vielen planetaren Belastungsgrenzen. Elektromoblität bedeutet weitere Umnutzung von Land durch Lithiumabbau, Energieverbrauch und Emissionen durch Produktion neuer Autos und E-Bikes und weitere Straßen und Versiegelung von Boden und Erzeugung von giftigem Müll. Das sind alles Gründe für das Artensterben, eine Krise, die genauso bedrohlich für unser Überleben als Zivilisation ist, wie die Erderhitzung.

Soviel zum Mythos der Elektromobilität, der auch Menschen frisch mit dem Wirtschaftssystem koppelt, die schon Zweifel bekommen hatten, ob das alles so gut läuft. Was aber ist gefährlich an der Art, wie wir Arbeit definieren, und wie koppelt sie uns mit dem ökonomischen System? In Deutschland ist Arbeit, eingeengt verstanden als Erwerbsarbeit, mit der im Gegensatz zur häuslichen Sorge-Arbeit Geld verdient wird, ein so integraler Bestandteil des Selbstbildes, der sozialen Wertschätzung und der Selbstdefinition von Personen, dass die meisten Menschen durch ihre Arbeit fest an das Wirtschaftssystem gekoppelt sind.

Als ich beim letzten Klimastreik auf der Raddemo über die Marburger Stadtautobahn fuhr, brüllte uns jemand aus einem vorbeirasenden Auto von der Gegenfahrbahn aus zu: „Geht arbeiten!“. Das war in meinem Fall einigermaßen absurd, weil ich an dem Freitag aus einer vollen Arbeitswoche kam und an meinem ersten freien Nachmittag versucht habe, das Wirtschaftssystem mit der natürlichen Umwelt strukturell zu koppeln. Vor mir fuhr ein weißhaariger Mann auf der Raddemo und sagte dazu: Ich habe Jahrzehnte gearbeitet, ich habe meinen Teil getan.

Die Szene ist leider ein guter Indikator dafür, dass bei dem brüllenden Autofahrer die Kopplung seines psychischen Systems mit dem Wirtschaftssystem so fest ist, dass er Forderungen nach Veränderungen des Wirtschaftssystems, in diesem Fall der Mobilität, als Forderungen nach Veränderung seiner eigenen Psyche erlebt: Eine Kritik an der Autoökonomie erscheint ihm deshalb als Angriff auf seine eigene Integrität als Person. Das Auto, das er fährt, ist so gesehen viel mehr als ein Gegenstand, den er als Instrument seiner Mobilität verwendet: Es ist eine weitere Kopplung (neben seiner Erwerbsarbeit), die sein Körper und seine Psyche mit dem Wirtschaftssystem eingegangen sind. Erwerbsarbeit und Autobesitz sind außerdem zwei Kopplungen, die ineinander verschränkt sind: Viele brauchen ihr Auto, um zur Arbeit zu kommen, und brauchen umgekehrt das Erwerbseinkommen, um sich ein Auto leisten zu können.

Wieso finde ich diese Struktur absurd? Das sind doch erstmal Notwendigkeiten der Lebensrealität. Ich finde sie absurd, weil wir Menschen alle auch Lebewesen und durch unsere Körper Teil der Ökosysteme dieser Welt sind. Wir sind zum Beispiel durch Atmung und Ernährung mit allen anderen Lebewesen auf dem Planeten strukturell gekoppelt. Die strukturellen Kopplungen mit dem Wirtschaftssystem, die sich durch Mythen, Erwerbsarbeit und Autobesitz bilden, scheinen bei vielen Menschen aber so stark zu sein, dass sie nicht mehr wahrnehmen, dass Atmen, Trinken und Essen für ihre psychische und körperliche Integrität und diejenige ihrer Kinder und Enkel wichtiger sind als ihr Auto und der Benzinpreis. Die CDU plakatiert hier in Marburg: „Autofahren verbieten verboten“ gegen die sehr gute rot-grün-grüne Verkehrsreform Move 35. Die Marburger CDU ist damit nicht mehr konservativ, sondern eine revolutionäre Partei, weil sie mit Macht daran arbeitet, die Verbindung der Menschen mit der Biosphäre, die uns hervorgebracht hat und am Leben erhält, durch Kopplungen der Menschen mit einem Wirtschaftssystem zu ersetzen, das alle planetaren Grenzen zu sprengen und alle Verhältnisse, in denen die Menschen noch atmende, fühlende und in ihre Welt eingebettete Wesen sind, umzustoßen droht.

Das bedeutet: Um die Dürre in Spanien und die Verschwendung von gutem Essen in Deutschland zu stoppen, müssen wir nicht nur das Wirtschaftssystem mit der natürlichen Umwelt durch Klimaberichte und Emissionszertifikate strukturell koppeln, sondern wir müssen auch unsere psychischen Systeme vom Wirtschaftssystem aktiv entkoppeln. Ich versuche das, indem ich in Teilzeit arbeite, so auf Einkommen verzichte und Zeit gewinne, um auf Raddemos für die Verkehrswende zu fahren und mit meinem M-Bike (ich fahre eines dieser altmodischen Räder ohne Elektromotor) in meinen Radtaschen Äpfel und Birnen hier im Marburger Umland zu sammeln und dann zu verschenken. Entkopplung ist machbar, Herr Nachbar!

Nachhaltipp: Vegane Milch leicht und schnell selbst machen

Du willst nicht immer Verpackungsmüll für Deine vegane Milch in Kauf nehmen? Du suchst eine praktische und schnelle Methode, vegane Milch für Deine heißen Getränken selbst zu machen?

Du kannst in einem Milchaufschäumer Wasser und Nuss- oder Mandelmus zu einer veganen Milch aufschäumen lassen. Ich nehme für einen veganen Cappuccino einen gestrichenen Esslöffel Bio-Haselnussmus. Das geht schnell, spart Energie und Du musst keine Tetrapacks oder Flaschen mehr kaufen. Das Nussmus ist konzentriert und ein großes Glas reicht für mehrere Liter Nussmilch. Du hast dann einen leckeren Nougat-Cappuccino. Haselnussmus hat allerdings etwas gröbere Bestandteile, die nicht ganz zermahlen sind, an die Konsistenz musst Du Dich vielleicht erstmal gewöhnen.

Mandelmus dagegen ist so fein gemahlen, dass Du eine homogene Mandelmilch daraus schäumen kannst. Besonders lecker: Matcha Pulver mit Wasser und einem Esslöffel Mandelmus zu einem Matcha aufschäumen. Die 60-70 Grad des Aufschäumers sind genau perfekt für diesen sehr gesunden Tee. Das ganze dauert eine Minute. Praktisch ist, einen Teelöfel unter den Esslöffel Mus zu halten, um das Mus ohne Tropfen in den Aufschäumer zu bugsieren.

Auch super: Milchaufschäumer mit Hafermilch und Bio-Kakaopulver und Zucker befüllen, in einer Minute ist deine schaumige heiße Schokolade fertig. Deliziös!

Spüle Deinen Aufschäumer nach dem Gebrauch mit heißem Wasser aus, lasse ihn regelmäßig mit Wasser laufen, um ihn zu spülen und reinige ihn regelmäßig. Dann hast Du länger was davon, weil sich keine Ablagerungen bilden, und Dein Matcha schmeckt nicht nach Kakao (und umgekehrt).

Meinen Milchaufschäumer habe ich auf dem Sperrmüll gefunden. Durch die Stromersparnis, weil er viel weniger braucht als eine Herdplatte, und die gesparten Produktionskosten hat die Methode dann eine super Ökobilanz. Gebraucht kaufen ist auch ok.