„GMX rät: Achten Sie auf Ihre Identität!“

Wer bin ich? Und noch viel wichtiger: Wie bin ich hierhergekommen? Das könnten die Gedanken sein, die einem „Selbstfindling“ kommen, wie ihn Peter Sloterdijk in seinem Buch „Weltfremdheit“ skizziert: Plötzlich wird er seiner selbst gewahr auf freiem Feld, keine Ahnung bezüglich seines Woher beschleicht ihn.

Meistens ist es ja anders: Ich lerne jemanden kennen und erzähle, wie ich als Kind spät schwimmen gelernt habe und wer meine besten Freunde waren, als ich 15 war und wann ich mit wem und warum meine erste Kippe geraucht habe. Wie ich vernünftig wurde und das Rauchen aufgab. Und wie ich heute oft noch mit der Lust kämpfe, wieder eine zu rauchen. Man könnte sagen: Ich bin mit Identität überversorgt. Gerade im Zeitalter der therapeutischen Kultur, wie sie Eva Illouz in „Die Errettung der modernen Seele“ soziologisch analysiert, verfüge ich über ein reiches Repertoire an Geschichten über mich, meine Beziehungen und die Traumata meiner Kindheit, die mich dazu bringen, nachts Schokolade zu essen und danach nicht Zähne zu putzen.

Also: „Wer bin ich?“ Klauben wir ein paar Worte zusammen. Was heißt überhaupt das „bin“ in dem Satz? Wir können mit dem Wort „ist“ drei ganz verschiedene Beziehungen ausdrücken: Wir sagen, dass etwas existiert, „ich bin“, dass etwas bestimmte Eigenschaften hat („ich bin grün“ zum Beispiel, wenn man zu viele Caiprinhas getrunken hat) und dass etwas mit etwas anderem identisch ist wie in „Karl Marx ist der Verfasser des Kapitals gewesen“. Die Frage „Wer bin ich“ setzt die Existenz eines Fragenden voraus, jedenfalls, wenn man nicht das Subjekt als ein herumspukendes Etwas in den variierenden Kontexten wabernder Diskurse denkt, wie einige der schlechteren Postmodernisten. Ich kann jetzt auf die Frage also zweierlei Antwort geben: Ich bin der, der blöderweise mit 15 das Rauchen angefangen hat. In dieser Antwort identifiziere ich mich als derselbe, der ich vor 21 Jahren war, und ich prädiziere mir bestimmte Eigenschaften (x hat mit 15 geraucht).

Es scheint nun so zu sein, dass jemand nur genug Eigenschaften von mir kennen muss, um mich zweifelsfrei als Arne Erdmann identifizieren zu können, und weil ich ein vernünftiges Wesen bin, kann dieser jemand auch ich sein, wenn ich über mich nachdenke. Ausschließen muss ich dann lediglich, dass irgendwo auf der Welt jemand herumspringt, der genau dasselbe Bündel von Eigenschaften hat. Und wenn ich denke: „Ich sitze hier und schreibe über mich“ dann ist es quasi ausgeschlossen, dass jemand anderes an derselben Stelle sitzt und über sich schreibt.

Allerdings ist da noch Foucault. Nein, Foucault sitzt nicht auf meinem Platz und schreibt über sich diesen Text. Aber er war der Auffassung, dass ich, also der ehemalige Raucher Arne Erdmann, um hier über mich schreiben zu können, schon Zugeständnisse hinsichtlich dessen gemacht haben muss, was ich mir zu schreiben erlaube und was nicht. Ich könnte also nicht schreiben, dass ich im Alter von 12 *** und im Alter von 20 ***, weil ich hier sonst gar nicht schreiben könnte. Das bedeutet: Wer ich bin, entzieht sich diesem Text perfiderweise grundsätzlich, weil ich nur bestimmte Eigenschaften erzählen kann.

Das Problem an diesem Problem ist: Der deutsche Staat stellt sich diese philosophische Identitätsfrage gar nicht, und wenn ich schriebe, dass ich neulich in Marburg auf einer Demonstration *** hätte, dann könnte mich eine Behörde ganz schnell über mein Impressum, meinen Wohnsitz und meinen Namen, Geburtsort und mein Geburtsdatum identifizieren und ließe sich auch ganz schlecht davon überzeugen, dass das mit der Identität philosophisch gesehen gar nicht so einfach ist.

Ist das Philosophieren über Identität also müßig? Und warum rät dann GMX „Achten Sie auf Ihre Identität“? Und ist das ungefähr so gemeint wie „Achten Sie auf ihr Handgepäck“? Wie fühlt es sich an, wenn der Staat die Datei mit meinen Identitätsmerkmalen verliert? Und kann ich dann hier schreiben, dass ich neulich ***, ohne dass ich etwas verschweigen muss, und trotzdem ein Subjekt bleiben, das schreibt? Wie fühlte es sich an, wenn ich schriebe wie Denis Diderot, trotzdem aber im Impressum „Arne Erdmann“ stünde?

„Web.de rät: Achten Sie auf die Identität der anderen!“ Wie schnell haben wir eine andere Identität beklaut und rauchen Zigaretten wie Helmut Schmidt, sind frisiert wie Sid Vicious oder knutschen wie Moritz Bleibtreu. Manchmal klauen wir sogar Eigenschaften, die ihre Besitzer mühsam vor der Polizei versteckt haben, wie zum Beispiel ich hier die staatskritische Haltung von Diderot.

„L’etat, c’est moi!“, das hat Louis XIV gesagt, und wenn er gewusst hättte, dass Foucault zufolge wir alle mit Recht diesen Satz sagen könnten, hätte er sich die Haare gerauft, wenn nicht diese Perücke im Weg gewesen wäre. „Der Staat, das sind die anderen.“ (Arne I). Ich erlaube mir, mich bei Bedarf später zu zitieren, warne mich aber vor der damit nötig werdenden Fußnote.

Der Menschenpark lädt nicht zum Spazierengehen ein

Leider wird mir vieles, was mir früher völlig klar erschien, mit den Jahren immer undeutlicher: Mir war zum Beispiel früher klar, dass Peter Sloterdijk auf dem Holzweg war, als er 1999 seine Rede zum „Menschenpark“ hielt, in der er biotechnologische Manipulationen wie die gezielte Veränderung menschlicher Gene hoffähig zu machen versuchte.

Ich war also voll auf Habermas Seite, der Sloterdijk öffentlich massiv kritisierte. Und Sloterdijk hat sich ja auch eine besonders üble Kombination ausgesucht, indem er ausgerechnet den Nazi Heidegger als philosophischen Kronzeugen für eine Verteidigung der Züchtung des Menschen durch Gentechnik heranzog.

Nun ist Sloterdijk ein agent provocateur der Spontibewegung in der deutschen Gegenwartsphilosophie, und ist seiner Rolle da besonders gut gerecht geworden.

Anlässlich einer Debatte in der Programmgruppe von Blockupy bin ich dieses Jahr in Emails ziemlich ausgeflippt, als jemand Sloterdijk zu einer Podiumsdiskussion einladen wollte, weil ich dessen philosophische Position zur Eugenik katastrophal fand. Ich habe deshalb aber nochmal über mein persönliches Hauptargument gegen einen „Menschenpark“ nachgedacht. Ich habe immer gedacht, es muss antiemanzipativ sein, wenn man menschliches Erbgut gezielt verändert oder selektiert, weil der Züchtende zwangsläufig immer jemand anderes ist als der Gezüchtete, und letzterer deshalb den Entscheidungen des Züchtenden vollkommen ausgeliefert ist.

Jetzt wurde mir klar, dass dieses Argument auf Sand gebaut ist: Wir sind schließlich, wenn wir Genmanipulationen am Menschen aus ethischen Gründen verbieten, einfach auch die Opfer einer sich blind vollziehenden Naturkausalität: Welche Gene sich wie kombinieren, ist Sache einer Zufallslotterie, in der manchmal auch Erbkrankheiten wie Mukoviszidose weitergegeben werden. Wir stehen also einmal mehr vor einer Entscheidung, in der es keine gute, emanzipatorische Alternative gibt: Entweder zukünftige Kinder sind dem Willen von genmanipulierenden Menschen oder dem Zufall eines natürlichen Rekombinationsprozesses ausgeliefert.

Ich habe jedenfalls weder Vertrauen in die Natur, noch glaube ich an Gott, so dass der genetische Vererbungsprozess mir als eine besonders ungerechte Lotterie vorkommt, deren Lose wir alle ziehen und mit deren Ergebnis wir dann leben müssen. So gesehen müsste ich eigentlich auf Sloterdijks Seite stehen und die minimale Selbstbestimmung des Menschen über seine eigenen Nachkommen, die die Gentechnik eröffnet, gutheißen.

Allerdings: Sollten sich in den nächsten Jahrzehnten Selektion und Manipulation von Erbgut durch den Menschen gesellschaftlich durchsetzen, wird ein Haufen anderer Probleme auf uns zukommen: Die Struktur der Familie wird sich rapide verändern, weil Kinder Eltern die genetischen Dispositionen, mit denen sie versorgt wurden, zum Vorwurf machen werden. Es wird gezüchtete Eliten geben von Menschen, die sich die Dienste einer aufwändigen und teuren Reproduktionsmedizin leisten können, und demgegenüber viele Menschen, die von der Nutzung dieser Technik ausgeschlossen sind. Es wird auch viele technische Fehler geben, durch die Menschen gezwungen sind, mit genetischen Codierungen zu leben, die unerwünschte Nebenwirkungen haben.

Der Futurologe Stanislaw Lem hat in seinen Sterntagebüchern den Sternreisenden Ijon Tichy einen Planeten besuchen lassen, auf dem die Bewohner gelernt hatten, ihr Erbgut nach Gutdünken zu verändern. Die Geschichte dieser Spezies beschreibt Lem als die absurde und skurile Folge völlig blödsinniger Trends: So gibt es Personen mit acht Beinen und „Doppler“ mit zwei Hinterleiben und ohne Kopf. Alle Manipulationen verursachen in der Geschichte letztlich mehr Probleme als sie lösen.

Ich glaube mit Lem und Habermas also immer noch, dass Menschenzüchtung Quatsch ist. Und wie schön ist das denn: Offensichtlich produziere ich für meine Meinungen, die sich einmal festgesetzt haben, immer neue Argumente, die sie stützen, sobald der Vernunftprozess die alten Argumente widerlegt hat.

Was heißt: „Den Kapitalismus abschaffen“?

Der Kapitalismus ist nicht eigentlich eine Wirtschaftsweise, sondern eine Gesellschaftsformation. Dieses ist er, insofern er eine Textur ist, die Entscheidungsrechte (also die Möglichkeit von Subjekten, sich in einem politischen Raum zu verorten) systematisch mit Profiten und Eigentum an Kapital (sowohl konstantem als auch Geldkapital) verknüpft.

Das Gewebe, das dadurch entsteht, ist zweidimensional, weil die eine Dimension durch den Staat, Staatsapparate und Rechte von Individuen gebildet und die andere Dimension durch die Ökonomie des Kapitalismus und das Markthandeln in kapitalistischen Strukturen gebildet wird. Das Verwobensein beider Dimensionen kann man sich anhand von Eigentumsrechten klarmachen. Eigentumsrechte sind Teil der politischen Struktur, insofern der Staat sie schützt durch Gesetze und Polizei, und daraus die Legitimität des Erhebens von Steuern herleitet, um den Staatsapparat zu finanzieren.

Problematisch ist das Gewebe oder die Textur des Kapitalismus, weil es unseren Alltag fast komplett durchzieht: Es bildet eine topographische Ordnung, die unser Handeln leitet, meist ohne dass wir dies wahrnehmen. Beispiele sind: Der Eintritt bei Kulturveranstaltungen, das Verbot von Tauschhandel für Ladenbesitzer, die Hygienevorschriften für Restaurants, die Verknüpfung von Aufenthaltsrechten mit Eigentumstiteln und sozio-ökonomischem Status, die Dresscodes in Firmen etc.

Aber der Kapitalismus kann nie den ganzen mehrdimensionalen Raum einnehmen, der Gesellschaft ist, solange es Handlungen, Personen und Institutionen gibt, die sich in diesem mehrdimensionalen Raum befinden. Der Kapitalismus kann nur immer mehr Dimensionen einebnen, so dass er sie in sein Gewebe integriert, oder ihnen zumindest ihre Struktur in zwei von drei oder mehreren Dimensionen vorgeben.

Ein Beispiel ist die Familie. Die Familie hat als soziale Gruppe unter anderem die Dimensionen der Entscheidungsrechte (die in diesem Fall zwischen Eltern und minderjährigen Kindern asymmetrisch verteilt sind) und die Dimension der Ökonomie (Erbe, Taschengeld, Haushaltsgeld, Eheverträge), aber auch die Ebenen der Liebe, der Anerkennung, der Interessen (die sich nicht in ökonomischen und politischen erschöpfen, sondern auch ästhetische, thematische und andere Wünsche umfassen), Solidarität, Kultur, Leiblichkeit, natürliche Instinkte etc.

Der Kapitalismus ist eine Gesellschaftsformation, insofern er es vermag, alle diese Dimensionen durch seine zweidimensionale Gewebestruktur zu durchdringen, ihnen ihre Verhältnisse zueinander vorzustrukturieren oder in Konflikt- und Entscheidungssituationen die ausschlaggebende Ordnung darzustellen.

Den Kapitalismus abschaffen heißt erst einmal nicht viel mehr, als ihm diese Organisations-, Normalisierungs- und Normalitätsfunktionen zu entziehen. Kapitalismus abschaffen heißt daher vor allem eine ganze Reihe von Alltagshandlungen zu vollziehen, die die Mehrdimensionalität des sozialen und politischen Lebens erhält, zurückerobert oder neu schafft.

Green Mans Burden – Nachhaltigkeit als Ideologie Teil 1

Wie sollen wir unsere Wirtschaftsweise erneuern angesichts des Klimawandels einerseits und boomender Konkurrenznationen wie China, Indien und Brasilien andererseits? Darauf kann man grundsätzlich auf einer Skala zwischen zwei Polen antworten: 1. Postwachstum: Wir beenden die ökonomische Expansion, schrumpfen uns gesund, üben Konsumverzicht und reaktivieren nachhaltige Wirtschaftsformen (Handarbeit, Gartenbau). 2. Wir setzen auf grünen Kapitalismus und grüne Spitzentechnologie (Photovoltaik, Elektroautos, Brennstoffzellen) und vereinbaren damit ökonomisches Wachstum und Umweltschutz.
Dominant in der deutschen Öffentlichkeit ist eindeutig letztere Auffassung. Felix Stefan argumentiert in diesem Sinne in seinem Kommentar zum Buch „Intelligent wachsen“ von Ralf Fücks (Böll-Stiftung), ein Postwachstumsland Deutschland wäre ein Tropfen auf dem heißen Stein, den die expansiven Ökonomien Chinas und anderer Boomstaaten darstellen. Ergo müsse Deutschlands Ökonomie weiter wachsen, nur eben im Bereich umweltfreundlicher Technologien.? Postwachstumstheoretiker_innen argumentieren dagegen, dass selbst scheinbar umweltfreundliche Produkte wie Solarzellen und Hybridautos in der Bilanz mehr ökologischen Schaden als Umweltschutz bewirken. Für sie ist ökonomisches Wachstum zwangsläufig mit Umweltzerstörung verbunden.
Es wäre sicher schön, wenn die deutsche und die chinesische Industrie in einen Wettkampf darum eintreten, eine Solarzelle zu produzieren, für deren Herstellung wesentlich weniger Energie benötigt wird als bisher. Und sicher ist die romantische Version der Postwachstumsgesellschaft, in der ich mich mit meinen handgezogenen Möhren auf den zweistündigen Fußmarsch zum nächsten Dorfmarkt mache, nicht gerade eine befreiende Vorstellung.
Allerdings habe ich vor einiger Zeit einen Bericht über ein Projekt in Indien gesehen, in dem Kleinbauern über das Internet, bevor sie ihre Produkte zum Markt bringen, feststellen können, ob jemand ihr Produkt braucht. Das ist gar nicht mal so unpraktisch, wenn man zwei Stunden mit dem Fahrrad zum Markt fährt. Ein weiteres Beispiel aus Bolivien: Ein Parabolspiegel-Herd, auf dem man mit Sonnenlicht kochen kann.

http://independence.wirsol.de/wp-content/gallery/bolivien-foto-story-la-paz/dsc00422_solar_cooker-detail.jpg

Oder das hier: Eine Kleinanlage, mit der in China Biogas aus Dung für Gaskocher, Boiler und Gaslampe verwertet wird.

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Quelle: https://agrarheute.landlive.de/boards/thread/16347/page/1/

Wenn man jetzt noch den Internetrechner in Indien mit Solarzellenstrom betreibt, hat man ein schönes Beispiel, das zeigt, dass der Gegensatz „Postwachstum“-„Grüne Spitzentechnologie“ ein Pseudogegensatz ist. Niemand will in die Ökonomie der Vergangenheit zurück, selbst die konsequentesten Technik-Asketen wollen deshalb nicht das Rechtsverhältnis der Feudalherrschaft zurück.

Es ist aber schon interessant, dass die Vertreter der Hybridauto-Nachhaltigkeit gegen Postwachstumspläne so massiv Front machen: Anscheinend haben sie irgendwie Angst. Vor allem haben sie scheinbar Angst, dass Indien und China Deutschland wirtschaftlich hinter sich lassen und dabei noch massiv die Atmosphäre verpesten, wenn Deutschland nicht mit gutem Beispiel vorangeht und zeigt, wie man ökonomisch Gewinn macht und trotzdem den Planeten nicht zerstört. Das sind ja gleich zwei Gedanken auf einmal: Ein missionarischer („Wir müssen der Welt den überlebenswichtigen Umweltschutz beibringen“) und ein egoistischer („wir wollen die Reichsten von allen bleiben“). Das erinnert mich fatal an irgendetwas, was war es gleich, ah ja: Das Programm des Imperialismus. Rudyard Kipling, der Verfasser des Dschungelbuchs, hat den Begriff des „White Mans Burden“ verbreitet: Demnach sei es die schwere Last des „weißen Mannes“, mit dem Imperialismus die bessere „weiße“ Kultur (das hieß insbesondere die christliche Religion) über den Erdball verbreiten zu müssen, auch wenn er dafür leider unheimlich viele Afrikaner_innen ermorden muss. Dass es für den anglo-amerikanischen Imperialismus treibende Profitinteressen wie den Bedarf an Rohstoffen und Absatzmärkten für die boomende heimische Industrie gab, hat Kipling nicht so interessiert.
Ich frage mich, ob nicht Chinesen und Inder und Brasilianer auch selbst irgendwie darauf kommen, dass es wirtschaftlich und auch allgemein Sinn macht, die Umwelt nicht zu zerstören, ohne dass ein deutscher Ingenieur ihnen das vormachen muss. In meinen Augen ist dieses Anbeten der deutschen Umwelttechnologie einfach nur Ideologie: Hier sollen mal wieder Kapitalinteressen als Allgemeininteressen getarnt werden. Also mir schmeckt mein Vollkornbrot sicher noch genauso gut, wenn Deutschland auf den 50. Platz der Exportnationen abgerutscht ist. Ich denke, die Inder und Chinesen werden sich, wenn sie ihre Armutsprobleme gelöst haben, verstärkt an den Schutz der Umwelt machen. Sicher gibt es auch in China und Indien massive Kapitalinteressen, die zu Umweltzerstörung führen, und das kann und muss man genauso kritisieren wie Chinas Verletzung von Grundrechten und die dort herrschende Unterdrückung. Aber diese Kritik in Form eines Wirtschaftswettkampfes zu üben ist falsch: Woher sollen denn die Arbeiter_innen in einem chinesischen Autowerk wissen, dass es manchmal einen Zusammenhang zwischen Spitzentechnologie, funktionierender Demokratie und Sozialstaat gibt? Der importierte BMW wird es ihnen schwerlich verraten, vor allem dann nicht, wenn er von einem Parteifunktionär gefahren wird, der gleichzeitig auch noch Besitzer der Autofabrik ist, in der die Arbeiter_innen für kleinen Lohn schuften müssen.
Hoffentlich können die aufholenden Nationen erneute Katastrophen wie DDT, Tschernobyl und Bhopal sowie den Wahn, dass Autobahnen Freiheit bedeuten, vermeiden, aber dazu reicht es vielleicht, wenn wir unsere Erfahrungen weitererzählen, und wir müssen dafür jetzt nicht unbedingt eine bessere Solarzelle bauen. ?Letztendlich haben die Vertreter der grünen Technologie auch nur Angst, dass Volkswagen irgendwann nicht mehr so viele Autos verkauft und die Gewinne schrumpfen und Leute entlassen werden, die dann NPD wählen. Und das ist ja auch eine reale Gefahr, weshalb VW jetzt schleunigst das weltbeste Solarauto entwickeln sollte. ?Aber es wäre doch sehr entspannend, wenn wir uns hier in Deutschland klarmachen, dass es dann eben für die nächsten zwanzig Jahre bei dem Solarauto bleibt, das wir 2020 gekauft haben, und dass wir uns nicht den Arsch abarbeiten müssen, um 2022 ein noch sparsameres kaufen zu können. Das setzt natürlich voraus, dass die Firmen Solarautos bauen, die auch zwanzig Jahre halten, was wieder nicht so richtig kapitalkonform ist, weil man dann eben nur einmal in zwanzig Jahren Profit mit dem Solarauto machen kann, und nicht 10 mal.

Das führt mich jetzt zu folgender Überlegung: Es gab in der Anfangszeit der Grünen mal eine grüne Kapitalismuskritik. Knapp zusammengefasst war die Argumentation in den 80ern ungefähr folgende: Der Kapitalismus zerstöre aufgrund seiner Struktur die Umwelt, weil immer größere Profite nur durch steigende Ausbeutung natürlicher Ressourcen und zunehmende Emissionen erzielt werden könnten. Das zielgerichtet eingebaute Verfallsdatum in vielen Produkten ist dafür der beste Beleg.
Ich fahre jetzt demnächst das erste Mal mit einem Elektro-Auto, das mein Carsharing-Anbieter, ein Tochterunternehmen der Deutschen Bahn, angeschafft hat. Vielleicht schreibe ich danach weniger kritisch über grünen Kapitalismus und grüne Spitzentechnologie. Der Wagen ist übrigens ein Renault Zoe und komischerweise kein VW – also entweder ist die deutsche Industrie gar nicht so weltweit spitzen-öko, wie die Leute immer sagen, oder die Leute bei der Deutschen Bahn sind einfach keine Patrioten, sondern kapitalistische Kosmopoliten und haben unverschämterweise trotz deutscher Alternativen bei den Franzosen gekauft – oder beides. Par Bleu.

Deutschland als Führungsmacht – na dann gute Nacht!

Deutschland als Führungsmacht – na dann gute Nacht

Gustav Seibt suhlt sich heute in der SZ in der Teutonistan-Anbiederei von Angelo Bolaffi – Deutschland soll jetzt der erfolgreiche Kompromiss aus allen europäischen Extremen sein. Die Briten seien zu laissez-faire und die Franzosen zu „abstrakt“ (was immer damit gemeint sein soll), die Italiener zu korrupt und vermachtet und überhaupt biete sich ja nur der „konsensuale“ rheinische Kapitalismus als Modell für einen europäischen Sozialstaat an, verlässlich, ja, aber bitte nicht zu teuer.
Also mich hat über den hochgelobten „rheinischen Kapitalismus“ niemand befragt, sonst hätte ich denen schön was erzählt, ein System der Ausbeutung bekommt meine Stimme nicht, aber das gute Stück aus der rhetorischen Trickkiste von Adenauers CDU ist halt auch nie abgestimmt worden. Dass wir Deutschen keinen Generalstreik machen dürfen, ist so ein schönes Element dieses ach so konsensualen, sozialen und freiheitlichen deutschen Kapitalismusmodells, die Franzosen machen von ihrem Recht auf Generalstreik alle Naslang Gebrauch, wenn ihnen die Politik ihrer Regierung nicht passt, zuletzt 2009 gegen Sarkozys Sparpolitik. Aber weil wir ja so frei sind in Deutschland, sind wir halt bloß etwas überrascht, wenn Schröder seine Agenda 2010 durchboxt, und können ja auch bis zur nächsten Wahl dann mangels Generalstreikmöglichkeit nicht wirklich unsere Regierung zur Raison bringen.
Ich weiß nicht, welche Bücher Gustav Seibt so in seinem stillen Kämmerlein liest, aber wenn ich den Begriff Führungsmacht höre, dann muss ich kotzen, und wenn es schon aus mir unerfindlichen Gründen in Europa eine geben muss, dann bitte, bitte eine, in der die Bürger ihrer Regierung jederzeit zur Vernunft bringen können, wie in Frankreich, und nicht die BRD, die sich in ihrer vielgepriesenen Liberalität nicht zu schade ist, oppositionelle Parlamentarier auf einer gerichtlich genehmigten Demonstration in Frankfurt am Main in einem Polizeikessel ihrer Freiheit zu berauben und auch bei Vorzeigen des Parlamentarierausweises nicht aus dem Kessel zu lassen.

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass wir Europäer überhaupt keine Führungsmacht brauchen, weil wir in Europa Institutionen wie das europäische Parlament und den europäischen Gerichtshof haben, die schon Entscheidungen für Europa fällen. Die sollen gestärkt werden. Jede Nation dagegen, die sich als „Führungsmacht“ in Stellung bringt, verletzt den europäischen Gedanken und gehört ganz ordentlich zurechtgestutzt. Ich habe langsam den Eindruck, die Deutschen werden wegen ihrer aus allen Nähten platzenden Bankkonten gerade größenwahnsinnig und vergessen ihre gute Kinderstube. Ich habe eine Nachricht für uns: Nur weil einer mehr bezahlt als andere, darf er in einer Demokratie noch lange nicht für alle entscheiden.